Klinikum Essen:"Wir wollen keinen Arzt und keine Pflegekraft wegrationalisieren"

3D-Mapping in der Kardiologie

3-D-Bilder zeigen den Operateuren an, welche Stellen am Herzmuskel sie veröden müssen. Die Daten dafür werden mit einem Katheter erfasst und am Computer in Bilder umgerechnet.

(Foto: Klinikum Essen)
  • Bei vielen Aufgaben können Computerprogramme Ärzte unterstützen.
  • Sie erstellen etwa ein 3D-Modell des Herzens oder identifizieren Zellen.
  • Die Digitalisierung der Medizin soll auch Pflegern mehr Zeit geben, damit sie sich um Patienten kümmern können.
  • Ein Knackpunkt bleibt der Schutz sensibler Patientendaten.

Von Benedikt Müller, Essen

Wenn Jugendliche ohne Pass nach Deutschland flüchten, fragen die Ämter zuweilen: Ist die Person wirklich so jung, wie sie sagt? Im Zweifelsfall lassen Radiologen die Hände röntgen - und vergleichen die Aufnahme mit Bildern verschiedener Altersklassen.

Die Strahlenmediziner der Uniklinik Essen lassen sich dabei neuerdings von künstlicher Intelligenz helfen: "Unser Algorithmus 'Bone Age' ermittelt das Alter mindestens so präzise wie ein durchschnittlicher Radiologe", sagt Michael Forsting, Leiter der Radiologie. Und: Der Computer braucht dafür nur einen Augenblick, ein Arzt mehrere Minuten.

Seit wenigen Jahren arbeitet die Uniklinik mit künstlicher Intelligenz: Wenn es bei der Krebsvorsorge darum geht, aus Hunderten Röntgenbildern die wenigen auffälligen zu identifizieren, setzen die Strahlenmediziner einen Algorithmus ein. Er sortiert in einem ersten Schritt harmlose Fälle aus. Sein Vorteil: Er wird nie müde, auch nach dem hundertsten Bild nicht. "Wenn wir Algorithmen einsetzen, geht es uns nicht darum, den Radiologen zu ersetzen", sagt Professor Forsting. "Sondern darum, die Radiologie besser zu machen."

Beispielsweise hat seine Abteilung einen Algorithmus auf seltene Lungenerkrankungen trainiert, die ein Arzt in seinem ganzen Leben nur wenige Male sieht. Wenn der Mediziner mit seiner Diagnostik nicht weiterkommt, macht der Rechner Vorschläge, welche seltene Erkrankung vorliegen könnte.

Die Universitätsmedizin Essen, die bedeutendste Gesundheitseinrichtung des Ruhrgebiets, sieht sich auf dem Weg zum Smart Hospital - einem digitalisierten, effizienten Krankenhaus. "Die Kliniken haben in den vergangenen Jahren viele Prozesse standardisiert und zertifizieren lassen", sagt Direktor Jochen Werner. "Jetzt können wir viele dieser Prozesse digitalisieren." Darin sieht der Professor eine Chance, Unterschiede zwischen Kassen- und Privatpatienten auszugleichen. "Intelligente Unterstützungssysteme können uns helfen, alle Patienten gleich schnell und gleich gut zu behandeln."

Die Familie wartet bangend auf den Anruf

Werner hat digitale Vordenker unter seinen gut 8000 Beschäftigten identifiziert und knapp 40 smarte Projekte begonnen. "Das ist allerdings ein großes Stück Arbeit." Der Klinikchef muss Datenschutzbedenken begegnen - und dem Vorwurf, er wolle mit all der Digitalisierung doch nur Personal und Kosten sparen.

Auch in Zukunft würden Menschen von Menschen behandelt, hält Werner dagegen: "Wir wollen keinen Arzt und keine Pflegekraft wegrationalisieren." Selbst wenn Computer künftig auf Basis von Befunddaten und Literatur einen Vorschlag machten, werde der behandelnde Arzt noch immer eine personalisierte Entscheidung treffen. Und: "Wenn digitale Hilfsmittel künftig zum Beispiel das Vereinbaren von Terminen übernehmen, werden auch Pflegekräfte wieder mehr Zeit für die Arbeit am Patienten haben."

Werner erzählt ein Erlebnis aus der Jugend, als bei seiner Mutter ein Halstumor entdeckt wurde. Bangend habe die Familie damals auf den Anruf gewartet, wann der Tumor operiert werden könnte. Am Tag selbst habe die Familie lange auf den Arzt gewartet - bis der Eingriff dann doch verschoben wurde. Und als die Mutter nach der OP in die Praxis ihres Hals-Nasen-Ohrenarztes zurückkehrte, hatte der keine Ahnung, wie der Eingriff verlaufen war.

"Die Versorgung der Patienten ist nicht viel schneller geworden"

"Dieses Erlebnis könnte heute, 40 Jahre später, noch genauso geschehen", sagt der Professor. "Trotz aller Bemühungen ist die Versorgung der Patienten nicht viel schneller geworden." Niedergelassene Ärzte kritisierten noch immer, dass die Kollegen in der Uniklinik nicht gut erreichbar seien.

Digital soll das nun besser werden. In diesem Jahr will die Uniklinik eine elektronische Patientenakte einführen. Alle Abteilungen können dann etwa die Röntgenbilder eines Patienten digital abrufen. Wenn Krankenkassen oder niedergelassene Ärzte Fragen stellen, will die Klinik jeden Therapieschritt digital nachvollziehen können. Für die Ärzte und Pfleger bedeutet dies freilich, dass sie etwa jedes einzelne Medikament, das sie verabreichen, elektronisch dokumentieren müssen.

