S 4 KR 255/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 4 KR 255/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 300 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. Oktober 2015 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Berechtigung der Beklagten zur Rückforderung einer gezahlten Aufwandspauschale gem. § 275 Abs. 1c S. 3 SGB V.

Nachdem die Klägerin der Beklagten für die Behandlung des bei ihr krankenversicherten C. die Vergütung in Rechnung gestellt hatte, beauftragte die Beklagte den MDK mit einer Prüfung der Abrechnung. Diese Prüfung führte nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrages, woraufhin die Klägerin der Beklagten mit Rechnung vom 28. Januar 2014 der Beklagten die Aufwandspauschale von 300 EUR gem. § 275 Abs.1c S. 3 SGB V in Rechnung stellte.

Die Beklagte glich diese Rechnung zunächst aus, verrechnete jedoch am 24. Februar 2016 den Rechnungsbetrag von 300 EUR mit einer anderweitigen, unstreitigen Vergütungsforderung der Klägerin für eine stationäre Krankenhausbehandlung.

Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 4. Oktober 2015, der am Folgetag bei dem SG Fulda eingegangen ist, hat die Klägerin Klage erhoben und macht den vorbezeichneten Verrechnungsbetrag geltend. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass die Verrechnung durch die Beklagte zu Unrecht erfolgt sei. Durch die Einschaltung des MDK habe die Beklagte deutlich gemacht, dass sie keine Prüfung der "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" habe auslösen wollen, zu der ihre Sachbearbeiter selbst in der Lage seien, sondern eine Auffälligkeitsprüfung durch den MDK. Diese Sichtweise werde durch die Gesetzesänderung zum 1. Januar 2016 bestätigt. Im Übrigen sei die Beklagte wegen einer Pflichtverletzung im gegenseitigen Vertragsverhältnis zum Schadenersatz verpflichtet, da sie den Eindruck erweckt habe, eine Auffälligkeitsprüfung durchführen zu wollen.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 300,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt, sondern lediglich unter dem 26. Januar 2017 mitgeteilt, dass sie angesichts der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG einer Klagerücknahme entgegensehe.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen. Zuletzt hat die Beklagte für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung plädiert.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf die geltend gemachte Forderung, weil die Aufrechnung der Beklagten ins Leere ging. Denn ihr stand kein Rückforderungsanspruch, basierend auf den insoweit allein in Betracht kommenden öffentlichen-rechtlichen Erstattungsanspruch bezüglich der gezahlten Aufwandspauschale zu.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Vergütungsanspruchs der Klägerin ist § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V i. V. m. § 7 S. 1 Nr. 1 KHEntgG sowie der Vertrag über die Bedingungen der Krankenhausbehandlung nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für das Land Hessen. Nach Rechtsprechung des BSG in früheren Jahren entsteht die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit der Inanspruchnahme einer Leistung durch den Versicherten (BSGE 86, 166, 168 = SozR 3-2500 § 112 Nr. 1, BSGE 90, 1, 2 = SozR 3.2500 § 112 Nr. 3). Der Behandlungspflicht der zugelassenen Krankenhäuser i. S. des § 109 Abs. 4 S. 2 SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der nach Maßgabe des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des KHEntgG und der Bundespflegesatzverordnung in der zwischen den Krankenkassen und dem Krankenhausträger abzuschließenden Pflegesatzvereinbarung festgelegt wird. Die Höhe der einem Krankenhaus zustehenden Vergütung wird durch die abzurechnende DRG (Fallpauschale) bestimmt, die wiederum von den zu kodierenden Diagnosen abhängig ist (zu den Einzelheiten s. BSG, SozR 4-2500 § 109 Nr. 11, sowie Urteil v. 25.11.2010 – B 3 KR 4/10 R – juris Rn. 13). Dieser Anspruch ist nicht in Höhe der Klageforderung durch eine Aufrechnung der Beklagten mit einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch erloschen.

