Winnenden

Ein Tag im Klinikum Winnenden (1/3)

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Vom täglichen Wahnsinn des Gesundheitssystems und den Leuten, die darin ihr Bestes geben. © Alexander Roth
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Marc Nickel, Geschäftsführer der Rems-Murr-Kliniken, spricht über den "Hamsterradeffekt" der Fallpauschalen.
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Pflege, ein toller Beruf, sagen die Bereichsleiterinnen Martina Syrbe (links) und Silke Wolf - aber manchmal stoßen sie an Grenzen.

Winnenden. Das Winnender Klinikum ist erfolgreich: die Bettenauslastung fulminant, die Medizin hervorragend. Vor allem das Pflegepersonal aber ächzt. Die Arbeit in einem Krankenhaus heute ist täglich ein Kampf gegen die Überlastung. Warum? Eine Spurensuche.

Diese Geschichte spielt in Winnenden, aber sie handelt von Deutschland: von den Nöten, die aufgären, wenn die Politik etwas unbezahlbar Wertvolles – Gesundheit – einer Geldlogik unterwirft, einem Wirtschaftlichkeitsdiktat; von einer Vergütungsordnung, die einen scharfen Blick für Knochen, Organe und Gelenke hat, aber kaum einen für den ganzen Menschen; vom Profitablen in dieser Ordnung der „Fallpauschalen“ – Operationen, Behandlungen, Apparate – und vom Unprofitablen – Zuwendung, Nähe, Zeit; von der Leidenschaft derer, die es sich zur Berufung gemacht haben, andere zu pflegen; und von ihrer Frustration, wenn sie den eigenen ethischen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden können. Die Geschichte handelt, kurzum, vom Wahnsinn des Systems und von den Leuten, die darin ihr Bestes geben.

Wir besuchen drei Stationen des Klinikums: Allgemeine Innere, Notaufnahme, Geriatrie. Zunächst aber: etwas Theorie.

Der "Hamsterradeffekt" der Fallpauschale

Früher mal blieb, vereinfacht gesagt, ein Patient so lange im Krankenhaus, wie der Arzt es für sinnvoll hielt, und das Krankenhaus bekam von der Kasse so viel Geld, wie es dafür brauchte. Natürlich barg diese Logik Tücken: Gab es gerade zu viele leere Betten, war es verführerisch, auch jemanden, der vielleicht schon nach Hause gehen konnte, noch dazubehalten. Die Politik nennt so etwas Fehlanreiz.

2004 wurde das DRG-System eingeführt; Diagnosis Related Groups, diagnosebezogene Fallgruppen, kurz: Fallpauschalen. Jeder Diagnose – vom Hüftschaden, der eine OP nötig macht, bis zum Tumor, der bestrahlt werden muss – ist ein fester Vergütungssatz zugewiesen, egal, wie lange der Patient dableibt.

Im Jahr 2000 betrug die durchschnittliche Liegezeit im Krankenhaus nach einer Hüft-OP 15 Tage. Heute: sieben. Das hat natürlich mit den enormen Fortschritten der Medizin zu tun, ist aber nur die Hälfte der Wahrheit. Die andere: Das Fallpauschalensystem, sagt Marc Nickel, Leiter der Rems-Murr-Kliniken, habe einen „Hamsterradeffekt“ ausgelöst. Wer wirtschaftlich sein will, muss möglichst viele Patienten möglichst schnell durchschleusen.

Was sich lohnt und was nicht

Deckt sich das, was wir für einen Patienten aufwenden, mit dem, was wir für den Patienten bekommen? Bei einem jungen Mann mit Meniskusschaden nach Sportunfall fällt die Bilanz im Zweifel glänzend aus – ein klar umrissenes Problem, beherrschbar, rentabel. Orthopädie, Kardiologie, Endoprothetik, Gefäß- und Unfallchirurgie? Lohnend. Knie und Hüfte? Profitabel. „Intervention und Operation“? Fein.

Aber was, wenn ein Mensch eingeliefert wird mit der Akutdiagnose Lungenentzündung – und die Genesung zieht sich, weil der Patient mehrere andere chronische Probleme mitbringt, Diabetes, Übergewicht, Herzschwäche? Zu operieren gibt es da nichts; aber viel zu pflegen. Und nun „verbrennt mir die Zeit“, sagt Nickel: Die Fallpauschale ist aufgebraucht, die Pauschalfalle schnappt zu, „wir zahlen drauf“ – je länger der Kranke dableibt, desto röter färben sich die Zahlen.

Na und, ließe sich einwenden, nehmen wir das eben in Kauf, leisten wir uns einfach Jahr für Jahr ein Minus im laufenden Betrieb. Nur: So ein Krankenhaus steht vom ersten Tag an knietief im Defizit beziehungsweise im Winnender Fall: vor einem Multimillionen-Schuldenberg. Denn die Baukosten übernimmt das Land nur zur Hälfte. Das erhöht brutal den Wirtschaftlichkeitsdruck im Alltagsgeschäft. Das Hamsterrad rattert.

Zeit verbrennt: Die Allgemeine Innere

Krankenschwester? „Ein Super-Job“, sagte Martina Syrbe, Bereichsleiterin Pflege. Das heißt nein, kein Job; „eine Berufung“: Menschen helfen, sei es „ein Professor“, sei es „ein Obdachloser“! Der Chirurg begutachtet den Knochen, die Schwester sieht den Menschen, „das gefällt mir“.

Aber manchmal stoßen sie an Grenzen.

Eine Patientin wacht in der Nacht auf und friert; zieht eine Jacke über und fröstelt immer noch. Also klingelt sie. Eine Schwester kommt, die Patientin fragt: Kann ich eine dickere Bettdecke haben? Die Schwester: Das ist doch kein Notfall! Ich bin die einzige Nachtwache hier, ich hab keine Zeit! Derlei sollte nicht geschehen, und in der Regel geschieht es auch nicht. Manchmal aber doch. Ein Überlastungssymptom.

Das System ächzt in seinen Fugen

Auf der Allgemeinen Inneren kümmern sich tagsüber zwei examinierte Fachkräfte mit günstigstenfalls zwei Helfern um 34 Patienten; nachts ist eine Schwester allein. In den Inneren Abteilungen landauf, landab ächzt das System in seinen Fugen, es ist überall dasselbe. Die Patienten hier sind oft alt und „multimorbide“, wie es im Fachjargon heißt; um die akute Hauptdiagnose lagern sich chronische Erkrankungen.

Die Fallpauschalen, sagt Syrbes Kollegin Silke Wolf, sind ein „Riesenproblem“ – und auf der Allgemeinen Inneren oft schlicht nicht auskömmlich. Ein Dementer entwickelt in seiner Verwirrung „Weglauftendenzen, du musst aufpassen, dass er dir nicht abhaut – das zahlt dir keine Krankenkasse. Und was soll ich der Kasse aufschreiben, wenn ich eine halbe Stunde einem Sterbenden die Hand halte?“

Lesen Sie hier den zweiten Teil unserer Fortsetzungsgeschichte.