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Er ist der oberste Gesundheitsdirektor der Schweiz: Thomas Heiniger (60) sagt im Interview, was in der Medizin falsch läuft, und spricht darüber, warum er nicht privat versichert ist. Nach Jahren der Blockade soll sich im Gesundheitswesen nun etwas bewegen.
Wir treffen Regierungsrat Thomas Heiniger am Tag nach dem Sechseläuten in der Gesundheitsdirektion Zürich. Dass der Zünfter nur wenig geschlafen hat, sieht man ihm nicht an. Er antwortet schlagfertig und gibt sich angriffig. Der Langstreckenläufer trinkt Cola Zero, erklärt, wieso er eine Zuckersteuer ablehnt und trotzdem gesundes Verhalten fördern will.
Thomas Heiniger: Ja. Über 10'000 Personen rufen pro Monat an – zu Beginn etwas weniger als im Endausbau erwartet. Die Anrufenden werden schnell bedient: zu 75 Prozent innerhalb von einer Minute und 90 Prozent innerhalb von drei Minuten. Wie weit das bereits Hausärzte und Spitalnotfälle entlastet, können wir noch nicht sagen.
Selbstverständlich.
Nur als Test. Ich habe einen Hausarzt als Vertrauensperson, an den ich mich wenden kann. Die Triage am Telefon ist aber wichtig: Dem Patienten, der nichts Dringendes hat, wird empfohlen, bis zum Morgen zu warten. Andere werden gezielt an Apotheker, einen Arzt oder dem Rettungsdienst zugewiesen.
Es ist ein einfacher Zugang für Personen, die keine direkte medizinische Ansprechperson wie einen Hausarzt haben. So können wir den Notfall von jenen entlasten, die ihn gar nicht brauchen.
Heute verfügen wir nur über punktuelle Informationen. Interessant ist aber zu wissen, wie sich ein Verhalten, eine Krankheit oder die Versorgungsleistung über eine gewisse Dauer entwickeln und auswirken. Das dient uns als Grundlage, um das System und die Versorgungsstruktur den Bedürfnissen der Bevölkerung anzupassen.
Kaum ein Jahr seit 2003 hat Thomas Heiniger den Zürich Marathon und den Zürcher Silvesterlauf ausgelassen. «Natürlich hat das Laufen, hat der Sport mit Ehrgeiz zu tun», sagte Heiniger vor drei Jahren gegenüber der Limmattaler Zeitung. «Erfolge fallen nicht vom Himmel.»
Es brauche Durchhaltevermögen, einen gewissen Biss, um etwas zu erreichen. Rechtsanwalt Heiniger kam über die Schulpflege und den Stadtrat Adliswil in die Politik. Seit bald zwölf Jahren engagiert sich der Freisinnige als Gesundheitsdirektor für die medizinische Versorgung in Zürich, sie gilt als innovativ. In den letzten Monaten wurden Rücktritts-Gerüchte laut. Heiniger wollte sich dazu nicht äussern.
Die Studie soll nicht bevormunden, sondern beobachten. Daraus wollen wir Massnahmen ableiten, um in Kenntnis des Verhaltens der Patienten die Struktur der Versorgung zu verbessern, besonders bei chronischen Krankheiten.
Eine Zuckersteuer ist ein negativer Anreiz: Das Schlechte wird besteuert. Besser wäre, der Einzelne würde informiert und überzeugt richtig handeln. Idee und Ziel der Prävention ist deshalb, zu informieren und zu motivieren.
Nein, jeder darf seine Laster haben. Die Rechtfertigung, positives Verhalten aufzuzeigen und gar zu fördern, liegt in den solidarisch getragenen Kosten, die Personen verursachen, die einem Laster frönen. Der Einzelne soll sich fair gegenüber der Gesellschaft verhalten, denn die Folgen seines Verhaltens trägt er nicht allein.
