Ökonomisierung der Medizin

Junge Ärzte fordern andere Arbeitsbedingungen

30:08 Minuten
Eine Chirurgin mit Mundschutz mit einer Spritze am OP Tisch. Neben ihr ein junger Kollege.
Stress im Operationssaal: Für Weiterbildung fehlt Medizinerinnen und Mediziner oft die Zeit. © Imago / Westend61 / Manfred Weis
Von Dorothea Brummerloh · 27.05.2019
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Die Privatisierung und Ökonomisierung des Gesundheitssystems schreitet voran. Mediziner arbeiten nach Checklisten, Finanz- und Zeitvorgaben. Doch die junge Ärztegeneration fordert Veränderungen: mehr Zeit für Patienten und die eigene Lebensgestaltung.
Gerade war noch alles in Ordnung, nun fühlt man sich schlapp, hat Fieber oder Schmerzen und das Gefühl, so geht es nicht mehr.
"Man geht zum Doktor, weil man krank ist, und dann will man, dass der einem auch gleich hilft. Der weiß ja Bescheid. Ich kann mich erinnern, da konnte in der Mittagspause angerufen werden und der Arzt ist aus der Mittagspause in seine Praxis gekommen und hat mein Knie geflickt."
Eine zugegebenermaßen nicht repräsentative Umfrage skizziert ein Arztbild, das Patienten über Jahrzehnte verinnerlicht hatten, das in Landarztpraxen, Polikliniken oder Krankenhäusern praktiziert und auch von den Ärzten selbst lange nicht infrage gestellt wurde.
"Wir haben gearbeitet, solange Arbeit da war. Wir haben nicht unbedingt eine 40- oder 50-Stundenwoche gehabt, sondern wir waren deutlich länger täglich tätig. In der Ärzteordnung gelobe ich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen, nicht meine Arbeitszeit. Das ist eine ganzheitliche Haltung. Die kann ich nicht von 8:30 bis 16:30 Uhr durchführen und danach vergessen."

Abschied vom vertrauten Arztbild

Längst aber streitet vor allem die junge Generation für ein verändertes Selbstbild.
"Wir sind keine Generation Spaß. Wir sind hoch motiviert, uns für die beste ärztliche Versorgung unserer Patientinnen und Patienten einzusetzen. Aber wir sind nicht länger gewillt, dies auf Kosten unserer Gesundheit oder unserer Familien zu leisten."
Im Vorfeld des Ärztetages 2018 starteten Nachwuchsmediziner einen Aufruf, um dem "Weiter so" eine Debatte entgegenzusetzen – über eine bessere Balance zwischen Arbeits- und Privatleben, über die Folgen der Ökonomisierung und über eine bessere Patientenversorgung.

Ärzte als Rad im Getriebe

Der Serienheld in Weiß: allzeit bereit, allwissend, auch bei privaten Patienten-Problemen geduldig zuhörend. Die Schwarzwaldklinik hatte Cornelius Weiß nicht erwartet, als er sich für diesen Beruf entschied, aber:
"Ärztliches Handeln ist auf jeden Fall patientenzentriert und immer individuell. Da ist jemand, der sich mit mir als Mensch beschäftigt, der meine Diagnosen, meine Geschichte, meine sonstigen Medikamente – alle diese Dinge, die mich ganz individuell machen, in einen höheren Rahmen setzt."
Cornelius Weiß ist im vierten Jahr seiner ärztlichen Weiterbildung zum Internisten am Städtischen Klinikum Darmstadt und weiß, dass die Realität für die rund 385.000 Ärzte in Deutschland anders aussieht.
"Für einen Ökonomen, zum Beispiel für eine Krankenhausleitung, macht es auf mich eher den Eindruck, dass ein Arzt eher ein Zahnrad in einem größeren Krankenhausuhrwerk ist, das dafür zuständig ist, Umsatz zu generieren. Das heißt, ein Arzt ist einer, der Prozesse ableistet."
Kommt ein Patient ins Krankenhaus, erklärt der 32-Jährige, reiht sich – rein technisch gesehen – Prozess an Prozess: Diagnostik mit Anamnese, Untersuchungen und Diagnose, Behandlung, Entlassung. Wenn man effizienter arbeiten möchte, müssen diese Einzelprozesse optimiert werden, so wie das bei der Herstellung von Metallteilen in der Autofabrik gang und gäbe sei. Cornelius Weiß sagt:
"Und das ist natürlich für uns Ärzte eine Katastrophe. Und das Problem ist, dass wir uns die ganze Zeit in einem Konflikt befinden zwischen unserem eigentlichen Berufsethos, unsere eigenen Idee von Medizin: nämlich patientenorientiert zu arbeiten- und den ökonomischen Zwängen, die unser Handeln als eine Art Aneinanderreihung von optimierbaren Prozessen sieht. Und aktuell funktioniert das System eigentlich nur aufgrund der Leidenschaft von den Kollegen, die mit ihrem Herzblut und ihrer Hingabe all das kompensieren, was die Ökonomie eigentlich nicht zulässt."

