Durch fundamentale Änderungen in der internationalen Vernetzung und Digitalisierung haben sich die Anforderungen an medizinische Klassifikationen über die letzten Jahre stark erweitert. Nicht nur die seit mehr als 100 Jahren etablierten Ziele des international vergleichbaren Gruppierens und Standardisierens von erhobenen Daten für Statistik und Epidemiologie spielen eine Rolle. Die Anwendungsfelder für Klassifikationen sind gewachsen und in kaum einem anderen Land so vielfältig wie in Deutschland. Als essenzieller Bestandteil der Dokumentation von Diagnosen im Gesundheitswesen ist die ICD-10 in Abrechnungs‑, Qualitätssicherungs- und anderen Dokumentationssystemen etabliert und nicht mehr wegzudenken. Allerdings stößt die ICD-10 zunehmend inhaltlich und strukturell an ihre Grenzen und dies war auch für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Anlass, die 11. Revision zu starten. Doch was bedeutet das für Deutschland?

Da es sich bei den beschriebenen Klassifikationen um neue noch oder bis vor Kurzem in Entwicklung befindliche Systeme handelt, gibt es auf diesem Gebiet noch wenige Experten und begrenzte praktische Erfahrung. Auch wird nach wie vor die Diskussion zu Chancen und Risiken intensiv geführt. Wir haben, als Koordinatoren des Heftes, eine Auswahl an nationalen (und auch internationalen Experten) um Beiträge zu dem Heft gebeten und bewusst auch nicht die Kontroverse in der Diskussion zur Anwendung der ICD vermieden.

In dem hier vorliegenden Heft werden in den ersten zwei Artikeln die Struktur und der Inhalt der beiden in Entwicklung befindlichen Klassifikationen der WHO beschrieben: Für die ICD ist die 11. Revision nahezu abgeschlossen und es soll nun die Implementierungsphase in den Anwenderländern begonnen werden. Eine weitere neue Klassifikation für Behandlungsprozeduren (ICHI) befindet sich noch im Beta-Draft-Stadium und soll, nach umfangreicher Testung, voraussichtlich ab Ende 2019 zur Anwendung zur Verfügung stehen.

Eine dritte Klassifikation der WHO komplettiert die Familie der internationalen Klassifikationen: die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit). Eine Untersuchung in Deutschland, die im dritten Artikel beschrieben wird, verwendet eine Kurzliste der ICF zur Abbildung der Funktionsfähigkeit der Hand im Verlauf der Behandlung eines Patienten mit Handerkrankungen. So können neben der Kodierung der Diagnose (mittels ICD) und der ggf. durchgeführten Prozedur (mittels ICHI oder einer nationalen Prozedurenklassifikation) auch der Funktionszustand und Krankheitsverlauf des Patienten abgebildet werden. Ist dieses Modell auch auf andere Anwendungsbereiche übertragbar?

Im zweiten Teil des Heftes wird dann betrachtet, welche Chancen und Risiken durch die neuen Klassifikationen für Deutschland entstehen.

Der Artikel von Eckert und Vogel beleuchtet den bereits am längsten bestehenden Anwendungsbereich der ICD: die Todesursachenstatistik. Insbesondere für diesen Bereich ist eine internationale Vergleichbarkeit essenziell. Aus den Erfahrungen mit vergangenen Revisionen konnte man einiges lernen. Wird die Auswirkung eines Umstieges auf die ICD-11 noch größer sein? Und wie kann man die Qualität der erhobenen Daten verbessern?

Im Artikel von Diercke et al. wird der Bereich der Infektionskrankheiten betrachtet. Nicht nur für die Statistik spielt dieser Bereich eine wichtige Rolle, sondern auch für die Krankheitsüberwachung und gesetzliche Regelungen, wie z. B. für das Infektionsschutzgesetz. Hier zeichnet sich ab, dass durch die passgenauere Kodierung von Detailinformationen eine bessere Abbildung mittels ICD-11 möglich ist, aber was bedeutet das für die Statistiken?

