Das soziale Netzwerk pflegt mit – Seite 1

Andreas Klein dachte schon daran, aufzugeben. "Ich wollte nicht mehr zuschauen, wie wir hier jeden Tag vor die Wand laufen, die Dienstpläne nicht mehr besetzen können und die Mitarbeiter krank werden", sagt er. Der 54-Jährige leitet den Düsseldorfer Pflegedienst CareTeam mit rund 80 Angestellten. Das Problem nach über 20 Jahren Arbeit in der Pflege: Gutes Personal zu finden und zu halten, wird immer schwieriger. Kündigte eine Mitarbeiterin, fand er lange kaum Ersatz. "Es war so frustrierend, wenn sich auf die x-te Stellenanzeige kein einziger beworben hat", sagt er.

Verschärft wurde die Situation durch den gestiegenen bürokratischen Aufwand: Statt ihre Arbeitszeit ganz der Versorgung der Pflegebedürftigen zu widmen, müssen Pflegekräfte einen wachsenden Teil ihrer Zeit mit der Dokumentation ihrer Arbeit verbringen. Irgendwann wurde der Personalmangel für Kleins Unternehmen existenziell. 

Laut Bundesagentur für Arbeit sind in der Kranken- und Altenpflege derzeit rund 36.000 Stellen unbesetzt. Bis 2030 könnten es nach Berechnung der Bertelsmannstiftung sogar eine halbe Million sein. Zugleich wird die Zahl der Pflegebedürftigen wegen des demografischen Wandels weiter steigen.

Die ambulante Pflege gehört zu den am stärksten wachsenden Märkten in Deutschland, denn die allermeisten Deutschen wollen Umfragen zufolge im Alter zu Hause gepflegt werden. Schon heute werden mehr als zwei Drittel der rund drei Millionen Pflegebedürftigen in häuslicher Umgebung versorgt. Um ein Drittel kümmern sich ausschließlich die Angehörigen. Weitere 700.000 Pflegebedürftige werden zusätzlich von ambulanten Pflegediensten versorgt.

In der ambulanten Pflege herrscht starke Konkurrenz

Lange Zeit war die ambulante Pflege ein einträgliches Geschäft. Mit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 wurden ambulante Pflegedienste für private Betreiber wirtschaftlich interessant. Seither stieg ihre Zahl stark. Heute gibt es bundesweit knapp 13.400 ambulante Dienste. Ein knappes Drittel gehört zu freigemeinnützigen Trägern, also Kirchen oder Wohlfahrtsverbänden. Gerade mal ein Prozent hat einen kommunalen Träger. Die meisten ambulanten Dienste – gut zwei Drittel –  werden durch private Unternehmen betrieben, zeigt die Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes. Und diese Firmen machen sich gegenseitig gehörig Konkurrenz. Zugleich sind die Zahlungen aus der Pflegeversicherung seit Jahren gedeckelt.

Geld gibt es vor allem von den klammen Pflegekassen, die für Pflegeleistungen der Versicherten – je nach Pflegegrad – aufkommen. Um profitabel zu sein, müsse man also möglichst viele Leistungen in möglichst kurzer Zeit erbringen, sagt Andreas Klein. Um den Gewinn zu maximieren, sparen viele Pflegedienste deshalb bei den Personalkosten. Und so fördert das System eher Quantität statt Qualität.

Doch es könnte anders sein, wie der Blick in die Niederlande zeigt. Auch dort gibt es eine Pflegeversicherung, in die alle Arbeitnehmer und Selbständige einzahlen. Anders als in Deutschland ist das Pflegesystem in den Niederlanden nicht so stark kommerzialisiert. Und es ist innovativer, neue Konzepte haben es in den Niederlanden leichter. Das zeigt das Beispiel von Jos de Blok, einem Krankenpfleger aus Enschede, der im Jahr 2007 den Pflegedienst Buurtzorg ("Nachbarschaftshilfe") als Sozialunternehmen gründete. Buurtzorg ist heute eines der größten Pflegedienste in den Niederlanden.

