Berlin. Vivantes-Chefin Andrea Grebe fordert mehr Mittel vom Land Berlin und sieht die Patientenzahlen am Limit.

Andrea Grebe (56) ist seit 2014 Vorsitzende der Geschäftsführung beim landeseigenen Gesundheitsversorger Vivantes. Mit der Ärztin, Volks- und Betriebswirtin sprachen wir über den Investitionsstau, das Volksbegehren Pflege und die Tarifauseinandersetzungen im Servicebereich.

Frau Grebe, Vivantes investiert an mehreren Standorten und hat dafür im vergangenen Jahr 55 Millionen Euro Eigenmittel aufgewendet. Sind Krankenhausinvestitionen nicht Aufgabe des Landes?

Andrea Grebe: Die Zahl bezieht sich auf den gesamten Konzern. Wir betreiben aber nicht nur Kliniken, sondern etwa auch Altenpflegeeinrichtungen und Medizinische Versorgungszentren. Die unterliegen nicht dem Krankenhausfinanzierungsrecht.

Aber dennoch bleibt ein zweistelliger Millionenbetrag für Investitionen übrig, der eigentlich vom Land Berlin übernommen werden müsste, den Sie aber tragen.

Das ist richtig, der Betrag ist erheblich und betrifft alle Vivantes Kliniken. Die Berliner Krankenhäuser leiden seit mehr als zwei Jahrzehnten unter einem immensen Investitionsstau. Wir alle kennen die finanzielle Situation der Stadt in den Nullerjahren – sparen, bis es quietscht, hieß es damals. Man kann das immer wieder benennen, aber davon wird es nicht besser. Im Übrigen kommt kein Bundesland seinen Investitionsverpflichtungen für die Krankenhäuser nach, auch Bayern und Baden-Württemberg nicht. Im Ländervergleich war Berlin über viele Jahre Schlusslicht, seit zwei Jahren nähern wir uns zumindest dem Bundesdurchschnitt an. Der deckt aber immer noch nicht den Bedarf. Die Folge ist, dass der Investitionsstau mit jedem Jahr größer wird.

2017 betrug der Haushaltsüberschuss in Berlin 2,1 Milliarden Euro. Müsste da nicht mehr in die Kliniken investiert werden?

Wir wünschen uns das und fordern es auch. Wir brauchen dringend einen weiteren Aufwuchs. Eine Trendumkehr ist zwar eingeleitet, aber das reicht bei Weitem noch nicht.

Ärgert Sie diese Politik?

Ärger ist nicht die richtige Kategorie. Wir blicken eher auf die Nöte in unseren Kliniken. Wir haben teilweise noch Vierbettzimmer mit Toilette und Dusche auf dem Gang. Das kann man Patienten kaum noch vermitteln. Veraltete Strukturen belasten aber auch unsere Mitarbeiter, weil das schlechtere Arbeitsabläufe mit sich bringt und eine gute Patientenversorgung nur mit großem Aufwand gewährleistet werden kann. Es geht dabei auch um Investitionserfordernisse, die kein Patient sieht, die aber sehr wichtig sind, zum Beispiel eine Strom- und Trinkwasserversorgung, die allen Qualitätsstandards genügt.

Der Finanzbedarf nimmt also zu?

Ja, der Investitionsstau ist aber nur ein Grund. Wenn wenig investiert wird, steigen die Kosten für Instandhaltung. Wir müssen also neben Investitionen auch viel Geld für Reparaturen aufwenden. Infrastruktur muss auch erneuert werden, wenn sich gesetzliche Grundlagen ändern oder Brandschutzauflagen verschärft werden. Und natürlich müssen wir auch in neue Medizintechnik investieren.

Ein ganz großes Neubau- und Sanierungsvorhaben steht Ihnen am Klinikum Neukölln ins Haus. Wir reden von 600 Millionen Euro. Wie soll das bewältigt werden?

