S 4 KR 172/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 4 KR 172/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Als Hauptdiagnose zur DRG-Bestimmung kommt jede stationär behandlungsbedürftige Erkrankung in Betracht, die im Zeitpunkt der Aufnahme in der Person des Versicherten in das Krankenhaus vorliegt. Es kommt nicht darauf an, ob sie bereits bekannt oder ärztlicherseits diagnostiziert war.

2. Kommen insofern mehrere Diagnosen als Hauptdiagnose in Betracht, ist diejenige auszuwählen, die für die durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht überwiegend ursächlich war und die insoweit dem Aufenthalt bei einer Gesamtbetrachtung das wesentliche Gepräge verliehen hat.
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.862,83 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über den Basiszinssatz seit dem 22.06.2016 zu zahlen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe der Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung. Die Klägerin behandelte in dem von ihr betriebenen Medizinischen Zentrum A. die bei der Beklagten krankenversicherte und im Zeitpunkt der Aufnahme 84 Jahre alte D. (im Folgenden nur: Versicherte) in der Zeit vom 15. August bis 28. September 2015 im Rahmen eines stationären Aufenthalts. Mit Datum vom 4. November 2015 stellte sie der Beklagten für diese Behandlung auf der Basis der DRG G02B einen Gesamtbetrag von 15.683,71 EUR in Rechnung. Die Beklagte glich den Rechnungsbetrag zunächst aus, verrechnete aber am 21. Mai 2016 einen Teilbetrag in Höhe der hiesigen Klageforderung mit einer anderen Vergütungsforderung der Klägerin. Dies basierte auf der Einschätzung des von der Beklagten beauftragten MDK, dass für die Ermittlung der abzurechnenden DRG anstelle der von der Klägerin verschlüsselten Hauptdiagnose C18.6 ICD-10 bösartige Neubildung: Colon descedens die Hauptdiagnose I50.14 ICD-10 Linksherzinsuffizienz mit Beschwerden in Ruhe hätte kodiert werden müssen. Mit Schriftsatz vom 11. Juli 2016, der am selben Tag bei dem Sozialgericht Fulda eingegangen ist, hat die Klägerin Klage erhoben und verfolgt ihr Vergütungsbegehren weiter. Zur Begründung führt sie aus, dass die die Aufnahme der Versicherten wegen zunehmenden Unwohlseins und Dyspnoe erfolgt sei. Wegen einer tastbaren Raumforderung im linken Unterbauch habe man eine Abdomensonographie sowie weitere diagnostische Maßnahmen vorgenommen; letztlich sei ein Tumor im Bereich des Colon descedens mit Leberfiliae festgestellt und operativ behandelt worden. Diese bösartige Neubildung habe bereits bei Aufnahme bestanden, nach der Analyse aus Perspektive bei Beendigung des stationären Aufenthaltes stelle sich diese Diagnose als diejenige dar, die den Aufenthalt maßgeblich beeinflusst habe.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 4.862,83 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22. Juni 2016 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich zunächst auf die gutachterliche Stellungnahme des MDK. Als Hauptdiagnose sei diejenige Diagnose zu kodieren, die den stationären Aufenthalt "veranlasst" habe. Hier sei die Versicherte wegen akuter behandlungsbedürftiger kardialer Dekompensation aufgenommen wurden. Die Tumorerkrankung habe die zur Aufnahme führende Symptomatik nicht bedingt, sie sei erst während des stationären Aufenthalts gesichert worden, könne also den stationären Aufenthalt nicht veranlasst haben.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet; die Klägerin dem Grunde nach nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Anspruch auf die geltend gemachte weitere Vergütung.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Vergütungsanspruchs der Klägerin ist § 109 Abs. 4 S.3 SGB V i. V. m. § 7 S. 1 Nr. 1 KHEntgG sowie der Vertrag über die Bedingungen der Krankenhausbehandlung nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für das Land Hessen. Nach Rechtsprechung des BSG in früheren Jahren entsteht die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit der Inanspruchnahme einer Leistung durch den Versicherten (BSGE 86, 166, 168 = SozR 3-2500 § 112 Nr. 1, BSGE 90, 1, 2 = SozR 3.2500 § 112 Nr. 3). Der Behandlungspflicht der zugelassenen Krankenhäuser i. S. des § 109 Abs. 4 S. 2 SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der nach Maßgabe des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des KHEntgG und der Bundespflegesatzverordnung in der zwischen den Krankenkassen und dem Krankenhausträger abzuschließenden