EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis, 67, ist eigentlich ein ruhiger Mann. Aber bei Fragen zu Medizin und Gesundheit kann er sehr leidenschaftlich werden. Der Litauer hat sich fast sein ganzes Leben lang damit beschäftigt. Er arbeitete vor seiner politischen Karriere als Herzchirurg im Klinischen Krankenhaus in Vilnius.
WELT: Herr Kommissar, die EU-Kommission hat Ende 2017 die Gesundheitssysteme der Mitgliedsländer analysiert. Was waren die wichtigsten Ergebnisse für Deutschland?
Vytenis Andriukaitis: Der Zugang zu den medizinischen Dienstleistungen ist im Allgemeinen in Deutschland sehr gut, und die Versorgungsqualität im ambulanten und stationären Bereich liegt weit über dem EU-Durchschnitt.
WELT: Aber die Ausgaben für Gesundheit sind ja auch besonders hoch.
Andriukaitis: Deutschland gibt 11,2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus – das ist der Spitzenwert in der EU. Pro Kopf werden jährlich 3996 Euro für die Gesundheit investiert, das sind 43 Prozent mehr als im EU-Durchschnitt. Deutschland hat auch die höchste Dichte bei den Krankenhausbetten. Auf der anderen Seite liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei 80,7 Jahren – das ist Platz 18 in der EU. Das bedeutet, dass in Deutschland die höchsten Gesundheitsausgaben nicht auch zur höchsten Lebenserwartung führen. Das ist bemerkenswert.
WELT: Was sind die Gründe?
Andriukaitis: Es deutet darauf hin, dass die Ressourcen im deutschen Gesundheitssystem effizienter eingesetzt werden sollten. Das gilt vor allem für den stationären Bereich, dort gibt es teilweise eine Überversorgung, die Anlass gibt für Korrekturen. So wäre es sinnvoll, stationäre Leistungen stärker in den ambulanten Bereich oder in Tageskliniken zu verlegen, zum Beispiel die Entfernung von Mandeln, die Tonsillektomie.
Deutschland weist auch mit Abstand die höchste Rate pro Kopf an Hüftersatzoperationen und Kernspintomografien auf – beim MRT liegt man 70 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Die Pro-Kopf-Ausgaben für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel sind die höchsten in Europa. Dies wirft Bedenken hinsichtlich einer Überversorgung mit Dienstleistungen und der Angemessenheit der Versorgung auf. Das haben wir in unserem Bericht im vergangenen Jahr auch deutlich gemacht.
WELT: Aber ist das nicht ein Ausdruck von Stärke?
Andriukaitis: Als Arzt verstehe ich das durchaus. Der Druck der Patienten, ein MRT zu erhalten, ist oftmals sehr hoch. Da ist es manchmal schwer für einen Mediziner, darauf zu verzichten.
WELT: Was ist Ihr genereller Rat?
Andriukaitis: Ich sehe eine gewisse Medikamentalisierung des Lebens: Die EU-Bürger achten zu wenig auf Prävention und eine gesunde Lebensweise. Wenn sie dann krank sind, wollen alle die beste und teuerste Therapie. Das ist der falsche Weg. Es sollte umgekehrt sein: Je besser die Prävention, desto weniger Therapien sind nötig.