Da hat sie den Knebel sehr hoch geworfen. Die meisten Personen könnten diese Selbstverantwortung nicht wahrnehmen, weil sie schlicht nicht in der Lage sind, 10'000 Franken für Gesundheitsleistungen auszugeben. Möglicherweise würden so die Kosten auf die Sozialwerke abgeschoben. Das macht wenig Sinn. Wir müssen für das gesamte System denken, sonst fliessen die Steuern von der Gesundheit einfach in die Sozialwerke.
Nein. Wir haben das untersucht. Das System wird entlastet, denn stationär kostet eine Behandlung gemäss Liste im Durchschnitt 2,3-mal mehr als ambulant. Das senkt also die Kosten für alle. Es schont den Patienten, der nach dem Eingriff wieder nach Hause kann. Und es schont die Finanzen der Prämien- und der Steuerzahler.
Weil die ökonomischen Anreize falsch gesetzt sind und nicht so schnell geändert werden können. Deshalb ist diese regulatorische Intervention, die rasch wirkt, nötig.
Nein. Der Kanton spart zwar mehr, aber auch die Versicherer werden entlastet. Stationäre Behandlungen sind so viel teurer, dass auch sie besser fahren. Ein Beispiel: Eine Kniearthroskopie kostet stationär rund 5250 Franken. Nach Gesetz zahlt der Kanton heute davon 55 Prozent (rund 2890 Franken) und der Versicherer 45 Prozent (rund 2360 Franken). Wird der Patient ambulant behandelt, kostet das 2350 Franken. Der Versicherer fährt also immer noch besser, auch wenn er hier die ganze Rechnung begleichen muss.
Bei einzelnen Behandlungen kann das möglich sein, aber über alles gesehen, stimmt das nicht. Die Prämien dürften deswegen nicht steigen.
Am Freitag hat sich die Gesundheitskommission des Nationalrats für die Einführung einer einheitlichen Finanzierung entschieden. Damit will sie erstens die Verlagerung von stationär zu ambulant fördern, wo dies medizinisch sinnvoll ist. Da ambulante Eingriffe in der Regel günstiger sind, wird das Kostenwachstum gebremst.
Zweitens will sie Kosten für Prämien- und Steuerzahler stabilisieren. Drittens wird eine sachgerechte Tarifierung gefördert. Die Opposition dagegen ist breit: Nebst den Kantonen wehrt sich die SP, die den Versicherern nicht so viel Macht in die Hand geben will.
Das stimmt so nicht. Die Aufwendungen der öffentlichen Hand für die Gesundheit steigen. 1996 finanzierten die Kantone 15,4 Prozent der Ausgaben. 2015 waren es 20,5 Prozent.
Ja. Die Kantone haben über die Spitallisten und den Preisdruck auf die Fallpauschalen etwas gegen das Kostenwachstum unternommen. Grundsätzlich haben wir aber eher ein Mengen- als ein Preisproblem: Es werden zu viele Leistungen erbracht, die nicht nötig sind. Es werden vor allem zu viele Leistungen auf eine teure Art erbracht, die unnötig ist.
Ein gutes Beispiel ist der Kreuzbandriss. In der Mehrzahl der Fälle wäre eine konservative Behandlung sinnvoll, oft wird trotzdem operiert.
Ja. Der Patient weiss heute oft zu wenig, um bewusst zu entscheiden. Wann gehe ich zum Arzt? Kann ich einen Entscheid des Arztes nachvollziehen? Braucht es eine Zweitmeinung? Das Wissensgefälle zwischen Arzt und Patient ist gross. Ähnlich wie beim Garagisten, der dem Autobesitzer sagt, die Bremsklötze seien abgefahren und müssten erneuert werden: Man vertraut dem Garagisten und macht, was er sagt. Nur bezahlt man dort die Rechnung selber.