Zudem baut die Klinik ein Telefonzentrum auf, in dem Patienten, Angehörige und Praxen zunächst mit einem Mitarbeiter sprechen sollen, der zwar kein Arzt ist, aber erste Informationen geben kann. Und gemeinsam mit etwa 300 Praxen und anderen Krankenhäusern knüpft Essen ein Radiologienetzwerk, um etwa Röntgenbilder digital austauschen zu können.

Dass Digitalisierung auch die Therapiemöglichkeiten erweitern kann, zeigt ein Besuch in der Herzklinik der Universitätsmedizin. Dort wird gerade ein Patient mit Vorhofflimmern operiert. Diese Rhythmusstörung geht von einzelnen Herzzellen aus, die sich abnorm verhalten. Die Kardiologen setzen nun einen Katheter mit Sensoren ein, der die Ströme an bis zu 20 000 winzigen Stellen im Vorhof messen kann. Ein Hochleistungscomputer fügt die Werte in Echtzeit zu einem 3-D-Bild zusammen. So kann der Kardiologe millimetergenau jene Zellen veröden, von denen die Rhythmusstörung ausgeht; er muss nicht mehr großflächig Herzzellen opfern.

"Dank digitaler Hilfsmittel wie dem 3-D-Mapping können wir mittlerweile Eingriffe am Herzen durchführen, die uns vor wenigen Jahren in der Form nicht möglich gewesen wären", sagt Tienush Rassaf, Leiter der Kardiologie. Die Klinik behandelt jährlich etwa 200 Patienten mit der Technik. Bis das Herz vermessen ist, können bis zu 40 Minuten vergehen. Dann analysieren die Ärzte im Nebenraum am Computer, welche Zellen das Flimmern verursachen. Danach wird verödet, punktgenau.

Immer mehr Patienten überwachen ihren Blutdruck oder Puls

Allein die Kardiologie hat in den vergangenen Jahren einen zweistelligen Millionenbetrag in neue Techniken investiert. Sie ist, wie die gesamte Universitätsmedizin für ihr smartes Krankenhaus, auf Forschungsfördermittel angewiesen. Die Herzklinik profitiert aber auch davon, dass immer mehr Patienten ihren Blutdruck oder Puls überwachen, weil sie sich etwa smarte Armbanduhren kaufen und entsprechende Apps installieren. "Darin liegt die Chance, dass wir Rhythmusstörungen künftig früher erkennen und therapieren können", sagt Professor Rassaf.

Die Vordenker in Essen sind nicht allein. Auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) spricht sich dafür aus, dass hiesige Krankenhäuser zumindest die Arbeit ihrer Notaufnahmen einheitlich dokumentieren und digitalisieren sollten. Noch gingen zu viele Informationen zwischen den Praxen und Kliniken, Leitstellen und Rettungsdiensten verloren, warnt der DIVI.

Sobald der Monitor "Sprung" zeigt, hüpft Ellwanger aus dem Stand hoch

Firmen wie die Deutsche Telekom entwickeln IT-Lösungen für die Gesundheitswirtschaft: medizinische Geräte etwa, die ihren Standort funken. Konkurrent Vodafone hat ein Blutzucker- und Blutdruckmessgerät vorgestellt, das die Daten erfasst und automatisch überträgt. Die Branche setzt darauf, dass es künftig mehr sichere Netze braucht, in denen Ärzte und Patienten Daten austauschen können.

Einem Netzwerk ist auch die Orthopädie der Uniklinik Essen beigetreten. Sie baut derzeit eine Datenbank auf, die den vielen Handballmannschaften der Region zugutekommt. In der verletzungsanfälligen Sportart stellt sich - etwa nach einem Kreuzbandriss - die Frage, wann ein Sportler wieder ins Training einsteigen kann. Das können Ärzte und Trainer bislang nur subjektiv entscheiden.

An einem Nachmittag im Juli steht Jonas Ellwanger vor dem Messsystem der Uniklinik. Der Handballer des Zweitligisten Tusem Essen trägt einen Gürtel mit Sensoren. Sobald der Monitor "Sprung" zeigt, hüpft Ellwanger aus dem Stand hoch, erst mit beiden Beinen, dann mit jedem einzeln. 52,7 Zentimeter Höhe misst der Computer, das entspricht 56 Watt pro Kilogramm. Eintrag ins System.

Wann darf ein verletzter Handballer wieder trainieren?

"Wir wollen die bundesweit größte Datenbank mit objektiven Leistungswerten von Handballspielern aufbauen", sagt Marcus Jäger, Leiter der Orthopädie. Seine Ärzte haben in diesem Jahr schon 300 Handballer vermessen. Neben dem Sprung aus dem Stand gehört auch ein Balanceakt zum Test: Ellwanger steht wie ein Skiläufer mit beiden Beinen auf einem runden Wackelbrett, die Knie gebeugt. Der Handballer muss Brett und Körper möglichst im Gleichgewicht halten. Sensoren messen, wie gut ihm das gelingt. Auf dem Bildschirm sieht der Sportler in Echtzeit, wie schief er mit dem Brett steht.

Die Daten geben den Orthopäden ein objektives Maß, wie leistungsfähig ein gesundes Handballerknie sein sollte. Das macht die Entscheidung einfacher, wann ein verletzter Spieler wieder trainieren darf. "Das System lässt sich, in Zusammenarbeit mit anderen Unikliniken, auch in anderen Sportarten anwenden", sagt Professor Jäger. Wenn die Handballer von der Ruhr zustimmen, fließen ihre Werte anonym in eine größere Datenbank der Universität Innsbruck ein. Es gilt das alte Gesetz der großen Daten: Je mehr Sportler die Ärzte vermessen, desto präziser wird das Bild.

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