Dabei kann zunächst offen bleiben, ob die Beklagte eine Auffälligkeitsprüfung des MDK veranlasst hat oder ein solche der "sachlich-rechnerischen Richtigkeit"; denn selbst, wenn Letzteres der Fall war, ging die Aufrechnung der Beklagten ins Leere. Ebenso wenig ist zu entscheiden, ob der zwischenzeitlich durch eine Verfassungsbeschwerde angegriffenen Rechtsprechung des 1. Senats des BSG hinsichtlich der Kategorie der so genannten "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" gefolgt werden kann. Der breite Widerspruch aller anderen gerichtlichen Instanzen (protokolliert etwa von Makoski, jurisPR-MedizinR 3/2017 Anm. 5) wie auch der rechtswissenschaftlichen Literatur (s. nur Hambüchen, KH 2017, 978 ff.; Huster/Ströttchen, KV 2017, 42 ff.) lässt daran mehr als nur Zweifel aufkommen. Denn unabhängig vom Bestehen des von der Beklagten mittels der Aufrechnung geltend gemachten Anspruchs ist die Beklagte gehindert, diesen Anspruch im vorliegenden Fall durchzusetzen.

Als Rechtsgrundlage des hier geltend gemachten Erstattungsanspruchs als Aufrechnungsforderung kommt allein ein aus § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 812 ff. BGB ableitbarer öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch in Betracht. Dabei kann hier trotz zentraler Einwände (sogleich 1.) offen bleiben, ob ein solcher überhaupt dem Grunde nach entstanden ist; jedenfalls stehen seiner Durchsetzung rechtshindernde Einwendungen entgegen (2.).

1. Geht man von einem Akt der (Richter-)Rechtsetzung durch den 1. Senat des BSG aus, dann existierte das Prüfregime der "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" jenseits des § 275 SGB V vor dem 1. Juli 2014 nicht, folglich war § 275 Abs. 1c SGB V zuvor anwendbar und bildete den Rechtsgrund für die Zahlung der Aufwandspauschalen. Dieser Rechtsgrund ist dann auch nicht weggefallen.

Wäre alternativ anzunehmen, dass die Kategorie der sachlich-rechnerischen Richtigkeit auch schon seit der Einführung der Aufwandspauschalenregelung am 1. April 2007 parallel existierte, es aber bis zum 1. Juli 2014 von niemandem, auch dem 1. Senat des BSG nicht, nicht zur Kenntnis genommen wurde, sondern sich alle Rechtsanwender und -unterworfenen in einem Rechtsirrtum befunden haben. Vor Begründung der in BSGE 116, 165, begonnenen Rechtsprechung wurde von keinem der Beteiligten erwogen, dass eine Kategorie der Prüfung der "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" neben dem Prüfregime des § 275 SGB V existieren könnte und für die eben jene Regeln nicht gelten (vom entsprechenden "Konsens zwischen Kassen und Krankenhäusern" spricht Knispel, jurisPR-SozR 24/2017 Anm. 1, C.3.).

Aus dem römischrechtlichen Grundsatz "error communis facit ius" ergäbe sich damit die Folgerung, dass die Kategorie der "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" keine Rechtswirkung beanspruchen könnte und somit alle Prüfungen von Krankenhausabrechnungen, wie ja auch von den Beteiligten vor dem 1. Juli 2014 praktiziert, dem Anwendungsbereich des § 275 SGB V unterfielen. Denn der allgemeine Irrtum stünde dann dem Recht gleich. Ciacli/Mihnea, International Proceedings of Economics Development and Research, Vol. 34 (2012), S. 90 (90), formulieren dazu: "Each generation of theoreticians and practitioners of law have conserved and used this principle." An anderer Stelle (International Proceedings of Economics Development and Research, Vol. 17 [2011], S. 291 [291]) zitieren beide Autoren mit Recht Mureºan, Civil Law Dictionary, 2009, S. 535-536: The principle of apparent validity in law is defined in doctrine as being that "general principle according to which each person who was entrusted with good faith in an invincible judicial appearance, publicly seen as reality itself, it must be protected judicially”.

