L 5 KR 555/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 246/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 555/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 04.08.2015 abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind weder in erster noch in zweiter Instanz zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung für eine Brustverkleinerungsoperation.

Die am 00.00.1962 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Am 13.05.2014 beantragte sie unter Vorlage eines ärztlichen Attestes des Leiters der Brustklinik des N-hospitals B Dr. E die Durchführung einer Mammareduktionsplastik aufgrund einer beidseits bestehenden Makromastie mit orthopädischen Beschwerden. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung nach Aktenlage durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), der in seinem Gutachten vom 20.05.2014 die medizinische Notwendigkeit des gewünschten Eingriffs verneinte. Vorrangig seien eine Gewichtsreduktion (Gewicht derzeit 100 kg bei 162 cm Körpergröße) und orthopädische Therapien durchzuführen. Mit Bescheid vom 26.05.2014 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für die gewünschte Operation ab.

Mit ihrem Widerspruch vom 27.05.2014 teilte die Klägerin mit, sie habe in den letzten acht Monaten bereits ca. 30 kg abgenommen. Bei einer offenen Biopsie der Brust seien Krebszellen gefunden worden, so dass Zeitdruck für die Operation bestehe. Eine Chemotherapie sei auch noch erforderlich. Die Klägerin legte ein weiteres Schreiben des Dr. E sowie ein Attest ihrer Hausärztin Dr. L vor. Diese beschreibt chronische Schmerzen im Bereich von Halswirbelsäule und Schultern, deren Ursache die Klägerin in ihrer körperlichen Arbeit sehe; dem könne medizinisch zugestimmt werden. Bei der Klägerin sei nun ein Morbus Hodgkin diagnostiziert worden, es solle eine Chemotherapie durchgeführt werden.

Am 10.06.2014 ließ die Klägerin die Mammareduktionsoperation durch Dr. E im Marienhospital B durchführen. Es wurden rechts 991 g und links 944 g überschüssige Haut und Gewebe entfernt.

Nach Einholung eines weiteren Gutachtens nach Aktenlage durch den MDK vom 23.06.2014 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 27.08.2014 zurück. Eine zwingende medizinische Notwendigkeit für die begehrte Mammareduktionsplastik liege nicht vor.

Die Klägerin hat am 29.09.2014 Klage vor dem Sozialgericht Aachen erhoben.

Sie hat die Auffassung vertreten, bei ihr habe vor der Operation eine krankhaft ausgeprägte Gigantomastie vorgelegen. Die Gewichtsreduktion von 30 kg habe an der Brustgröße und dem Brustgewicht nichts geändert. Ihr behandelnder Orthopäde Dr. N habe die hartnäckigen Schmerzen der mittleren Brustwirbelsäule auf die übergroßen Brüste zurückgeführt. Seit der Operation habe sie so gut wie keine Rückenbeschwerden mehr. Auch habe die Größe der Brüste sie psychisch belastet.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.05.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.08.2014 zu verurteilen, ihr 6.732,04 EUR zu erstatten.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass ihr kein orthopädischer Befund von Dr. N vorliege. Die Klägerin habe die Operation noch vor der Erstellung des Widerspruchsgutachtens selbst beschafft, so dass eine körperliche Untersuchung nicht mehr möglich gewesen sei. Für die Klägerin habe offensichtlich bereits festgestanden, dass sie die Operation bei Ablehnung sofort durchführen würde. Es sei nicht nachvollziehbar, warum bei der Klägerin ein orthopädisches Behandlungskonzept ohne Belang gewesen sein sollte. Wissenschaftlich sei ein Kausalzusammenhang zwischen Brustgröße und Rückenbeschwerden nicht erwiesen.

Die Klägerin hat Rechnungen über insgesamt 6.732,04 EUR vorgelegt.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben und von Amts wegen ein fachorthopädisches Gutachten beim Arzt für Orthopädie, Sportmedizin und Physikalische Medizin Dr. N1 eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 02.04.2015 nach Untersuchung der Klägerin am 01.04.2015 festgestellt, dass orthopädisch aktuell keine Beschwerden bestünden. Die Hals- und Brustwirbelsäule seien frei beweglich, die Schulterfunktion schmerzfrei. Präoperativ habe bei der Klägerin ein überwiegend myostatisches, vor allem belastungsabhängiges Halswirbelsäulen- und Brustwirbelsäulensyndrom bestanden. Die Behandlung sei überwiegend medikamentös und in den letzten beiden Jahren durch physikalische Maßnahmen erfolgt. Die präoperativ bestehenden orthopädischen Beschwerden ließen sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf die extreme Größe und das Gewicht der Brüste zurückführen. Denn die Klägerin bedürfe mittlerweile keinerlei medikamentöser oder balneophysikalischer Therapie mehr und habe ihre Arbeit wieder aufgenommen.

