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Überlastete Ärzte "Es muss erst jemand sterben, bevor sich das System ändert"

Viele Ärzte klagen über ein zu hohes Arbeitspensum. Dennoch schreiben sie ihre Überstunden kaum auf und gehen selten streiken. Dahinter steckt System.
Mediziner in Baden-Württemberg (Archivfoto)

Mediziner in Baden-Württemberg (Archivfoto)

Foto: Felix K‰stle/ picture alliance / Felix K‰stle/

Eine Wespe hat den Mann in die Zunge gestochen, er bekommt keine Luft mehr. Kathrin Hansen* ist die einzige Ärztin auf Station. Sie muss blitzschnell entscheiden, wie der Patient behandelt werden soll. Hansen legt dem Mann einen venösen Zugang, gibt ihm Medikamente, lässt ihn beatmen. "Wenn in diesem Moment ein zweiter Patient in einer ähnlichen Notlage eingeliefert worden wäre, der hätte das nicht überlebt."

Hansen, die in einem kleinen Krankenhaus in Niedersachsen arbeitet, ist sauer auf das Gesundheitssystem, auf den Sparwahn der Krankenhäuser. Sie leidet unter der ständigen Unterbesetzung, unter den 24-Stunden-Diensten, in denen sie allein für vier Stationen und Dutzende Patienten zuständig ist und in denen sie immer Angst hat, ihr könnte jemand unter den Händen wegsterben.

Nach dem 24-Stunden-Dienst muss sie oft noch weiterarbeiten, Visite machen, schwerkranke Patienten versorgen und Arztbriefe schreiben. Überstunden bekommt sie nicht bezahlt, sondern soll diese abbummeln, aber "weil wir so wenig Leute sind, geht das nicht. Es muss erst jemand sterben, bevor sich das System ändert", sagt sie.

Zu wenige Pausen, zu wenig Personal

Laut einer Online-Umfrage des Hartmannbundes aus dem Jahr 2017 (hier als PDF ) sind viele Ärzte mit ihrer Arbeitssituation unzufrieden. Sie klagen über zu wenige Pausen, zu wenig Personal und die viele Zeit, die für die Dokumentation von Fällen draufgeht. Mehr als ein Drittel der Befragten (35 Prozent) gab an, bis zu zehn Überstunden pro Woche zu leisten. Eine Umfrage des Marburger Bundes von 2017 (hier als PDF ) brachte ähnliche Ergebnisse hervor.

Die Ärzte klagen laut beiden Umfragen auch über den ökonomischen Druck und sprechen von einer Fließbandarbeit in den Krankenhäusern, die sich seit der Einführung von Fallpauschalen vor mehr als 14 Jahren verschärft habe: Pro Behandlung und Aufenthalt bekommt das Krankenhaus Geld - und um rentabel zu bleiben, wird in Kliniken so viel operiert wie möglich.

In den vergangenen zwanzig Jahren stieg die Zahl der Patienten um fast vier Millionen im Jahr. Für ihre Betreuung und für Gespräche mit Angehörigen bleibe demnach nicht genug Zeit - ebenso wenig wie für Weiterbildungen oder die eigene Familie. Das kennt auch Benjamin Döppner, Assistenzarzt der Chirurgie in einem Hamburger Krankenhaus. Es gab Phasen, da war er 25 Stunden am Stück im Einsatz oder nach drei Stunden Schlaf morgens wieder auf Station. Besonders stört ihn dabei, dass das Krankenhaus es offenbar nicht vorsehe, neue Kollegen richtig einzuarbeiten.

Gutmütige Ärzte

"Als ich angefangen habe, war ich nach wenigen Tagen mit schwer kranken Patienten allein auf Station", sagt Döppner. "Die Ärzte werden einfach ins kalte Wasser geworfen. Sie wissen nicht, wann und wie oft die Patienten Medikamente bekommen müssen und hoffen die ganze Zeit, dass sich deren Zustand nicht verschlechtert."

Döppner stört aber auch die permanente Unterbesetzung. "Wenn ein bis zwei Kollegen fehlen, bricht das ganze Kartenhaus zusammen", sagt er. Das Problem sei, dass man alles immer irgendwie hinkriege. Viele Geschäftsführer würden die Gutmütigkeit der Ärzte ausnutzen: "Wenn du nach drei oder vier Überstunden nach Hause gehen willst und dann sagt eine Krankenschwester zu dir, einem Patienten geht es schlecht, dann bleibst du da."