Wenn also jemand in gutem Glauben ein Recht für sich in Anspruch nimmt, das unbestritten erscheint und allgemein als tatsächliches Recht angesehen wird, so muss dieses Recht auch (weiterhin) juristisch geschützt sein. Diese europäische Rechtstradition spricht daher klar gegen einen Anspruch auf Rückforderung der Aufwandspauschalen. Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass der Irrtum offensichtlich auch das BSG erfasst hatte, da es die Aufwandspauschale auch bei Kodierungsfehlern, also den typischen Prüfungen der sachlich-rechnerischen Richtigkeit, noch 2013 nicht in Frage stellte (Urt. v. 28. November 2013 – B 3 KR 4/13 R –, der 1. Senat zuvor entsprechend im Urt. v. 22. Juni 2010 – B 1 KR 1/10 R –).

Auf der Basis dessen kann der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG seit BSGE 116, 165, unabhängig von einer vorherigen "Existenz" der Kategorie der "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" nur Wirkung pro futuro zukommen. Es bleibt daher auch insofern dabei, dass § 275 Abs. 1c SGB V die Rechtsgrundlage für die Zahlungen von Aufwandspauschalen, die vor dem 1. Juli 2014 erfolgt sind, weiterhin bildet und nicht weggefallen ist.

2. Selbst wenn man dies anders sähe, ist die Beklagte an der Durchsetzung der Erstattungsforderungen gehindert, was die hier streitgegenständliche Aufrechnung ins Leere gehen lässt.

Wenn nachträglich ein, wie zuvor beschrieben, zwischen den Beteiligten völlig unumstrittene Rechtsverhältnis wegen einer – wenn auch höchstrichterlichen – Rechtsprechung, die ihrem Gehalt nach einer Rechtsetzung gleichkommt, infrage gestellt wird, drängt sich zentral die Frage des Vertrauensschutzes mit der Folge eines Rückwirkungsverbots sowie eines Verstoßes gegen Treu und Glauben auf. Hierauf ist nach Auffassung der Kammer wie folgt differenziert zu reagieren:

a) Für den Zeitraum vom 1. Juli bis 1. Oktober 2014 ergibt sich aus dem zuvor Ausgeführten zugleich, dass insoweit keine Kenntnis der Beklagten im Sinne des § 814 BGB angenommen werden kann und eine Kondiktionssperre nicht besteht.

b) Soweit Aufwandspauschalen, basierend auf entsprechenden Rechnungen aus dem Zeitraum vor dem 1. Juli 2014, gezahlt worden sind, steht der Durchsetzung eines etwaigen diesbezüglichen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen.

aa) Dies gilt zunächst auf der Basis der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG im Urteil vom 5. Juli 2016 (B 1 KR 40/15 R, juris). Hiernach sind Nachforderungen eines Krankenhauses als verwirkt anzusehen, wenn sie nach Ablauf eine vollen Kalenderjahres geltend gemacht werden. Dieses Prinzip muss aus Gründen der Gleichbehandlung natürlich auch in umgekehrter Beziehung gelten. Die Rückforderung von Aufwandspauschalen, die auf Rechnungen aus dem vorletzten Kalenderjahr vor der erstmaligen Rückforderung gezahlt worden sind, ist daher ausgeschlossen. Folglich scheiden insbesondere Rückforderungen für Aufwandspauschalen aus dem Kalenderjahr 2012 und früher aus.

bb) Für den Zeitraum 1. Januar 2013 bis 30. Juni 2014 steht der Rückforderung ebenfalls der der Einwand von Treu und Glauben gem. § 242 BGB i.V.m. § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V entgegen.

