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nordwest-zeitung

Zeuge Belastet Klinikum Oldenburg „Ach, der Todeshögel ist wieder da“

Karsten Krogmann

Oldenburg - Der Anwalt kam eigens mit dem Flugzeug aus Frankfurt. Im Reihenhaus in Oldenburg-Eversten redete er engagiert auf den ehemaligen Mitarbeiter des Klinikums Oldenburg ein, mittags lud er ihn zum nahen Italiener ein, ein paar Häuser die Straße hinauf. Es gab Lasagne, der Anwalt bezahlte die Rechnung mit seiner goldenen Kreditkarte. „Dann ist er wieder weggeflogen“, erinnert sich Frank Lauxtermann.

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Zurückgelassen hat er eine Botschaft: Lauxtermann möge doch bitte alles, was er in Zukunft zum Fall des Krankenhausmörders Niels Högel sage oder schreibe, vorher mit dem Anwalt absprechen. Frank Lauxtermann gefiel das nicht. Er verzichtete auf den anwaltlichen Beistand, obwohl sein ehemaliger Arbeitgeber, das Klinikum Oldenburg, sämtliche Kosten übernehmen wollte. Schon der Ausflug nach Oldenburg-Eversten im Jahr 2016 soll mit einer vierstelligen Summe zu Buche geschlagen haben.

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So kommt es, dass der Krankenpfleger Lauxtermann, 55 Jahre alt, am Dienstag allein am Zeugentisch in der Oldenburger Weser-Ems-Halle sitzt, weißes Hemd, blaue Jeans, etwas aufgeregt. Und er redet frei.

Lückenhafte Erinnerung

Es ist Tag 8 im Mordprozess gegen den früheren Krankenpfleger Niels Högel. Es geht in diesem Prozess um die Frage, ob Högel schuldig ist am Tod von 100 Patienten, aber heute steht noch eine andere Frage im Raum: Hätte Högel frühzeitig gestoppt werden können? Wer wusste was wann im Klinikum Oldenburg?

Frank Lauxtermann sagt: „Es gab Kollegen, die haben die Zusammenhänge gesehen, mit den Todesfällen, Reanimationen, dem Namen Niels Högel.“

Muss man es betonen, wenn ein Zeuge vor Gericht ohne Rechtsbeistand auftritt? Ja – wenn es um einen (Ex-)Mitarbeiter des Klinikums Oldenburg geht. Bereits zur polizeilichen Vernehmung erschienen Klinikum-Mitarbeiter mit Anwalt, und so ist es jetzt auch vor Gericht.

Zum Beispiel Dr. H., 60 Jahre alt, leitender Oberarzt, zweiter Mann in der Herzchirurgie, in der damals die Pfleger Högel und Lauxtermann arbeiteten: Leicht geduckt hockt er da am Zeugentisch, neben ihm ein Anwalt aus Frankfurt – und offenbart große Erinnerungslücken.

Pfleger Niels Högel? „Kenne ich nur vom Bild her“, sagt der Arzt.

Die berühmte Strichliste von Station 211, die zeigt, dass kein anderer Pfleger so häufig bei Reanimationen und Todesfällen im Dienst war wie der Pfleger Högel? „Ich kenne diese Liste nicht.“

Gespräche über Högel, Reanimationen, erhöhte Kaliumwerte? „Ich habe an keiner einzigen dieser Besprechungen teilgenommen.“

Das sogenannte schwarze Wochenende im September 2001, bei dem es eine zweistellige Zahl an Reanimationen gab und fünf Patienten starben? „So ein Wochenende hat es gegeben, aber ich kann mich nicht konkret erinnern“, sagt Dr. H.

Richter Sebastian Bührmann wundert sich: „All das ist Ihnen als zweitem Mann nicht zugetragen worden?“

„Ja, das ist so“, sagt der Arzt.

Lachen im Saal

Nach manchen Sätzen gibt es Gelächter im Zuschauerbereich. Ein Nebenklagevertreter sagt zu Dr. H.: „Am liebsten würde ich Sie fragen, ob Sie sich nicht erinnern können oder nicht erinnern wollen!“ Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann zischt nach zäher Befragung ihr „Keine weiteren Fragen mehr“ nur noch. Und Richter Bührmann nimmt Dr. H. unter Eid, nach seiner Aussage. „Ich gebe Ihnen jetzt noch einmal Gelegenheit, falls Sie etwas abändern wollen. Nein?“ Alle aufstehen, bitte, Dr. H. muss die rechte Hand heben, schwören.

Meineid wird mit Gefängnis bestraft, die Vereidigung soll sicherlich ein Zeichen sein, an den nächsten Verhandlungstagen sollen noch zahlreiche Ex-Mitarbeiter gehört werden. An diesem Dienstag allerdings nützt das Zeichen noch nichts.

Dr. N., der ebenfalls aussagen soll, erscheint erst gar nicht. „Da werden wir nachhalten“, sagt der Richter.

Stationsleiter Bernd N., ebenfalls mit Anwalt an seiner Seite, macht von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch. Das darf er, weil der 57-Jährige selbst beschuldigt wird, der Vorwurf: Totschlag durch Unterlassen. Bernd N. soll damals die Strichliste auf Station 211 angefertigt haben.