Theodor Uden, Mitglied im Ausschuss der Assistenzärzte beim Hartmannbund, sieht es kritisch, dass vielen Assistenzärzten mit dem Arbeitsvertrag auch eine Erklärung zur Opt-Out-Regelung vorgelegt wird, mit der sie sich verpflichten, im Bedarfsfall ihre Wochenarbeitszeit auszudehnen. "Bei all denen, die nicht unterschreiben, macht der Chefarzt gegebenenfalls Druck und fragt mehrfach nach, warum sie das nicht tun."

Zu wenige Investitionen

Doch viele Überstunden werden überhaupt nicht erfasst, sagt Wenke Wichmann, Assistenzärztin in Dresden und ebenfalls Mitglied im Ausschuss. Es sei nicht einfach, sich als junger Kollege die Überstunden aufschreiben zu lassen, denn der Oberarzt müsse den Stundenzettel abzeichnen.

Klinikchefs argumentieren indes damit, dass sie zu wenige Investitionen von den Ländern bekommen - und das bei immer älter werdenden Patienten und immer teureren Behandlungsmöglichkeiten.

Schon seit Jahren kommen die Bundesländer ihrer Investitionspflicht  nicht mehr nach. Nicht einmal drei Milliarden Euro zahlen sie den Krankenhäusern jährlich, doch weil diese mehr als doppelt so viel bräuchten, wie auch das Bundesgesundheitsministerium feststellte,  müssen sie die fehlende Summe selbst erwirtschaften. Vor allem private Krankenhäuser machen dies auf Kosten ihrer Angestellten. Zuletzt gingen Mitarbeiter der Pflege und Verwaltung von drei Helios-Kliniken in Norddeutschland für sieben Prozent mehr Lohn  auf die Straße.

Der Marburger Bund fordert daher Bund und Länder auf, endlich ausreichend in Krankenhäuser zu investieren. Zudem solle vorgegeben werden, wie viel Personal pro Patient es im Krankenhaus geben muss - wie dies ab 2020 für psychiatrische Einrichtungen der Fall ist.

Digitalisierung könnte Ärzte entlasten

Doch um Ärzte zu entlasten, ist es mit der Einstellung neuer Ärzte nicht getan. Uden und Wichmann vom Hartmannbund hoffen auch auf eine rasche Digitalisierung in den Krankenhäusern. Medikamentenpläne mit QR-Code oder eine elektronische Patientenakte könnten viel Abtippen ersparen und eine effizientere Arbeit vor allem der stationären und ambulanten Behandlung ermöglichen.

Mehr Zeit für ihre eigentliche Arbeit könnten Ärzte auch durch Dokumentationsassistenten gewinnen. In einigen Krankenhäusern würden sie schon eingesetzt, sagt Uden. "Sie können Ärzten Arbeit abnehmen, indem sie Patientenaufnahmen und -entlassungen vorbereiten, Untersuchungen koordinieren und sich um Pflegestufen oder Reha-Plätze kümmern."

Auf vielen Klinikstationen fehlt es am Nötigsten. Zu wenige Pflegekräfte müssen sich um immer mehr Patienten kümmern. Jetzt gibt eine Pflegerin Einblick in ein System, das für alle zur Gefahr wird.

Haben Ärzte das Gefühl, überlastet zu sein, sollten sie schauen, ob es ihren Kollegen genauso gehe, rät Theodor Uden. "Wenn die ganze Abteilung sagt, so kann es nicht weitergehen, müssen die Ärzte mit ihrem Chef reden." Mit ihm sollten sie die Probleme besprechen und konkret nach Wegen suchen, wie sie den Zustand verbessern könnten.

Wenn das nichts bringt, könnten die Mitarbeiter aber auch eine Gefährdungsanzeige schreiben. Hierbei wenden sie sich an die Klinikdirektion, um ihr etwa mitzuteilen, dass durch die ständige Unterbesetzung Menschen in Gefahr seien. Dann ist die Geschäftsführung verpflichtet einzugreifen.

Auch Kathrin Hansen aus Niedersachsen hat das mit Kollegen ihrer Abteilung schon mehrfach getan. Honorarärzte wurden eingestellt und in den nächsten Monaten soll weitere Verstärkung kommen. Die Situation sei insgesamt besser geworden. "Trotzdem bin ich heute wieder nach knapp 30 Stunden Dienst nach Hause gekommen", sagt Hansen.

*Name geändert