Hierzu ist zunächst festzustellen, dass vor dem 1. Juli 2014 niemand, auch das BSG nicht, eine Kategorie der "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" in seiner Rechtsprechung oder in wissenschaftlichen Veröffentlichungen als parallele Prüfungskompetenz neben dem Regime des § 275 SGB V thematisiert hatte (s. dazu zuvor 1.). Knispel (jurisPR-SozR 24/2017 Anm. 1) hat zudem mit Recht darauf hingewiesen, dass gerade auch der 1. Senat des BSG mehrfach zur Prüfung nach § 275 SGB V ausgeführt hat, es bestünden Auffälligkeiten, die die Kasse zur Einleitung einer Abrechnungsprüfung unter Anforderung einer gutachtlichen Stellungnahme des MDK berechtigten und verpflichteten, wenn die Abrechnung und/oder die der Kasse vorliegenden Behandlungsdaten bzw. weiteren Informationen "Fragen nach der – insbesondere sachlich-rechnerischen – Richtigkeit der Abrechnung und/oder nach der Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots aufwerfen" (BSG, Urt. v. 13.12.2012 - B 1 KR 24/11 R Rn. 18; BSG, Urt. v. 17.12.2013 - B 1 KR 14/13 R Rn. 9; BSG, Urt. v. 17.12.2013 - B 1 KR 52/12 R Rn. 11). Im erstgenannten Urteil wird der Prüfanlass damit begründet, es bestünden "‚Auffälligkeiten’, die eine unzutreffende Abrechnung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Unwirtschaftlichkeit als auch unter dem der sachlich-rechnerischen Unrichtigkeit als eine Möglichkeit erscheinen lassen".

Insofern kommt der an diesem Tag begonnen Rechtsprechung gleichsam rechtssetzender Charakter zu. Wie Knispel (jurisPR-SozR 24/2017 Anm. 1 m.w.Nw.) weiter zutreffend dargelegt hat, ist die Rechtsprechung nicht in gleicher Weise wie der Gesetzgeber an das Rückwirkungsverbot gebunden, so dass ihr ein größerer Spielraum auch bei der rückwirkenden Anwendung eines neuen Auslegungsergebnisses zukommt. Gleichwohl käme einer rückwirkenden Anwendung der Rechtsprechung auf frühere abgeschlossene Fälle der Aufwandspauschalenforderungen eine gesetzesgleiche Rückwirkung zu.

Weiterhin muss bei der Frage der gerichtlichen Anerkennung einer zeitlich zurückwirkenden Anwendung der neuen Rechtsprechung der Vertrauensschutz als Ausschuss des Rechtsstaatsprinzips beachtet werden, der sich – anders als das ja primär privatrechtlich entwickelte Prinzip des error communis facit ius – gegen staatliche Hoheitsträger richtet und diese verpflichtet. Wenn also die rechtsprechende Gewalt allgemein und insbesondere die höchstrichterlichen Spruchkörper in letztinstanzlichen Entscheidungen eine bestimmte Rechtsauffassung ausdrücklich ohne jegliche Zweifel zugrunde legen, dann ist es mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes unvereinbar, wenn diese rechtsprechende Gewalt sodann die von ihr selbst als gegeben angesehene Rechtslage als Unrecht deklariert mit der Folge, dass abgeschlossene Sachverhalte einem anderen Rechtsregime unterworfen werden. Da die Sachverhalte der Aufwandspauschalen mit deren Zahlung auch völlig abgeschlossen worden sind, handelt es sich bei der Erstreckung der ab dem 1. Juli 2014 angewandten Rechtsprechung auf frühere Sachverhalte um eine so genannte "echte Rückwirkung", die nach der Rechtsprechung des BVerfG nur unter sehr engen Voraussetzungen mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar ist. Das BVerfG (BVerf¬GE 135, 1 [29]) hat hierzu ausgeführt:

"Das grundsätzliche Verbot echt rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (vgl. BVerfGE 45, 142 (167 f.); 132, 302 (317)). Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (vgl. BVerfGE 101, 239 (262); 132, 302 (317)). Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 45, 142 (167 f.); 63, 343 (356 f.); 72, 200 (242); 97, 67 (78 f.); 132, 302 (317)). Die Grundrechte wie auch das Rechtsstaatsprinzip garantieren im Zusammenwirken die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und damit als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde die Betroffenen in ihrer Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an ihr Verhalten oder an sie betreffende Umstände ohne Weiteres im Nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt ihres rechtserheblichen Verhaltens galten (vgl. BVerfGE 30, 272 (285); 63, 343 (357); 72, 200 (257 f.); 97, 67 (78); 105, 17 (37); 114, 258 (300 f.); 127, 1 (16); 132, 302 (317)). Ausgehend hiervon sind Gesetze mit echter Rückwirkung grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar (vgl. BVerfGE 45, 142 (167 f.); 101, 239 (262); 132, 302 (318); stRspr)."