De Blok störte es, dass sich auch in den Niederlanden um einen Pflegebedürftigen oft viele verschiedene Pflegekräfte kümmerten und jede dabei eine andere Aufgabe erledigte. Das war einerseits Ressourcenverschwendung und andererseits frustrierend für die Pflegebedürftigen und Pflegekräfte gleichermaßen. Der Krankenpfleger wollte Pflege effizienter, aber auch menschlicher machen und erinnerte sich an das Konzept der Gemeindeschwester.

Gemeindeschwestern waren in der Regel Krankenschwestern, die eine Lücke in der ambulanten Versorgung vor allem auf dem Land füllten. Sie arbeiteten weitgehend selbstverantwortlich, waren aber eingebunden in ein enges Netzwerk, zu dem in der Regel der Apotheker, der Hausarzt, aber auch Nachbarn und Angehörige der Kranken und Pflegebedürftigen gehörten. Seit Anfang der fünfziger Jahre stellten Gemeindeschwestern so die Patientenversorgung in entlegenen Gebieten sicher. 

Buurtzorg zeigt: Pflegekräfte können selbstbestimmt arbeiten

Nach diesem Ansatz arbeitet heute auch Buurtzorg. Und das funktioniert so: Teams von maximal zwölf Fachkräften organisieren in einer begrenzten Nachbarschaft fast alles selbstständig. Ähnlich wie etwa bei Hebammen übernehmen sie die ambulante Pflege von Kranken und Alten weitgehend eigenverantwortlich. Das heißt, es gibt keine Pflegedienstleitung, sondern die Fachkräfte planen ihre täglichen Touren selbst. Gibt es in einer Gemeinde oder Region zu viele Aufträge, können sie auch neue Pflegekräfte einstellen.

Maximal zwei Pflegekräfte pro Patient

Ziel der Pflege ist dabei stets, die Mobilität und Eigenständigkeit der Menschen weitgehend zu bewahren oder sogar zurückzugewinnen. Eingebunden wird auch, sofern vorhanden und machbar, das soziale Umfeld des Betroffenen. Vielleicht gibt es eine Nachbarin, die regelmäßig nach dem Rechten sehen kann, beim Einkaufen helfen möchte oder eine alleinstehende alte Frau zum Arzt mitnehmen kann? De Blok sagt, Vertrauen sei bei seinem Ansatz das Wichtigste. 

Pro Pflegestunde macht die Firma zwei Euro Gewinn, weniger als bei Andreas Kleins Pflegedienst. Als Non-Profit-Pflegedienst darf Buurtzorg zwar Gewinn erwirtschaften, muss ihn aber vollständig in das Unternehmen reinvestieren. "Bei sechs Millionen geleisteten Pflegestunden im Jahr sind das etwa zwölf Millionen Euro; da kommt schon was zusammen", sagt de Blok.

Das Geld wird beispielsweise in neue Technik investiert. Denn auch in den Niederlanden gehört die Dokumentation zur Pflege mit dazu. Bei Buurtzorg nutzen die Beschäftigten dafür iPads. Über die Tablets sind sie miteinander vernetzt, können fachliche Fragen besprechen oder tragen über die Geräte ihre Pflegepläne ein. Dadurch habe der Pflegedienst die Bürokratie auf ein Mindestmaß reduziert, sagt de Blok.

Die Vernetzung ist für die Mitarbeiter von Buurtzorg wichtig, weil das Unternehmen dezentral arbeitet: Nur 45 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in der Zentrale in Enschede tätig, weitere über 10.000 Beschäftigte sind lokal vor Ort in den Nachbarschaften im Einsatz – verteilt über die ganzen Niederlande.     

