Rettungsdienste und Notaufnahmen in Bremen und Niedersachsen geraten immer stärker unter Druck: Die Zahl der Patienten, die die Notfallnummer 112 wählen und in Krankenhäuser transportiert werden, steigt stetig. „Im vergangenen Jahr haben wir mit über 77.800 Einsätzen wieder einmal einen neuen Rekord erreicht. Im Vergleich zum Jahr davor ist das ein Plus von rund 2200 Rettungsfahrten, 2011 lagen wir noch bei knapp 56.000 Einsätzen. Und wir rechnen damit, dass diese Entwicklung so weiter geht“, sagt Andreas Desczka, Sprecher der Feuerwehr Bremen, die den Rettungsdienst in der Hansestadt organisiert.
Auch das niedersächsische Innenministerium bestätigt diesen Trend: „Allein von 2010 bis 2015 verzeichnen wir einen Anstieg um knapp 30 Prozent auf 736.000 Einsätze“, sagt Ministeriumssprecher Matthias Eichler. Der kontinuierliche Anstieg werfe große Probleme auf: Sowohl Rettungsmittel wie Fahrzeuge und Ausstattung als auch das Rettungspersonal seien nicht unendlich verfügbar oder zusätzlich einsetzbar. Der Rettungsdienst müsse finanziert werden, jährliche Steigerungsraten von mehreren Prozentpunkten seien deshalb problematisch.
Bundesweit wird seit Jahren ein Anstieg bei den Rettungsfahrten verzeichnet. Ein Hauptgrund dafür ist ebenso lange bekannt: Die Notrufnummer 112 werde immer häufiger auch dann gewählt, wenn es sich nicht um einen echten Notfall handele, so Desczka. „Damit haben wir inzwischen täglich zu tun. Wenn das beim Anruf in der Leitstelle nicht gleich abgeklärt werden kann, müssen wir ausrücken.“
Damit verlagert sich das Problem weiter in die Notaufnahmen der Krankenhäuser. In Bremens größtem Krankenhaus, dem Klinikum Mitte, sind die Patientenzahlen von 22.000 im Jahr 2012 auf über 35.000 im Jahr angestiegen, wie die Sprecherin des Klinikverbundes Gesundheit Nord, Karen Matiszick, auf Nachfrage bestätigt. Und auch sie betont: „Der Trend geht weiter.“
Große Hoffnung hatten Behörden, Rettungsdienste und Krankenhäuser in Bremen und Niedersachsen in „Ivena“ gesetzt: In dem Online-Meldesystem geben Kliniken Behandlungskapazitäten von Abteilungen und Notaufnahmen an. Im Rettungswagen und in der Leitstelle der Feuerwehr können Helfer live sehen, wo ein Notfallpatient die schnellste Behandlung bekommt – und welche Notaufnahme einen Versorgungsengpass meldet.
System gerät ans Limit
In Bremen ist „Ivena“ vor einem Jahr scharf geschaltet worden, im niedersächsischen Umland nehmen inzwischen fast alle Leitstellen und Kliniken teil. Das System sei absolut sinnvoll, weil Irrfahrten von Klinik zu Klinik und damit Zeitverzögerungen reduziert würden, „aber das Problem der vollen Notaufnahmen kann Ivena natürlich nicht lösen“, sagt Martin Langenbeck, Leiter der Zentralen Notaufnahme im Rotes Kreuz Krankenhaus Bremen.
Auch für die Klinik in der Neustadt kann er einen steten Anstieg der Patientenzahlen bestätigen. „Wenn dann noch eine so starke Grippewelle wie in dieser Saison dazu kommt, gerät das System ans Limit.“ Das ist erreicht, wenn die Kliniken in „Ivena“ in Rot einen Versorgungsengpass für eine bestimmte Zeit melden. Das kommt fast täglich vor, wie der Blick ins öffentlich einsehbare System zeigt.
Für Heiko Jahn vom Betriebsrat des Deutschen Roten Kreuzes in Bremen dokumentiert „Ivena“ „schonungslos, wie katastrophal die Lage in der Notfallversorgung ist. Zu wenig Personal, zu wenige Betten und überlastete Ärzte. Das müssen Klinikmitarbeiter und der Rettungsdienst ausbaden“.
Die Bremer Bundestagsabgeordnete der Grünen, Kirsten Kappert-Gonther, fordert eine bundesweite Neustrukturierung der Notfallversorgung. „Wir brauchen eine Notfallversorgung aus einer Hand. Die Leitstellen sollten mit denen des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes zusammengelegt werden. Die aktuelle Aufspaltung ist für Patienten nicht nur schwer zu durchschauen, sondern führt im Einzelfall zu unnötiger Verzögerung.“
Ebenso wie der gesundheitspolitische Sprecher der CDU-Fraktion in Bremen, Rainer Bensch, fordert sie den Ausbau sogenannter Portalpraxen. Dort entscheide fachkundiges Personal, ob ein Patient in der Notaufnahme behandelt werden müsse oder nicht. Dann sollten die Patienten in von niedergelassenen Ärzten betriebenen Notdienstpraxen an Kliniken behandelt werden. Bisher dürften diese Praxen nur außerhalb der normalen Sprechzeiten öffnen. Niedersachsens Gesundheitsministerin Carola Reimann (SPD) hat den Ausbau solcher Praxen vor zwei Wochen angekündigt. Sie erwarte, dass auch der Bund das Thema aufgreife.