Die Frage ist: Welchen Nutzen bringt ein solcher Gesamtumbau? Eine einheitliche Finanzierung führt nicht unmittelbar zu tieferen Kosten, sondern nur zu einer Verschiebung der Geldflüsse. Und für den Arzt oder das Spital ist es egal, wer die Rechnung bezahlt. Wenn wir Kosten senken wollen, müssen wir bei den Leistungen ansetzen, und bei den Leistungserbringern. Sie sind diejenigen, die entscheiden.
Der Arzt bewegt sich im Tarifsystem: Je nachdem, ob er einen Eingriff stationär oder ambulant macht, erhält er unterschiedlich viel Geld. Die Tarifierung muss überarbeitet werden.
Die Frage stellt sich. Im ambulanten Bereich ist die Behandlung für Grund- und Zusatzversicherte gleich teuer. Im stationären Bereich lockt das Geschäft mit zusatzversicherten Patienten.
Nehmen wir das Beispiel der Meniskusoperation, die ambulant etwa 2400 Franken, stationär rund 3700 Franken, stationär mit Zusatzversicherung aber bis 13 200 Franken kostet – obwohl die Aufwendungen nicht so unterschiedlich hoch sind. Das führt dazu, dass ein Arzt viel besser entschädigt wird, wenn er einen zusatzversicherten Patienten behandelt.
Ich bin zusatzversichert. Aber ich habe meine Versicherung reduziert: Ich bin im Prinzip grundversichert und kann, wenn ein medizinischer Eingriff ansteht, mehr bezahlen und den Versicherungsstatus hochfahren.
Eine gewagte Kurzformel. Aber: Wir haben untersucht und herausgefunden, dass der Anteil an Zusatzversicherten im Notfall bei 24 Prozent liegt, bei planbaren Operationen bei 38 Prozent und bei planbaren Kurzaufenthalten bei 44 Prozent liegt. Daraus schliesse ich, dass man eher im Spital übernachten «muss», wenn man zusatzversichert ist.
Im Kanton Zürich sind vor rund 20 Jahren bereits mehrere Kleinstspitäler geschlossen worden. Zürcher Spitäler, die heute auf der Liste sind, haben alle eine Grösse, die grundsätzlich einen effizienten Betrieb ermöglicht. In vielen anderen Kantonen hat diese Bereinigung noch nicht so stattgefunden.
Ja, ein ausgezeichnetes Mittel, denn wir können Gelegenheitsoperationen verhindern. Das schont die Ressourcen und schafft Qualität.
Unsere Erfahrung zeigt, dass die Mortalität bei Eingriffen mit Mindestfallzahlen stärker zurückgegangen ist als bei Eingriffen, die keine Mindestfallzahlen kennen. Auch die durchschnittliche Aufenthaltsdauer ging dank Mindestfallzahlen stärker zurück, und die Kosten sind dort vergleichsweise weniger stark gestiegen.
Ich finde sie zweckmässig. In der hoch spezialisierten Medizin gilt das bereits: Ein Spital muss eine Mindestfallzahl haben, um einen Leistungsauftrag zu erhalten. In der kleinräumigen Schweiz braucht es nicht überall alles. Nur im Notfall muss man schnell in einem Spital sein.
Nein. Wir machen keine Strukturen kaputt. Mindestfallzahlen von 10 oder 20 Eingriffen je Spital sind vergleichsweise tief. Von so wenig Operationen hängt das Überleben eines Spitals nicht ab. Hingegen wollen wir Gelegenheitsoperationen keinem Patienten zumuten.
Ärzte und Spitäler, die beiden grossen Versicherungsgruppen und die Kantone müssen sich an einen Tisch setzen und die Lösungen finden.
Da bieten wir sofort Hand.
Die Anstrengungen laufen. Wichtig ist: Wir müssen – alle –, losgelöst vom parlamentarischen Aktivismus, überlegen, was wir fürs Gesamtsystem langfristig tun können – und nicht nur für die eigene Kasse.