Selbst wenn diese für den Gesetzgeber geltenden Grundsätze nicht unmittelbar auf die Rechtsprechung Anwendung finden, so sind doch die dem Verbot der Rückwirkung zugrunde liegenden Grundsätze aufgrund der faktischen Wirkungsgleichheit auch auf Fälle einer Rechtsprechungsänderung mit gleichsam rechtssetzenden Charakter anwendbar, so dass die dahinter stehenden Wertungen des Vertrauensschutzes in gleicher Weise Geltung beanspruchen. Damit wirken sie auf die Bestimmung dessen ein, was nach dem Grundsatz von Treu und Glauben zwischen den hier Beteiligten zu gelten hat. Daher ist die Kammer daran gehindert, der seitens der Beklagten durch Aufrechnung geltend gemachten Durchsetzung der Rückwirkung der seit BSGE 116, 165, geltenden Rechtsprechung des 1. Senats des BSG zum Erfolg zu verhelfen. Vielmehr ist der Klägerin gerade Rechtsschutz gegen eine solche Vorgehensweise zu gewähren.

Freilich hat das BVerfG Ausnahmen von dem grundsätzlichen Verbot der Rückwirkung auf abgeschlossene Sachverhalte zugelassen und insofern ausgeführt (BVerfGE 35, 1 [30]):

"Von diesem grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze bestehen jedoch Ausnahmen (vgl. BVerfGE 13, 261 (272 f.); 18, 429 (439); 30, 367 (387 f.); 50, 177 (193 f.); 88, 384 (404); 95, 64 (86 f.); 101, 239 (263 f.); 122, 374 (394 f.); 126, 369 (393 f.); 131, 20 (39); stRspr). Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze (vgl. BVerfGE 88, 384 (404); 122, 374 (394); 126, 369 (393)). Es gilt nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte (vgl. BVerfGE 95, 64 (86 f.); 122, 374 (394)) oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war (vgl. BVerfGE 13, 261 (271); 50, 177 (193)). Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen handelt es sich um Typisierungen ausnahmsweise fehlenden Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage (vgl. BVerfGE 72, 200 (258); 97, 67 (80)). Für die Frage, ob mit einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage zu rechnen war, ist von Bedeutung, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen (vgl. BVerfGE 32, 111 (123)).

Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen ist gegeben, wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung vertrauen durften, sondern mit deren Änderung rechnen mussten (vgl. BVerfGE 13, 261 (272); 30, 367 (387); 95, 64 (86 f.); 122, 374 (394)). Vertrauensschutz kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn die Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste (vgl. BVerfGE 13, 261 (272); 18, 429 (439); 30, 367 (388); 50, 177 (193 f.); 88, 384 (404); 122, 374 (394); 126, 369 (393 f.)), oder wenn das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden (vgl. BVerfGE 13, 215 (224); 30, 367 (388)). Der Vertrauensschutz muss ferner zurücktreten, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern (vgl. BVerfGE 13, 261 (272); 18, 429 (439); 88, 384 (404); 95, 64 (87); 101, 239 (263 f.); 122, 374 (394 f.)), wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte (vgl. BVerfGE 13, 261 (272); 18, 429 (439); 50, 177 (193 f.); 101, 239 (263 f.); 122, 374 (394 f.)) oder wenn durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (sogenannter Bagatellvorbehalt, vgl. BVerfGE 30, 367 (389); 72, 200 (258))."