Die Beklagte hat nach Auswertung des Gutachtens des Dr. N1 durch den MDK gegen das Gutachten eingewandt, die Klägerin sei immer noch stark übergewichtig. Vor der Durchführung einer Brustoperation seien die konservativen Behandlungsmethoden auszuschöpfen; hierunter falle eine Reduktion des Körpergewichts und eine Stärkung des Muskelapparates durch sportliche Betätigung. Ein Muskelaufbau sei auch mit Übergewicht und großen Brüsten möglich; die Brustverkleinerung sei nicht die einzig mögliche Behandlungsoption bei der Klägerin gewesen. Die Klägerin habe vor der Operation kein multimodales therapeutisches orthopädisches Konzept durchgeführt, sondern den Orthopäden Dr. N nur aufgesucht, um ein Attest für die begehrte Mammareduktionsplastik einzuholen.

Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 04.08.2015 stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.05.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.08.2014 verurteilt, der Klägerin 6.732.04 EUR zu zahlen. Der Sachverständige Dr. N1 habe nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass die Brustoperation hier die einzig denkbare Behandlungsalternative gewesen sei, um zu einer Verbesserung bzw. sogar dem Verschwinden der Wirbelsäulenbeschwerden der Klägerin beizutragen.

Gegen das ihr am 10.08.2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 09.09.2015 Berufung und die Klägerin am 25.11.2015 Anschlussberufung eingelegt.

Zur Begründung wiederholt die Beklagte im Wesentlichen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Insbesondere seien konservative Behandlungsmethoden nicht ausgeschöpft gewesen. Die Klägerin habe ihre Rückenschmerzen lediglich selbst mit Ibuprofen behandelt und keine leitliniengerechte fachärztlich-orthopädische Behandlung in Anspruch genommen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 04.08.2015 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Beklagte im Wege der Anschlussberufung zu verurteilen, an die Klägerin auf die Urteilssumme Verzugszinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz von dem Eintritt der Rechtshängigkeit an zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Anschlussberufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Sie habe bereits 30 kg an Gewicht abgenommen, ohne dass dies zu einer wesentlichen Auswirkung auf das Brustgewicht geführt habe. Der Kausalzusammenhang zwischen der Mammahypertrophie und ihren Rückenschmerzen sei durch den vom Sachverständigen erhobenen radiologischen Befund bestätigt worden. Im Übrigen sei eine langjährige konservative orthopädische Therapie gegenüber einer einmaligen Operation unwirtschaftlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht Aachen hat der Klage zur Unrecht mit Urteil vom 04.08.2015 stattgegeben. Der Bescheid der Beklagten vom 26.05.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.08.2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten nach § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie hat keinen Anspruch auf Kostenerstattung für die durchgeführte operative Mammareduktionsplastik. Die zulässige Anschlussberufung ist unbegründet; da schon kein Kostenerstattungsanspruch besteht, kann die Klägerin auch keine Zinsen geltend machen.

Als Rechtsgrundlage für den mit der Klage geltend gemachten Anspruch kommt hier nur § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Betracht. Diese Rechtsnorm bestimmt: Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Ein Anspruch auf Kostenerstattung ist demnach nur gegeben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Bestehen eines Primärleistungs-(Naturalleistungs)-anspruchs des Versicherten und dessen rechtswidrige Nichterfüllung, Ablehnung der Naturalleistung durch die Krankenkasse, Selbstbeschaffung der entsprechenden Leistung durch den Versicherten, Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung, Notwendigkeit der selbst beschafften Leistung und (rechtlich wirksame) Kostenbelastung durch die Selbstbeschaffung (vgl. zum Ganzen: BSG, Urteil vom 16.12.2008, B 1 KR 2/08 R).

Vorliegend fehlt es schon am Naturalleistungsanspruch der Klägerin. Ein Anspruch der Klägerin auf Krankenbehandlung nach §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, 39 SGB V besteht nicht, weil weder eine Krankheit i.S.d. § 27 Abs. 1 SGB V an der Brust vorlag, noch die für eine mittelbare Krankheitsbehandlung maßgeblichen Kriterien erfüllt waren.