Auf der Liste gibt es einen handschriftlichen Vermerk, er stammt von Bernd N.. Darin ist festgehalten, dass dem Stationsleiter in einem Gespräch mit der Führungsspitze des Hauses ausdrücklich mitgeteilt worden sei, dass die Beweislage auf keinen Fall ausreiche, um die Staatsanwaltschaft zu informieren. Zitat: „Die Gefährdung der Abteilung, ja des gesamten Klinikums ist nicht zu akzeptieren aufgrund von Verdachtsmomenten und vielen Zufällen.“

War also alles nur Zufall?

In den Akten gibt es ein Protokoll über ein Gespräch zwischen Klinikum-Geschäftsführung und Betriebsrat am 26. September 2002. Darin heißt es, man mache Högel den Vorwurf, dass er diese sogenannten Notfälle absichtlich herbeigeführt habe. Der Betriebsrat habe daraufhin gefragt, ob dies auch „versehentlich“ geschehen sein könne. Antwort der Geschäftsführung laut Protokoll: Dies halte sie für nahezu ausgeschlossen.

2001 ging das Klinikum Oldenburg bundesweit durch die Presse, im sogenannten Hygieneskandal waren zwei Patienten gestorben. Wollte man unbedingt eine weitere negative Berichterstattung vermeiden? Oder wusste man tatsächlich zu wenig für den Staatsanwalt?

Dr. H. war leider bei den entsprechenden Besprechungen nicht dabei. Dr. N. fehlt leider vor Gericht. Bernd N. sagt leider nicht aus.

Somit bleibt alles am Zeugen Frank Lauxtermann hängen, buchstäblich allein. Er sagt aus, mehrere Stunden lang, frei. Lauxtermann berichtet, dass zunächst noch von einer „Pechsträhne“ die Rede war. Dass es bereits im Jahr 2000 Sprüche gab wie: „Ach, der Todeshögel ist wieder da.“ (Wenn auch geäußert von einer Kollegin, die bekannt gewesen sei für ihre „Berliner Schnauze“.) Dass spätestens Ende 2001 die „Stimmung kippte“. Dass es Kollegen „schlecht ging“ mit der Situation. Dass sie nach Högels Versetzung in die Anästhesie gesagt hätten: „Jetzt haben sie den in die Anästhesie geschickt, bei all dem, was hier passiert ist! Und die haben denen nichts gesagt in der Anästhesie!“

Mit wehender Haube

Lauxtermann unterscheidet fein zwischen Selbsterlebtem und Gehörtem. Er war bis Ende März 2001 auf der Herzchirurgie beschäftigt. Er habe aber lange in engem Kontakt zu Kollegen gestanden, „und Högel war immer präsent“.

Zum Beispiel nach 2005, als Högel in Delmenhorst auf frischer Tat am Bett eines Patienten ertappt worden war: „Da wurden die wieder geschäftiger im Klinikum.“ Die Pflegedirektorin Oberin habe „mit wehender Haube“ Akten von Station geholt, das habe man ihm berichtet. Er selbst habe sie sagen hören: „Nun sind wir froh, dass wir den los sind, und nun wollen wir darüber nicht mehr reden.“

Die ehemaligen Kollegen hätten ihn damals sogar gebeten, anonym Anzeige zu erstatten. „Ich habe gesagt: Ihr könnt doch auch eine anonyme Anzeige machen, warum soll ich das machen? Aber die hatten wohl Angst, dass es Gerede gibt, dass sie in Verdacht geraten.“ Im Klinikum, so Lauxtermann, habe es eine „Kultur des Wegschauens und Wegduckens“ gegeben.

Es sieht so aus, als gebe es die immer noch: Nach seiner polizeilichen Aussage im Mai 2015 sei der Kontakt zu den ehemaligen Kollegen aus der Herzchirurgie abgerissen, sagt Lauxtermann. Die Freundschaft mit seinem Trauzeugen, ebenfalls Pfleger dort, sei zerbrochen. Fast alle Mitarbeiter des Klinikums hätten ihn bei Facebook gesperrt. Lediglich der Anwalt aus Frankfurt habe ihm noch eine Weihnachtskarte geschrieben, alles Gute fürs neue Jahr.

Es spricht nur einer

Frank Lauxtermann sagt ein bisschen trotzig: „Ich sage das, was ich für richtig halte, und dafür brauche ich keinen Anwalt.“

Als einziger Ex-Kollege Högels, der öffentlich klare Worte spricht, hat es Lauxtermann mittlerweile zu einer gewissen Bekanntheit gebracht, er ist sogar in der Talkshow „Maischberger“ aufgetreten. „Haben Sie für solche Sachen Geld bekommen?“, fragt ihn der Richter.

„Ich habe keinen Pfennig Geld bekommen“, sagt Lauxtermann. „Außer bei Frau Maischberger, da gibt es 500 Euro Aufwandsentschädigung und die Zugfahrt 1. Klasse.“ Zwei Drittel des Geldes habe er an die Opferhilfeorganisation Weißer Ring gespendet, 150 Euro habe er behalten. „Ich hatte nie ein finanzielles Interesse.“

Ihm gehe es um etwas anderes, sagt der Zeuge: Das Thema Högel sei unter den Mitarbeitern des Klinikums so präsent gewesen, „da musste man schon unter Narkose gestanden haben, wenn man das nicht mitbekommen hat“.

Darüber sprechen mag an diesem Tag aber nur einer.

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