Jos de Blok konnte innerhalb weniger Jahre Politiker und Gesundheitskassen überzeugen. Umfragen zeigen, dass Mitarbeiter und Pflegebedürftige zufriedener sind als bei konventionellen Pflegediensten – und im Vergleich mit diesen hat der soziale Pflegedienst um 30 Prozent niedrigere Kosten. Inzwischen wurde Buurtzorg mehrmals zum attraktivsten Arbeitgeber des Landes gewählt. Großbritannien, Schweden, Japan, China und die USA erproben das Modell.

Ganz billig ist der Ansatz von Buurtzorg freilich auch nicht. Eine Pflegestunde kostet 60 Euro. "Das klingt zwar teuer. Aber wenn man die verschiedenen Leistungen zu einer einzigen zusammenfasst und sich gleichzeitig auf Hilfe zur Selbsthilfe konzentriert, brauchen Pflegebedürftige insgesamt viel weniger Stunden Hilfe", sagt de Blok. Zum Vergleich: CareTeam in Düsseldorf kalkuliert mit Stundensätzen von 30 bis 40 Euro je nach Qualifikation der Pflegekraft.

Buurtzorg kommt nach Deutschland

Der Ansatz könnte auch für Deutschland interessant sein. Andreas Klein hat seinen ambulanten Dienst nach dem Vorbild des niederländischen Konzepts umstrukturiert. Inzwischen hat er seinen Pflegedienst entbürokratisiert, die Pflegedienstleitung ganz abgeschafft. "Die kostet normalerweise zwischen 4.000 und 4.500 Euro brutto. Dieses Geld kann ich jetzt auf alle Mitarbeiter verteilen und so höhere Gehälter zahlen." Das macht seinen Dienst als Arbeitgeber attraktiver – und so findet Klein wieder leichter Personal.

Seine Pflegeteams organisieren sich weitestgehend selbst und erledigen die administrativen Aufgaben mit Hilfe von Tablets. CareTeam habe so den Anteil der Verwaltungskosten auf unter 15 Prozent gesenkt, sagt Klein. Außerdem setzt CareTeam in allen Stadtteilen in Düsseldorf Quartierpflegeteams ein und knüpft Netzwerke mit Ehrenamtlichen.

Andreas Klein gehört damit zu einer kleinen, aber wachsenden Bewegung von Pflegeunternehmern in Deutschland, die einen Systemwechsel wollen. Auch in Berlin, Frankfurt und im Schwarzwald gibt es Initiativen, die sich am Buurtzorg-Modell orientieren. Das größte Hindernis liegt im deutschen Abrechnungssystem. Hierzulande müssen ambulante Pflegedienste mit den Gesundheitskassen nach Leistungskomplexen abrechnen. Ganzwaschung, Teilwaschung, Hilfe bei der Nahrungsaufnahme: Alles muss extra abgerechnet werden.

Anders sieht das im nordrhein-westfälischen Emsdetten aus. Dort sind zwei private Pflegedienste von der Regelung ausgenommen. Sie rechnen mit den Gesundheitskassen auf Stundenbasis ab. Die beiden Dienste experimentieren seit einem Jahr mit dem niederländischen Modell. Dafür hat sie der Kommunalverband Euregio und das Netzwerk Gesundheitswirtschaft Münsterland einmalig mit 25.000 Euro bezuschusst. Die Pflegedienste machen zwar noch keinen Gewinn. "Aber die Pflegekräfte sind schon jetzt erfüllter und weniger gestresst", sagt der Projektleiter Udo Janning. Ende des Jahres wollen die Geschäftsführer gemeinsam mit den Pflegekassen und der begleitenden Fachhochschule Osnabrück Zwischenbilanz ziehen.

Eins zu eins wird sich das niederländische Modell nicht anwenden lassen. Dazu sind die rechtlichen Rahmenbedingungen zu unterschiedlich. Aber Andreas Klein ist optimistisch, was die Zukunft angeht: "Während andere reden, machen wir einfach", sagt er.