Pflegesatzvereinbarung festgelegt wird. Die Höhe der einem Krankenhaus zustehenden Vergütung wird durch die abzurechnende DRG (Fallpauschale) bestimmt, die wiederum von den zu kodierenden Diagnosen abhängig ist (zu den Einzelheiten s. BSG, SozR 4-2500 § 109 Nr. 11, sowie Urteil v. 25.11.2010 – B 3 KR 4/10 R – juris Rn. 13). Vorliegend steht zentral im Streit, welche Hauptdiagnose für den streitgegenständlichen Aufenthalt zutreffenderweise zu kodieren war. Der hierfür maßgebliche Abschnitt D002f der Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) lautet (Hervorhebungen auch im Original): »Hauptdiagnose Die Hauptdiagnose wird definiert als: "Die Diagnose, die nach Analyse als diejenige festgestellt wurde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich ist.” Der Begriff "nach Analyse” bezeichnet die Evaluation der Befunde am Ende des stationären Aufenthaltes, um diejenige Krankheit festzustellen, die hauptsächlich verantwortlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes war. Die dabei evaluierten Befunde können Informationen enthalten, die aus der medizinischen und pflegerischen Anamnese, einer psychiatrischen Untersuchung, Konsultationen von Spezialisten, einer körperlicher Untersuchung, diagnostischen Tests oder Prozeduren, chirurgischen Eingriffen und pathologischen oder radiologischen Untersuchungen gewonnen wurden. Für die Abrechnung relevante Befunde, die nach der Entlassung eingehen, sind für die Kodierung heranzuziehen. Die nach Analyse festgestellte Hauptdiagnose muss nicht der Aufnahmediagnose oder Einweisungsdiagnose entsprechen.« Hieraus lassen sich zunächst zwei unmittelbare Erkenntnisse gewinnen, nämlich dass einerseits diejenige Diagnose, die zur Einweisung führte oder bei der Aufnahme zunächst als Auslöser für die stationäre Behandlung angesehen wurde, keineswegs zwingend die Hauptdiagnose sein muss; insofern greift das Argument der Beklagten, dass die Versicherte (allein) wegen der kardialen Dekompensation das Krankenhaus der Klägerin aufgesucht habe, (für sich allein) nicht durch. Andererseits kommen nur solche Diagnosen als Hauptdiagnose in Betracht, die im Zeitpunkt der Aufnahme selbst vorlagen und nicht erst später als Krankheiten oder Symptome entstanden sind. Darüber hinaus sind bei der für die HD-Bestimmung notwendigen "Analyse" auch die Untersuchungsbefunde und durchgeführten Therapien zu berücksichtigen. Vorliegend stellt sich die Situation zunächst so dar, dass die Klägerin am 15. August 2015 wegen einer Herzrhythmusstörung bei neu diagnostizierten Vorhofflimmern und Herzinsuffizienz in das klägerische Krankenhaus kam. Irgendwelche onkologischen Bezüge waren in diesem Zeitpunkt nicht bekannt, jedenfalls sind sie nicht aktenkundig. Aufgrund erhöhter Transaminasen und einer tastbaren Raumforderung im linken Unterbauch der Versicherten erfolgte sodann eine Abdomensonographie, die ihrerseits weitere diagnostische Maßnahmen auslöste, welche wiederum letztlich zu einer operativen Behandlung eines dann festgestellten stenosierenden Tumors im Bereich des Colon descedens mit Leberfiliae führte. Zur Bestimmung der Hauptdiagnose ist daher eine Subsumtion unter die DKR erforderlich und eine Entscheidung zu treffen zwischen den Herzbeschwerden als eigentlichem Auslöser dafür, dass die Versicherte in das Krankenhaus der Klägerin ging, und dem sodann alsbald festgestellten Tumor, der (auch) behandelt wurde. Nach Überzeugung der Kammer ist dies zu Gunsten der Tumorerkrankung, also der Diagnose C18.6 ICD-10 bösartige Neubildung: Colon descedens zu entscheiden. Zunächst geht die Kammer davon aus, dass der Tumor auch schon im Zeitpunkt der Aufnahme bestanden hat, auch wenn zuvor ärztlicherseits keine entsprechende Feststellung oder gar Diagnose erkannt worden war. Es ist allgemeinkundig schlicht ausgeschlossen, dass das Karzinom einschließlich seiner Filiae erst nach dem 15. August 2015 entstanden ist. Folglich ist zu bewerten, welche der beiden streitigen Diagnosen "hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich" war. Dabei sind alle gewonnenen Ergebnisse aus Untersuchungen oder Therapien miteinzubeziehen. Dies interpretiert die Kammer dahin, dass ex post zu bewerten ist, was den streitgegenständlichen Krankenhausaufenthalt in seiner konkreten Ausgestaltung, also unter Berücksichtigung der Gesamtheit der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, "hauptsächlich" veranlasst hat. Es ist daher diejenige Diagnose zu bestimmen, die für die durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht überwiegend ursächlich war und die insoweit dem Aufenthalt bei einer Gesamtbetrachtung das wesentliche Gepräge verliehen hat. Dies ist vorliegend das operativ behandelte Karzinom (= C18.6 ICD-10). Denn diesbezüglich gehen aus der Krankenakte deutlich umfangreichere und zeitaufwendigere Untersuchung- und Behandlungsmaßnahmen hervor, als sie für die Herzinsuffizienz der Versicherten erforderlich waren. Gemessen an dem wie vorstehend formulierten Maßstab war daher die Tumorerkrankung hauptsächlich für die Veranlassung des konkreten stationären Aufenthalts verantwortlich. Der Aufenthalt wäre in seiner Ausgestaltung völlig anders verlaufen, wenn es diese Tumorerkrankung nicht gegeben hätte, sondern (lediglich) die Herzerkrankung der Versicherten hätte behandelt werden müssen. Der streitgegenständliche Aufenthalt vom 15. August bis 28. September 2015 war daher entscheidend durch die Behandlung des Karzinoms bestimmt und von den hierfür erforderlichen Behandlungsmaßnahmen strukturiert. Dieses Ergebnis steht im Übrigen auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG, dass im Urteil vom 21. April 2015 (– B 1 KR 9/15 R –, juris Rn. 15) ausgeführt hat: "Hauptdiagnose im Sinne der DKR (2005) D002d als Teil der Allgemeinen Kodierrichtlinien ist die Diagnose, die bei retrospektiver Betrachtung objektiv nach medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis die Aufnahme zur stationären Behandlung erforderlich machte. Es ist für die Bestimmung der Hauptdiagnose ohne Belang, wenn innerhalb eines abrechenbaren Behandlungsfalls nach der Aufnahme ins Krankenhaus weitere Krankheiten oder Beschwerden auftreten die ebenfalls für sich genommen stationäre Behandlung bedingen, selbst wenn die stationäre Behandlungsbedürftigkeit aufgrund der ersten Diagnose wegfällt. Bestehen bei der Aufnahme ins Krankenhaus zwei oder mehrere Krankheiten oder Beschwerden, die jeweils für sich genommen bereits stationärer Behandlung bedurften, kommt es darauf an, welche von ihnen bei retrospektiver Betrachtung objektiv nach medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis hauptsächlich die stationäre Behandlung erforderlich machte. Das ist die Diagnose mit dem größten Ressourcenverbrauch." Hieraus ergibt sich zunächst, dass überhaupt nur dann eine Entscheidung zwischen mehreren Diagnosen als Hauptdiagnose zu treffen ist, wenn schon im Aufnahmezeitpunkt (mindestens) zwei Diagnosen vorliegen, die ihrerseits jede für sich eine stationäre Behandlung bedingen. So war es vorliegend, da sowohl die Herzbeschwerden der Versicherten wie auch (erst recht) der bis zur Aufnahme allerdings unbekannt gebliebene Tumor eine stationäre Behandlung notwendig machten und im Aufnahmezeitpunkt vorlagen. Zugleich hat das BSG an der zitierten Stelle gerade nicht ausgeführt, dass eine Diagnose als Hauptdiagnose (auch) dann ausscheidet, wenn sie erst innerhalb eines stationären Aufenthalts "entdeckt" oder "diagnostiziert" wird. Vielmehr kommen Diagnosen nur dann nicht als Hauptdiagnose in Betracht, wenn sie als solche "nach der Aufnahme ins Krankenhaus ( ) auftreten". Es ist sodann retrospektiv und objektiv zu klären, welche der Diagnosen hauptsächlich die stationäre Behandlung erforderlich gemacht hat, was anhand des diagnosebezogenen Ressourcenverbrauch zu klären sein soll. Auch insoweit bestehen für die Kammer keine Zweifel, dass im Vergleich zur Therapie und weiteren Diagnostik der Herzinsuffizienz der demgegenüber höhere Ressourcenverbrauch durch die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen entstanden ist, die in Bezug auf die bösartige Neubildung im Bereich des Colon descedens vorgenommen worden sind. Dies geht insoweit ohne weiteres aus der Patientendokumentation hervor.

Nach alledem hat die Klägerin zu Recht die Diagnose C18.6 ICD-10 als Hauptdiagnose codiert, was zu abgerechneten DRG G02B führt. Sie kann daher die vollständige Vergütung aus der Rechnung vom 4. November 2015 verlangen, so dass die Beklagte entsprechend dem Klageantrag zur Zahlung des infolge der vorgenommenen Aufrechnung noch offenstehenden Differenzbetrages zu verurteilen ist.

Der Zinsanspruch folgt aus § 10 Abs. 5 des Vertrages über die Bedingungen der Krankenhausbehandlung nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für das Land Hessen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 197a SGG.
Rechtskraft
Aus
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