Das können wir weder aus den Investitionspauschalen des Landes bezahlen noch selber finanzieren. Das ist auch dem Land Berlin, unserem Eigentümer, klar. Wegen der Größe des Klinikums und seiner Bedeutung für die medizinische Versorgung Berlins muss dieses Projekt separat finanziert werden. Das Klinikum ist immerhin einer der größten Klinikstandorte in Deutschland, zusammen mit dem Ida-Wolff-Krankenhaus sind es rund 1400 Betten.

Mit welcher Bauzeit rechnen Sie?

Die gesamte Baumaßnahme erstreckt sich über zehn bis 15 Jahre. Wir müssen im laufenden Betrieb bauen, unterteilt in mehrere Bauabschnitte. Eine ursprüngliche Planung sah sogar eine Bauzeit von 20 bis 25 Jahren vor. Das haben wir geändert. Wir bauen nun in Richtung Rudower Straße zunächst den sogenannten Nordkopf. In diesen Neubau ziehen Rettungsstelle, OPs, Intensivmedizin, aber auch Bettenstationen. Mit dieser Ausweichfläche können wir Zug um Zug das Haupthaus sanieren.

Bauen bei laufendem Betrieb, leiden dann nicht die Patienten unter dem Lärm?

Wir versprechen nicht, dass man gar nichts hört. Aber wir haben Konzepte, um die Beeinträchtigung der Patienten so gering wie möglich zu halten. Durch den Neubau des Nordkopfes ist es möglich, Bettenstationen dorthin auszulagern, während das Haupthaus saniert wird.

Die Patientenzahlen bei Vivantes sind im Jahresvergleich zwar gestiegen, der Anstieg fiel aber geringer aus als in den vergangenen Jahren. Ist das ein Problem?

Unsere Aufgabe ist, nur die Patienten im Krankenhaus zu versorgen, die auch eine Krankenhausbehandlung benötigen. Berlin hatte in den vergangenen Jahren immer ein höheres Fallwachstum als der Bundesdurchschnitt, und Vivantes lag sogar noch über dem Berliner Durchschnitt. Bei den Fallzahlen sind wir inzwischen an einem Limit angekommen. Wir haben eine überdurchschnittliche Auslastung. Im Hinblick auf die Schwere der Fälle konnten wir einen weiteren Anstieg verzeichnen. Das entspricht unserer medizinischen Strategie, leichtere Fälle können auch ambulant von Niedergelassenen versorgt werden.

Aber von Ärzten, die in Rettungsstellen arbeiten, hört man, sie seien angehalten, Patienten über Nacht dazubehalten, weil das eine um ein Vielfaches höhere Vergütung der Krankenkassen bedeutet.

Dieser Zusammenhang ist so nicht richtig. Wenn Patienten in eine Rettungsstelle kommen, nehmen wir komplexe Untersuchungen vor. Diese sechs oder acht Stunden sind in der Regel keine Wartezeit, sondern in dieser Zeit geschieht die Diagnostik. Wenn Patienten dazu über Nacht bleiben, dann weil es medizinisch geboten ist. Für solche Fälle sollen in allen großen Rettungsstellen entsprechende Aufnahmebereiche eingerichtet werden, zum Teil ist dies schon umgesetzt. Dieses Konzept haben in Rettungsstellen tätige Mediziner selbst gefordert, nicht nur bei Vivantes. Aber unabhängig davon bekommen wir die komplexe Diagnostik und den Facharztstandard in Rettungsstellen von den Kassen nicht angemessen vergütet.

Spekulieren Krankenhäuser und Kassen nicht auf die große Opferbereitschaft der Ärzte? Wir haben von einem Fall gehört, dass eine Ärztin sich zu Weihnachten sogar ein Stethoskop gewünscht hat. Ist das nicht seltsam?

Den Weihnachtswunsch nach einem Stethoskop höre ich zum ersten Mal. Wir bei Vivantes stellen die Arbeitsmittel. Niemand muss einen Computer oder einen Kittel kaufen. Und Stethoskope gibt es auf allen Stationen. Möglicherweise wollte die Ärztin unbedingt ein eigenes spezielles.

Sie haben 2017 erneut weitere Mitarbeiter eingestellt. Gefährdet das nicht auf Dauer die schwarze Null in Ihrer Bilanz?

