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Politik Betrugsverdacht

Ermittlungen gegen viele Anbieter von ambulanter Intensiv-Pflege

ARCHIV - ILLUSTRATION - 24.09.2009, Hamburg: Eine Pflegehausbewohnerin in einem Seniorenzentrum hält sich in ihrem Bett an einem Haltegriff fest, im Hintergrund steht eine Pflegekraft. Private Pflegeanbieter befürchten eine «dramatische Unterversorgung» bei vollstationären Pflegeangeboten in Nordrhein-Westfalen. Foto: Angelika Warmuth/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit ARCHIV - ILLUSTRATION - 24.09.2009, Hamburg: Eine Pflegehausbewohnerin in einem Seniorenzentrum hält sich in ihrem Bett an einem Haltegriff fest, im Hintergrund steht eine Pflegekraft. Private Pflegeanbieter befürchten eine «dramatische Unterversorgung» bei vollstationären Pflegeangeboten in Nordrhein-Westfalen. Foto: Angelika Warmuth/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
Ambulante Pflegedienste versorgen immer häufiger auch Intensivpatienten
Quelle: picture alliance / Angelika Warm
Außerklinische Intensivpflege ist die Boombranche schlechthin im Gesundheitswesen. Recherchen von WELT zeigen: In der Branche ist Abrechnungsbetrug weit verbreitet. In Bayern ermitteln Staatsanwaltschaften gegen jeden vierten Pflegedienst.

In der Pflegebranche deutet sich ein umfangreicher Abrechnungsbetrug an. Nach Angaben der Krankenkasse AOK gibt es allein in Bayern staatsanwaltliche Ermittlungen gegen jeden vierten Anbieter von ambulanter Intensiv-Pflege. Ihnen wird vorgeworfen, den Kassen zu viel in Rechnung gestellt und Patienten zum Teil gefährdet zu haben.

Nach Einschätzung der AOK Bayern rechnen kriminelle Anbieter Arbeitsstunden ihrer Mitarbeiter oftmals falsch ab. Anstatt der von den Kassen bezahlten Fachpfleger säßen häufig nicht dafür Ausgebildete an den Betten oder es seien weniger als die bezahlten Pfleger im Einsatz.

Korruptionsbekämpfer und Kontrolleure, die für die Krankenkassen arbeiten, kritisieren zu starke Anreize für falsche Abrechnungen. So wiesen Anbieter Patienten mitunter weiterhin als Intensivpflegefälle aus, obwohl diese gesundheitliche Fortschritte gemacht hätten. Der Pflegeexperte beim Spitzenverband des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, Jürgen Brüggemann, sagte WELT: „Die Vermutung liegt nahe, dass einige Dienste die attraktiven Patienten nicht unbedingt loswerden wollten.“

Boombranche im Gesundheitswesen

Die außerklinische Intensivpflege ist ein junger Zweig der Pflegebranche, der um die Jahrtausendwende entstand und stark gewachsen ist. Laut der zuständigen Fachgesellschaft bis gab es im Jahr 2003 rund 500 Schwerstkranke, die auf diese Weise versorgt wurden.

Heute sind es bis zu 20.000 Patienten, die aus den Intensivstationen von Krankenhäusern entlassen werden, obwohl sie weiterhin rund um die Uhr beobachtet werden müssen.

Für einen einzelnen Patienten kann die Versorgung monatlich um die 25.000 Euro kosten. Die gesetzlichen Krankenkassen gaben für außerklinische Intensivpflege im vergangenen Jahr nach Auskunft ihres Spitzenverbandes im vergangenen Jahr rund 1,5 Milliarden Euro aus*.

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Derzeit häufen sich in der Branche Firmenübernahmen. Große Intensivpflege-Anbieter kauften vor Kurzem Konkurrenten auf oder wurden von Finanzinvestoren übernommen. Für diese gilt die außerklinische Intensivpflege als lukrativstes Anlageobjekt in der Gesundheitsbranche mit erwarteten Renditen von mehr als zehn Prozent.

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Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, forderte im Gespräch mit WELT angesichts der Recherchen eine gesetzliche Kontrolle von Renditen der Investoren. „Es darf nicht sein, dass außerklinische Intensivpflege zum Spekulationsobjekt für Finanzinvestoren wird und darunter die schwerkranken Patienten leiden“, warnte Westerfellhaus.

Umfrage zeigt Überlastung von Pflegern

Unterdessen scheinen Personalknappheit, Hetze und Überforderung in der Pflege an der Tagesordnung zu sein. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Die Antworten der Befragten zeichnen das Bild eines Berufs im permanenten Ausnahmezustand. Die Pflegenden berichten von körperlich schwerer und emotional belastender Arbeit sowie von äußerst ungünstigen Arbeitszeiten, weil Nachtschichten, Wochenenddienst und Schichtdienst die Norm sind – bei insgesamt nur mäßiger und häufig sogar sehr schlechter Bezahlung.

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Gegenwärtig sind Zehntausende Stellen in der Kranken- und Altenpflege nicht besetzt, und Experten erwarten, dass bis 2030 bis zu einer halben Million Pflegefachkräfte hierzulande fehlen könnten. Der Personalmangel belastet die Pflegenden zusätzlich, weil immer mehr Arbeit von immer weniger Personal erledigt werden muss. Drei von vier Beschäftigten geben an, ihre Arbeit oft oder sehr oft in Hetze erledigen zu müssen. Oft kann das tägliche Arbeitspensum nur bewältigt werden, wenn Abstriche bei der Qualität gemacht werden. 

Mitarbeit: Tobias Kaiser

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*In der gedruckten Version dieses Textes und zunächst auch in der Onlinefassung hatten wir die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen als deutlich höher beschrieben: rund 5,9 Milliarden Euro. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung hatte uns Zahlen zu Verfügung gestellt, die später, nach abermaliger Überprüfung, korrigiert werden mussten.

Mitarbeit: Tobias Kaiser

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