Versicherte haben nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 28.02.2008, B 1 KR 19/07 R).

Nach den ärztlichen Feststellungen in der Verwaltungs- und Gerichtsakte sowie der dem Gericht vorgelegten Fotodokumentation bestand bei der Klägerin vor der Operation zwar eine beidseitige Mammahypertrophie, jedoch lag keine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Brust vor. Auch eine äußerliche Entstellung, die eine Mammaoperation rechtfertigen könnte, war nicht gegeben. Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Anomalität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist (BSG, Urteil vom 28.02.2008, B 1 KR 19/07 R). Ausgehend von diesen Maßstäben handelt es sich im Fall der Klägerin um eine Normvariante der Natur und keinen regelwidrigen Körperzustand an der Brust.

Auch die von der Klägerin geltend gemachten Rückenprobleme, wegen derer grundsätzlich ein Anspruch auf Krankenbehandlung besteht, begründen keinen Anspruch auf die von der Klägerin begehrte und durchgeführte Operation. Es kann dahingestellt bleiben, ob - wie Dr. N1 in seinem Gutachten ausführt - das Brustgewicht wahrscheinlich die Ursache für die Rückenprobleme war, und ob eine Brustverkleinerung grundsätzlich geeignet ist, um Rückenbeschwerden zu behandeln. Denn ein chirurgischer Eingriff in ein gesundes Körperorgan, wie ihn die Klägerin hier begehrt und hat durchführen lassen, kommt nur als Ultima Ratio in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2008, B 1 KR 2/08 R). Diese Bedingung erfüllt die Klägerin jedenfalls nicht, weil sie die konservativen Behandlungsmethoden nicht ausgeschöpft hat. Vorliegend ist keine orthopädische Behandlung erfolgt. Die Klägerin hat gegenüber dem Gutachter Dr. N1 angegeben, sie habe in der der Vergangenheit häufig Nacken- und Rückenschmerzen gehabt, vor allem bei der Arbeit und bei Oberkörpervorneigung. Diese Angabe deckt sich auch mit dem im Verwaltungsverfahren vorgelegten Attest der Hausärztin Dr. L vom 26.05.2014, wonach die Klägerin "chronisch unter Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule und Schultern leide. Als Ursache sehe sie (die Klägerin) ihre körperliche Arbeit an." Nach Angaben der Klägerin gegenüber Dr. N1, behandelte die Klägerin sich in der Regel selbst mit Ibuprofen. Im Januar 2014, nachdem sie ihre aktuelle Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin aufgenommen habe, hätten sich die Beschwerden so verstärkt, dass sie den Orthopäden Dr. N aufgesucht habe, der zu einer Mammareduktionsplastik geraten habe. Ein Hinweis auf eine konservative orthopädische Behandlung wegen der Rückenschmerzen findet sich in den gesamten Gerichts- und Verwaltungsakten nicht. Die Klägerin hat auch im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich bestätigt, dass sie ihre "Rückenprobleme" in der Zeit vor der Behandlung durch Dr. N mit Ibuprofen behandelt hat. Soweit der Sachverständige Dr. N1 auf eine Behandlung mit physikalischen Maßnahmen hinweist, ist den Unterlagen bereits nicht zu entnehmen, um welche Maßnahmen es sich gehandelt hat und welche Gesundheitsstörungen behandelt wurden. Die Klägerin war in den Jahren 2012 und 2013 an einem Karpaltunnelsyndrom erkrankt. Zeitnah zu diesen Behandlungen sind elektro-physikalische Behandlungen erfolgt, so dass es nahliegend ist anzunehmen, dass insoweit ein Zusammenhang besteht, zumal die Klägerin selbst (s.o.) nur eine Behandlung der Wirbelsäulenbeschwerden mit Schmerzmitteln angegeben hat. Vor einer Operation an einem ansonsten gesunden Organ hätte die Klägerin jedoch eine konservative orthopädische Behandlung durchführen müssen. Ob diese zum Erfolg geführt hätte, lässt sich im Nachhinein nach der durchgeführten Operation nicht beantworten. Es ist jedoch letztlich unerheblich, ob die Behandlung erfolgreich gewesen wäre und ob sie im Vergleich zu einer Operation wirtschaftlich gewesen wäre: jedenfalls hat die Klägerin nicht alle anderen zur Verfügung stehenden Behandlungsmethoden vor der Operation ausgeschöpft, so dass weder ein Sachleistungsanspruch noch ein Kostenerstattungsanspruch bestehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 193, 183 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach Maßgabe des § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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