Weder die abstrakten Grundsätze noch die hier gebildeten Fallgruppen sind auf die Rückforderung von Aufwandspauschalen anwendbar. Die dafür erforderlichen besonderen Gründe des Allgemeinwohls lassen sich im Hinblick auf die Rückforderung von Fallpauschalen i.H.v. 300 EUR nicht erkennen; dies gilt umso mehr, als der Gesetzgeber seit dem 1. Januar 2016 (BGBl. I, 2229 [2251]) die Fallpauschalen unzweifelhaft auch auf Fälle der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit erstreckt hat, ohne dass es darauf ankommt, ob er damit nur das deutlicher zum Ausdruck gebracht hat, was er ohnehin schon immer wollte. Denn wenn der Gesetzgeber die Zahlung der Aufwandspauschalen nunmehr noch einmal ausdrücklich legitimiert, folgt daraus im Umkehrschluss, dass es keinesfalls besondere Gemeinwohlgründe geben kann, die die Rückforderung einer solchen Pauschale sogar in Form echter Rückwirkung erforderlich erscheinen lassen.

Das Kriterium der "Bagatellgrenze" vermag trotz des Betrages von "nur" 300,00 EUR kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen. Denn dies kommt erst dann in Betracht, wenn überhaupt eine sachlich gerechtfertigte Rückwirkung vorliegt. Davon kann hier aber angesichts der dargelegten Umstände keine Rede sein.

Aber selbst wenn man diese Prinzipien auf rechtsetzungsgleiche Rechtsprechungsänderungen nicht zur Anwendung kommen lassen wollte, bliebe letztlich im Zentrum auf der Basis von § 242 BGB nur die Frage, ob sich die Beklagte von dem mit einer vorbehaltlosen Zahlung verbundenen Vertrauensschutz zugunsten des Zahlungsempfängers lossagen kann, sondern vielmehr, ob sie sich einseitig von einer allgemein als unumstritten angesehen Rechtslage nachträglich lösen kann. Diese Frage ist zu verneinen. Hierzu ist erneut auf die Ausführungen unter 1. zu verweisen. Es ist in einem insbesondere wie zwischen den Beteiligten bestehenden dauerhaften Vertragsverhältnis schlechthin unvertretbar, sich rückwirkend pauschal in Widerspruch zu einer als allgemein geltend anerkannten Rechtslage zu setzen.

3. Gemessen an diesen zuvor dargelegten Grundsätzen ergibt sich für das vorliegende Verfahren die Begründetheit der Klage. Die Klägerin hat unter dem 28. Januar 2014 die Aufwandspauschale in Rechnung gestellt, die die Beklagte vollständig beglichen hat. Für diesen Zeitraum kann die Rechtsprechung des BSG zur Kategorie der "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" keine Geltung beanspruchen. Zudem steht der Rückforderung der Klägerin der rechtshindernde Einwand von Treu und Glauben entgegen, so dass die darauf beruhende Aufrechnung unwirksam war. Das mit der Aufrechnung verfolgte Ziel, eine anderweitige Verfügungsforderung der Klägerin in Höhe von 300,00 EUR zum Erlöschen zu bringen, konnte daher nicht eintreten, so dass Beklagte diesen Betrag noch schuldet und entsprechend zu verurteilen ist.

Ob die Beklagte auch infolge der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG im Urteil vom 5. Juli 2016 (B 1 KR 40/15 R) von der Rückforderung ausgeschlossen ist, weil sie die Rückforderung erst nach Ablauf eines vollen Kalenderjahres erstmals geltend gemacht hat, kann mangels entsprechender Darlegung der Klägerin nicht festgestellt werden. Hierauf kommt es nach dem zuvor Gesagten aber nicht ab.

4. Der Zinsanspruch folgt aus § 291 BGB i.V.m. § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V.

5. Die Berufung ist nicht zuzulassen, da kein Zulassungsgrund vorliegt. Eine höchstrichterliche Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Anwendung der Rechtsprechung seit BSGE 116, 165, ist nicht ersichtlich, so dass eine Divergenzzulassung (§ 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG) ausscheidet.