Ein ausgeglichenes Ergebnis ist weiter erforderlich, aufgrund der gestiegenen Leistungen passen wir auch unser Personal an. Reduzierungen bei unseren Beschäftigten sind zurzeit kein Thema bei uns. Im Gegenteil: Wir suchen Fachkräfte und stellen ein! Wir haben in Berlin als Metropolregion einen ausgeprägten Leasingkräftemarkt, wir setzen aber auf Festangestellte. Dafür haben wir Rekrutierungsprogramme und bilden aus und weiter, vor allem Pflegepersonal, auch Fachärztinnen und -ärzte.

Verstärken Sie die Ausbildung?

Ja, der Fokus liegt dabei momentan auf den patientennahen Berufen – Pflegekräfte, Hebammen, Pflegehelfer und -helferinnen, OP-Assistenten. Mit unserem Institut für berufliche Bildung im Gesundheitswesen haben wir rund 1000 Ausbildungsplätze, davon die meisten für Pflegeberufe. In den nächsten drei Jahren wollen wir die Zahl der Pflegeausbildungsplätze verdoppeln auf dann insgesamt 1600 Plätze.

Sie kooperieren auf verschiedenen Feldern mit der Charité. Ist das auch bei der Ausbildung geplant?

Ja. Wir führen dazu konstruktive Gespräche, sie sind weit fortgeschritten. Der Ausbau der Ausbildungsplätze ist Thema in beiden Akademien, wir wollen gemeinsam etwas Großes aufbauen.

Servicekräfte streiken für bessere Löhne. Was bieten Sie an?

Wir berichten nicht aus laufenden Tarifverhandlungen, da bitte ich um Verständnis. Wir haben aus unserer Sicht ein sehr gutes Angebot vorgelegt, das auch über dem vergleichbarer Abschlüsse in der Bundesrepublik und in Berlin liegt. Wir hoffen, dass wir uns mit unserem Tarifpartner bald einigen und zu einem Haustarifvertrag kommen. Ich bin weiter optimistisch.

Wie beurteilen Sie die Tarifauseinandersetzungen?

Jeder von uns möchte, dass alle gut verdienen, egal ob Ärzte und Ärztinnen, Pflege- oder Servicekräfte, etwa in der Reinigung und der Speisenversorgung. Und alle möchten, dass noch mehr Personal da ist. Aber das muss refinanziert werden. Ein ausgeglichenes Ergebnis ist Aufgabe der Geschäftsführung, aber es ist für alle wichtig. Jeder will in einem Unternehmen arbeiten, das wirtschaftlich stabil ist. Und die Menschen sollen bei Vivantes angestellt sein, das ist unsere Strategie. Wir wollen möglichst keine Leistungen an Dritte vergeben. Hätten wir das getan, befänden wir uns jetzt nicht in diesen Tarifauseinandersetzungen im Servicebereich. Wir haben den anstrengenderen Weg gewählt und uns dafür entschieden, diese Leistungen alle selber zu erbringen. Und wir sind ein öffentliches Unternehmen, in dem betriebliche Mitbestimmung und Transparenz einen ganz besonderen Stellenwert haben. Dafür setze ich mich auch persönlich ein.

Verdi strebt die Gehaltstarife des öffentlichen Dienstes an. Was würde Vivantes das kosten?

Wenn wir alle Bereiche einrechnen, wären es mindestens 35 Millionen Euro zusätzlich pro Jahr. Diese Zahl basiert aber noch auf einer geringeren Mitarbeiterzahl, als wir sie heute haben.

Was halten Sie vom Volksbegehren Pflege?

Ein Volksbegehren ist ein legitimes, wichtiges demokratisches Instrument und es zielt auf ein verständliches Ansinnen. Die gesamte Geschäftsführung steht dafür, dass alle, ob patientennah oder in Servicebereichen tätig, gute und faire Löhne bekommen. Das Volksbegehren „Gesunde Krankenhäuser“ beinhaltet eine Änderung des Landeskrankenhausgesetzes mit sehr detaillierten Vorgaben, die weit über das hinausgehen, was auf Bundesebene geplant ist. Wenn aber etwas durchgesetzt werden soll, das dann nur für das Land Berlin und die Krankenhäuser hier gelten würde, muss man natürlich fragen: Wer bezahlt das? Das steht dort nicht drin. Also: Niemand von uns hat etwas gegen mehr Personal oder höhere Tarife, auch ich nicht. Es muss aber gegenfinanziert sein.