Das Zusammenspiel von Klassifikationen und Terminologien wird immer wieder kontrovers diskutiert. Aufgrund der Entwicklung der ICD-11 und der ICHI für die Anwendung im digitalen Umfeld ergeben sich neue Möglichkeiten. Im Artikel von Thun und Dewenter werden die Klassifikationen ICD-11 und ICHI und die internationale Terminologie SNOMED CT betrachtet. Hierbei wird für die Betrachtung der drei Systeme hauptsächlich auf internationale Erfahrungen zurückgegriffen, da alle drei Systeme in Deutschland bisher nur im Rahmen einzelner Studien in Anwendung sind.

Droesler und Kostanjsek analysieren ein Anwendungsfeld der ICD-Kodierung, das in den letzten Jahren immer mehr Bedeutung gewonnen hat: Patientensicherheit und Qualitätssicherung. Im Artikel wird anhand von Beispielen aufgezeigt, welche neuen Möglichkeiten die ICD-11 hierfür vorhält und wie das nötige Detail einfach und konsistent erhoben werden kann.

Letztendlich hängt die Qualität der erhobenen Daten von den Anwendern ab, die die Kodierung vornehmen müssen. Insbesondere bei den Hausärzten mit vielen täglichen Patientenkontakten sollte der dafür benötigte Aufwand so gering wie möglich ausfallen, dabei aber ein bestmögliches Ergebnis erlauben. Im Artikel von Kühlein et al. wird diese Tatsache kritisch beleuchtet und es werden Optionen zur leichteren Nutzung benannt.

Im Revisionsprozess hat die WHO die Anwenderländer zur Testung eines Zwischenstadiums der ICD-11 aufgefordert. Aus Deutschland ist eine Projektgruppe diesem Aufruf gefolgt und hat mit finanzieller Förderung durch das Bundesministerium für Gesundheit strukturierte Validierungsstudien durchgeführt. Staußberg et al. stellen in dem letzten Artikel des Heftes eine Methodik vor, die sich durchaus eignet, auf andere Klassifikationssysteme übertragen zu werden.

Noch befindet sich die ICD-11 am Anfang ihrer Anwendung, die ICHI ist noch in der Entwicklung. Deshalb ist es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar, wie die Auswirkungen eines Umstieges auf eine oder beide Klassifikationen aussehen werden. Eines aber ist klar: Geräuschlos wird ein Umstieg nicht erfolgen und Deutschland muss aufgrund der bestehenden zahlreichen Anwendungsgebiete der ICD-10 mit gründlicher Planung an den Umstieg auf die ICD-11 herangehen. Die WHO hat den Faden der Digitalisierung des Gesundheitswesens mit der ICD-11 aufgegriffen und das Problem der international bisher nicht vergleichbaren Daten zu Prozeduren mit der neuen Klassifikation ICHI adressiert. Mit innovativen Anwendungshilfen, wie dem Kodiertool für die ICD-11, und Konstruktionsmerkmalen, wie Uniform Resource Identifier, die eine elektronische Kommunikation auch international erlauben, sind wichtige Verbesserungen für die ICD-11 etabliert worden, die sich nun in der Praxis beweisen müssen.

Dieses Heft soll Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen ersten Eindruck von den Chancen und Risiken, die mit den neuen Klassifikationen einhergehen, bieten. Wir laden Sie ein, sich mit den neuen internationalen Klassifikationen bereits jetzt auseinanderzusetzen und Ideen und Impulse zur Verbesserung dieser Klassifikationen und deren Anwendung in den Entscheidungsprozess einzubringen. Hierfür stehen sowohl in Deutschland beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) als auch bei der WHO Ansprechpartner bereit. Letztendlich sind es die Anwender, die mit den Klassifikationen arbeiten und die vielseitigen Anwendungsfelder bedienen müssen. Nutzen Sie diese Chance.

Mit freundlichen Grüßen

Ihre

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Stefanie Weber

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Robert Jakob