In Betracht kommt daher allein der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG), was die Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage erfordert. Dabei ist vom Grundsatz auszugehen, dass diese fehlt, wenn die Rechtsfrage eine schon außer Kraft getretene Vorschrift betrifft (Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, VwGO, § 124 Rn. 30 [Stand: Oktober 2015] Rn. 32). Fälle wie der vorliegende, in dem es allein um die Frage der Rückwirkung für einen begrenzten Zeitraum vor dem 1. Juli 2014 geht, sind insofern wertungsmäßig gleichzubehandeln. Eine Fortentwicklung des Rechts, wie es Zweck der Zulassung wegen grundsätzlich Bedeutung ist (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 144 Rn. 28; § 160 Rn. 8d), scheidet daher schon begrifflich aus, da für die Zukunft keine Klärung herbeigeführt werden könnte (in diesem Sinne auch BayLSG, Beschl. v. 5. Januar 2017 – L 5 KR 182/16 NZB, juris Rn. 17). Dies gilt umso mehr, als der Gesetzgeber mit § 275 Abs. 1c S. 4 SGB V mit Wirkung vom 1. Januar 2016 der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG zur Kategorie der "sachlich-rechnerischen Richtigkeit" endgültig die Grundlage entzogen hat.

Auch die Erhaltung der Rechtseinheit oder eine fortwirkende Bedeutung der zu klärenden Rechtsfrage (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 144 Rn. 28, § 160 Rn. 8d) erfordert die Zulassung nicht. Da es allein um die Frage der Rückwirkung einer Rechtsprechungsänderung geht, kann insoweit auf das Vorstehende verwiesen werden. Die Erhaltung der Rechtseinheit setzte voraus, dass es dazu einer obergerichtlichen Entscheidung bedürfte, was dann nicht der Fall ist, wenn die Beantwortung einer Rechtsfrage "so gut wie unbestritten ist" (BSG, Beschl. v. 2. März 1976, SozR 1500 § 160 Rn 17). Es ist nicht ersichtlich, dass zur Frage der Rückwirkung unterschiedliche Auffassungen vertreten würden und dadurch die Rechtseinheit zweifelhaft wäre. Vielmehr gehen alle der Kammer bekannt gewordenen Entscheidungen davon aus, dass die rückwirkende Anwendung der Grundsätze aus BSGE 116, 165, aus Rechtsgründen unzulässig ist (s. SG Osnabrück, Urt. v. 4. September 2017 – S 34 KR 720/16 –, juris; SG Aachen, Urt. v. 14. März 2017 – S 13 KR 436/16 –, juris). Auch aus der Literatur sind keine Stimmen bekannt, die eine rückwirkende Anwendung der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG für zulässig erachten.

Auch die offenkundig gewordene Vielzahl von Rückforderungsfällen rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Eine hohe Zahl von zu entscheidenden Fällen kann zwar trotz der zeitlich befristeten Wirkung der hier relevanten Frage ausnahmsweise eine grundsätzliche Bedeutung rechtfertigen. Allerdings erweist sich die Struktur der Rückforderungssachverhalte durchaus nicht als einheitlich. So liegen etwa verschiedene Entscheidungen der Obergerichte vor, die die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung zurückgewiesen haben, da die erstinstanzlichen Entscheidungen keineswegs allein auf die Frage von Treu und Glauben bzw. der Rückwirkung der Rechtsprechung seit BSGE 116, 165, beruhten (etwa HLSG, Beschl. v. 25. Juli 2016 – L 8 KR 235/16 NZB; LSG Ba-Wü, Beschl. v. 6. Oktober 2016 – L 5 KR 2803/17 NZB). Daher ist nicht ersichtlich und auch von der Beklagten nicht vorgebracht worden, dass insoweit eine Vielzahl von Fällen betroffen ist, so dass deshalb eine grundsätzliche Bedeutung gegeben wäre.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 197a SGG.
Rechtskraft
Aus
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