Wer müsste das finanzieren?

Personalkosten werden über die Budgets der Krankenkassen finanziert. Wenn es dort zu Mehrausgaben kommt, kann sich das auf den Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung auswirken. Dafür einen Ausgleich zu finden, ist ein bundesweites Thema und nicht Sache der Bundesländer. Ohnehin bekommen Krankenhäuser Tarifabschlüsse nicht komplett von den Kassen refinanziert. Wir müssen Lohnsteigerungen stets innerhalb unseres Budgets ausgleichen. Dazu müssen wir beispielsweise in den Krankenhäusern intelligent Prozesse standardisieren oder im Verbund gemeinsam einkaufen, um andere Rabatte zu erhalten.

Aber ist dieses System nicht belastend für die Patientenversorgung?

Auch ein niedergelassener Arzt oder ein selbstständiger Unternehmer oder Handwerker muss sehen, wie er Lohnerhöhungen finanziert. Die Abrechnung von Krankenhausleistungen erfolgt in Deutschland seit 15 Jahren nach Fallpauschalen. Zuvor wurde Kliniken vorgeworfen, Patienten unnötig lange in der Klinik zu behalten, weil belegte Betten Geld bringen. Das verhindert die Vergütung nach Fallpauschalen. Ein Patient sollte so nur lange in der Klinik bleiben, wie es medizinisch notwendig ist. Aber jedes System hat auch Fehlanreize, kein Finanzierungssystem ist perfekt. Man muss die Fehlanreize so gering wie möglich halten und notfalls gegensteuern.

Hätte das Volksbegehren Erfolg, müssten Sie mehr Pflegekräfte einstellen. Was hieße das finanziell?

Da im Gesetzentwurf Vorgaben für viele Berufsgruppen gemacht werden, können wir es nur grob schätzen: 55 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich. Aber selbst wenn wir die 55 Millionen von den Kassen bekämen, ist die Frage, ob wir die Pflegekräfte überhaupt am Markt finden. Das muss auch mitgedacht werden.

Sie sind seit vier Jahren Vorsitzende der Geschäftsführung von Vivantes. Ist der Job in dieser Zeit leichter oder schwerer geworden?

Er war und ist immer herausfordernd. Als leicht habe ich ihn noch nie empfunden, und besonders belastende Situationen oder Themen wie die Sanierung des Klinikums Neukölln oder Tarifauseinandersetzungen bereiten mir schon mal schlaflose Nächte. Es geht immerhin um ein Unternehmen mit Arbeitsplätzen und der Verantwortung für 16.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Zum Schluss: Sie fahren als Dienstwagen einen Elektro-Smart. Das ist ja lobenswert, aber ist es nicht sehr unkomfortabel?

(lacht:) Es ist ein Zeichen und bisher bin ich noch nicht liegengeblieben. Zum einen wollte ich ein kleines, wendiges Auto und parke damit in der Stadt schneller als viele andere - dies lautlos und hoffentlich umweltfreundlich. Zum anderen hätte ich moralische Bedenken, mit einem Fahrer oder einer Fahrerin in einer großen Limousine unterwegs zu sein. Derzeit kämpfe ich noch mit der Ladekapazität. Es ist schwierig, die Akkus immer ausreichend zu laden. Bei diesen Temperaturen beträgt die Reichweite knapp 150 Kilometer, im Winter nur 107 Kilometer, inklusive Reserve. Sobald Sie im Winter die Heizung oder im Sommer die Klimaanlage anschalten, sinkt die Reichweite um 30 Prozent. Gut, ich wollte es so, im Sinne der Ökologie. Diese Zukunftsthemen beschäftigen uns ja auch, nicht nur der Investitionsstau und die schwarze Null.

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