Sehr geehrte liebe Kolleginnen und Kollegen,

gerne habe ich die Einladung angenommen, ein Editorial zu „Honorardiskussionen um operative Eingriffe versus konservative Therapie an Schulter und Ellenbogen“ für die „Obere Extremität“ zu schreiben. In einem perfekten Gesundheitswesen würde diese Seite frei bleiben. Denn es gäbe überhaupt keine Honorardiskussionen. Sämtliche Patienten würden leitliniengerecht behandelt, und zwar nach einem zuvor geführten intensiven Arzt-Patient-Dialog über die verschiedenen Therapiemöglichkeiten. Die konservativen Optionen im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie (O und U) würden bei Verletzungen und Erkrankungen der oberen Extremitäten optimal genutzt. Operiert würde dann, wenn die konservative Therapie keine langfristigen Erfolge erbringt beziehungsweise dies von vornherein die beste Möglichkeit darstellt.

Wir arbeiten aber nicht in einem perfekten Gesundheitswesen. Im bestehenden System stehen wir alle unter dem Dauerverdacht, dass Fehlanreize regelmäßig zu übermäßig vielen und unnötig frühen Operationen verführen und wir konservative Optionen nicht konsequent genug verfolgen. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass Fehlanreize in diese Richtung bestehen. Viele Kolleginnen und Kollegen mögen ihnen aus fachlichen wie ethischen Gründen nicht folgen. Aber dass es Fehlanreize gibt, ist nicht zu leugnen.

Wie sie genau angelegt sind und vor allem, wie sie wirken, ist allerdings nicht einfach darzulegen, weil genaue Daten dafür in aller Regel fehlen. So sind, wie das „Weißbuch Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie“ zeigt, Verletzungen und Überlastungsschäden der oberen Extremität häufig und oft komplex. „Das subakromiale Impingement oder das Karpaltunnelsyndrom sind so häufig, dass man von orthopädischen Volkskrankheiten sprechen könnte“, betonen die Autoren Doyscher und Scheibel [1].

Die Abschätzung ihrer Behandlungskosten ist jedoch schwierig, da Abrechnungen sowohl im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung wie auch im Bereich der privaten Kostenerstattung nicht gelenk- oder krankheitsbezogen durchgeführt werden.

Wie werden Schulterpatienten in Praxen versorgt? Wie oft kommen sie im Quartal? Wer ist noch in ihre Behandlung einbezogen – Hausärzte, Physiotherapeuten? Wie intensiv? Wie groß ist der individuelle Patientenaufwand im Krankenhaus? Wie viele und welche Einheiten Physiotherapie werden rezeptiert? Welche Ressourcen benötigt die Abstimmung ambulant-stationär? Hierüber wissen wir nur das, was wir erleben. Doch um objektiv über all diese Prozesse und eine gute Versorgung zu urteilen, bräuchten wir Versorgungsdaten – auch und vor allem, um eine gerechte Honorierung zum Thema zu machen.

Zwei Überzeugungen teilen viele Kolleginnen und Kollegen: Die konservative Orthopädie und Unfallchirurgie wird weder in Praxen noch in Krankenhäusern adäquat vergütet. Und sie spielt in der Weiterbildung zukünftiger Orthopäden und Unfallchirurgen längst eine zu kleine Rolle. Ich will Sie nicht mit Details zu den Honorarsystemen langweilen. Aber hier liegen die Wurzeln für viele unserer Diskussionen. Sie basieren auch auf zurückliegenden Fehlern in Kassenärztlicher Bundesvereinigung und KVen. Der aktuelle einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) sieht für die ambulante Versorgung im Wesentlichen Pauschalen und einige Einzelleistungen vor. Der Fallwert pro Patient und Quartal liegt für O und U im bundesweiten Durchschnitt bei ca. 50 € und ist damit so hoch wie 1985! Wie oft ein Patient in die Praxis kommt, wie aufwendig seine Behandlung ist, bildet sich nicht im Honorar ab. Jahrelang wurde argumentiert, dass solche Fallwerte ja auch für „Verdünner“ gezahlt würden, also für Patienten, die wegen eines minimalen Problems in die Praxis kommen und schnell behandelt sind. Doch in einer alternden Gesellschaft mit immer mehr multimorbiden Menschen und einer zunehmenden Verlagerung stationärer Leistungen in den ambulanten Bereich werden „Verdünner“ selten und der Behandlungsaufwand immer größer – eine Entwicklung, die ambulant wie stationär tätige Kollegen betrifft. Belegen können wir auch dies allerdings bislang nicht mit validen Daten.

In der Arztpraxis kommt hinzu, dass zum Beispiel die Verordnung von Physiotherapie budgetiert ist. Wer hier die Durchschnittswerte seiner Fallgruppe überschreitet oder gar auf dem Rezept die sich ständig ändernde Zuordnung der Kodierungen nicht ganz korrekt macht, läuft Gefahr, mit dem eigenen Honorar zu haften. Unbestritten braucht ein Patient nach einer Schulteroperation eine hohe Zahl von Physiotherapieeinheiten. Doch das DRG abrechnende Krankenhaus ist dafür nach der Entlassung nicht mehr zuständig.

Es ist nachvollziehbar, aber gefährlich, wenn konservativ tätige Kolleginnen und Kollegen angesichts von Operationskosten in Höhe von mehreren tausend Euro Honorarprobleme allein im ambulanten Bereich verorten. Unser Fallwert ist so niedrig wie beschrieben. Das den ambulanten Honoraren zugrunde liegende Arzteinkommen wurde seit Jahren nicht mehr angepasst. Investitionszuschläge sind für den EBM nicht vorgesehen. Doch solche berechtigte Kritik verstellt leicht den Blick auf die Zwänge der Kollegen auch im stationären Bereich.

Wir müssen gemeinsam alles daransetzen, die Weiterbildung künftiger Kollegen breit anzulegen. Sie muss stationäre wie ambulante Stationen umfassen und durch kluge Rotationssysteme in der Weiterbildungszeit attraktiv sein. Nur so können konservative Inhalte vermittelt, später angewendet und gegenüber Krankenkassen als sinnvoll behauptet werden. Auch wer später leidenschaftlich gern operiert, muss zuvor eine Vorstellung entwickelt haben, was konservativ tätige Kolleginnen und Kollegen leisten können.

Darüber hinaus müssen wir uns über vermeintliche und echte Honorarungerechtigkeiten austauschen, um zu einer realistischen Meinung, aber auch zu Konsequenzen in der Honorarverteilung zu kommen. Diese können und müssen wir über den Berufsverband ansprechen und gemeinsam Verbesserungen bei den Interessensvertretern (KVen, Kammern) einfordern und mit Kostenträgern verhandeln. Hierbei müssen wir uns zukünftig neben der Verbesserung der klassischen Honorierungssysteme (EBM, GOÄ, BG, DRG) vermehrt auch bei der Ausgestaltung von alternativen Honorierungssystemen (Selektivverträge) einbringen.

Eines ist aber auch klar: Die notwendigen Daten zur Versorgung und zur Honorierung müssen wir selbst erheben oder uns an entsprechenden Analysen beteiligen. Andere werden es nicht tun – oder in einer Weise, die unser Fach nicht widerspiegelt.

Dr. Johannes Flechtenmacher

Präsident des Berufsverbandes für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU) e. V.