Es waren 350 Klagen, die in der ersten Novemberwoche beim Sozialgericht Reutlingen eintrudelten: Krankenkassen klagten massenweise gegen Krankenhäuser. Es ging um Schlaganfallpatienten und eine Vergütungsregelung, die plötzlich anders ausgelegt worden war. Die Krankenkassen forderten Geld zurück, die Streitsummen schwankten zwischen 300 und 70 000 Euro.
„Bis dahin hatten wir eigentlich ein sehr angenehmes Jahr“, sagt Sozialgerichtspräsident Martin Rother beim alljährlichen Pressegespräch. Die November-Klagewelle trieb die Zahl der eingegangenen Klagen dann in die Höhe: 3355 waren es insgesamt. Zum Vergleich: 2017 gingen 3095 Klagen ein, 2016 waren es 3621. 2016 war auch so ein Jahr, in dem sich die Krankenkassen und die Krankenhäuser zofften, sagt der stellvertretende Präsident Holger Grumann:  „Diese Streitigkeiten haben in den vergangenen Jahren zugenommen.“ Vielen Krankenhäusern gehe es schlecht, auch die Krankenkassen kämpfen mehr und mehr um Geld. Solche Verfahren sind oft sehr kompliziert, bestätigt Sozialrichter Raphael Deutscher: „Die gehen stark ins Medizinische.“
Ebenfalls im medizinischen Bereich spielen sich die Klagen auf Schwerbehinderten-Rente ab: ein Bereich, der die Sozialrichter weiter stark beschäftigte (2018: 667 Fälle). Es ist zugleich auch der Bereich, der die längste Bearbeitungszeit erforderte, nämlich durchschnittlich 14,8 Monate. Auch Hartz 4 ist ein Dauerthema. Klassischerweise geht es bei den Fällen um Kosten für Unterkunft, um Heizkosten (altes Haus auf der Alb, muss mehr heizen, Kosten sollen übernommen werden) oder um Familienmietverträge. Es geht um späte Rückforderungen von bereits gezahlten Leistungen – „was die Leute fertig macht, weil sie das Geld natürlich schon ausgegeben haben“, wie Richter Grumann sagt. Trotzdem sind die Hartz 4-Fälle rückgängig, was die Richter mitunter auf die gute Konjunktur zurückführen.
2010, als die Hoch-Zeit dieser Hartz 4-Klagen war, bekamen die Reutlinger Mitarbeiter des Sozialgerichts gar Hilfe von Mitarbeitern des Verwaltungsgerichts Sigmaringen. Jetzt, 2017 und 2018, haben sie sich sozusagen revanchiert: In Sigmaringen versinken die Mitarbeiter nämlich seit zwei Jahren in Arbeit, da viele Asylbewerber die Entscheidung bezüglich ihres Aufenthaltsstatus einklagen – es gibt viel Aktenarbeit zu erledigen. Wobei das mit den Papierakten in Reutlingen ja bald Vergangenheit sein soll: Ende Oktober wird voraussichtlich die elektronische Akte eingeführt, neu eingehende Fälle werden dann nicht mehr auf Papier erfasst.
Übrigens enden 13,75 Prozent der Verhandlungen mit einem Sieg der Kläger. Eine geringe Zahl, das weiß Gerichtspräsident Rother. Das habe aber eine positive Seite (wenn auch nicht für die Kläger): „Es heißt, dass Jobcenter und Co. gut arbeiten.“

Jeder soll sein Recht einklagen können

Die Sozialgerichte arbeiten sehr bürgerfreundlich: Eine Klage kostet den Kläger in der Regel kein Geld, die Aufwendungen werden zum größten Teil aus Steuermitteln finanziert. Der Gedanke dahinter ist, dass nicht die finanzielle Situation eines Menschen ausschlaggebend sein sollte, ob er Unrecht einklagen kann oder nicht, erklärt der Reutlinger Gerichtspräsident Martin Rother. Die Gutachterkosten beim Reutlinger Gericht belaufen sich auf mehr als eine Million Euro im Jahr. Beklagte Versicherungen und Institutionen müssen pro Fall 150 Euro zahlen – egal ob sie Recht oder Unrecht haben. Wer Klagen missbraucht, der muss „Mutwillskosten“ zahlen. kam

25

Prozent der Fälle, die beim Sozialgericht eingehen, werden letztendlich entschieden. Andere werden mit einem Vergleich abgeschlossen oder eine Seite zieht zurück. kam