Florian Vollrath ist Assistenzarzt für Chirurgie im sechsten Jahr: "Es ist ja kein Geheimnis, dass wir prinzipiell viel zu wenig Zeit für unsere Patienten haben."
Wirtschaftliche Zwänge, Bürokratie, Vorschriften und vieles andere mehr gehören heute zum Arztberuf dazu, erklärt der 33-Jährige. Aber genau das halte Mediziner von der Patientenversorgung, dem Kümmern, dem Zuhören ab, obwohl das extrem wichtig sei.
"Wenn ich mir die Zeit für die Patienten nehme, mich auf sie einzulassen und sie ausführlich aufzuklären über das Für und Wider einer Behandlung, dann werde ich das hintendran hängen müssen an meinen Arbeitsalltag. Denn die Zeit ist in unseren Abläufen dafür eigentlich nicht vorgesehen."
Die Ökonomie scheint das Heft des Handelns im Krankenhaus übernommen zu haben, konstatiert der Mediziner. Das erinnere ihn an Charlie Chaplins Film "Moderne Zeiten".
"Wir finden uns in Prozessen wieder. Es werden Checklisten, es werden standardisierte Abläufe für alles Mögliche eingerichtet. Natürlich ist es sinnvoll, wenn Prozeduren und Abläufe standardisiert ablaufen, auch im Sinne des Qualitätsmanagements. Das kommt letzten Endes auch dem Patienten zugute. Aber manchmal nimmt es einem doch so ein bisschen den Handlungsspielraum. Das ist schade, weil es natürlich im medizinischen Beruf sehr wichtig ist, denn Patient A ist nicht wie Patient B und was für A richtig ist kann für B falsch sein. Und das kann in diesen Abläufen manchmal nicht ausreichend abgebildet werden."
Der ärztliche Berufsstand darf nicht durch pure Ökonomisierung zerschlagen werden. Sonst wird aus dem Traumberuf Arzt ein Albtraumberuf, warnte bereits 2002 der damalige Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe. 17 Jahre später ist die Ökonomisierung des Arztberufes weiter vorangeschritten. Heute sind Kliniken straff organisierte Wirtschaftsbetriebe, die sich Stillstand nicht mehr leisten können. Seit 2003 wird nach Fallpauschalen, sogenannten Diagnosis Related Groups, kurz DRGs abgerechnet. Nur wer minutiös aufschreibt, was er am Patienten gemacht hat, gut im "codieren" sei, verdiene Geld.*
Eine Frau stützt ihren Kopf auf ihre Hand. Vor ihr eine freundliche Ärztin die sich Notizen macht. 
Für ausführliche Gespräche mit Patienten bleibt den Ärzten meist kaum mehr Zeit.© picture alliance / Helmut Fohringer

Welche Medizin kann sich unsere Gesellschaft leisten?

Ein sparsames, wirtschaftliches Verhalten kann man Ärzten abverlangen, meint die Präsidentin der Bremer Ärztekammer, Heidrun Gitter.
"Die Gesellschaft hat begrenzte Ressourcen und es ist Aufgabe der Gesellschaft über Parlamente, Politik zu bestimmen, wie sollen die verteilt werden. Und dann muss man mit diesen begrenzten Ressourcen vernünftig umgehen, damit die Ressourcen denjenigen zugutekommen, die sie brauchen."
Was die Kinderchirurgin allerdings nicht verstehen kann, ist, dass die Politik zulässt, dass zunehmend Leute an der Versorgung beteiligt sind, die Gewinn anstreben. Seit 20 Jahren zeichnet sich ein Trend ab: Der Anteil der öffentlichen Einrichtungen sinkt und der private Anteil am Gesundheitsmarkt steigt. Die Zahl der Übernahmen von Gesundheitseinrichtungen durch Private-Equity-Gesellschaften erreichte 2017 mit 70 Übernahmen einen Höhepunkt. Und es geht weiter.
Bis August 2018 kauften Investoren aus dem In- und Ausland zum Beispiel 36 Medizinische Versorgungszentren. Das Gesundheitswesen gilt aufgrund der demografischen Entwicklung als Wachstumsmarkt und ist wenig konjunkturanfällig. Das lockt Anleger an, die dem System Geld entziehen, was an andere Stelle fehlt.

Die Zwänge des Abrechnungssystems

Hinzu komme, so die Bremer Ärztekammerpräsidentin, dass das DRG-Abrechnungssystem Fehlanreize setzt. Da Kliniken immer nur einen pauschalen Geldbetrag für einen Fall bekommen- egal, wie lange der Patient da war, werden manche Patienten im Sinne der Gewinnoptimierung zu früh nach Hause geschickt. Das wird nicht nur unter Eingeweihten als "blutige Entlassung" bezeichnet. Oder:
"Es gibt viele Krankenhausinformationssysteme, die haben so ein Ampelsystem eingeführt für die Liegedauer. Wenn der Arzt auf seinen Monitor guckt, hat er immer im Blick, liegt der im Durchschnitt noch so, dass meine Leistung auch vergütet wird? Liegt er drüber oder liegt da drunter? Und er weiß, wenn ich mal irgendwo eine Lücke habe, ich brauche doch noch einmal eine Stelle mehr oder bei den Pflegenden fehlt es, wenn ich dann in dem besseren Bereich bin, dann habe ich Geld über für diese Geschichten. Das ist eine subtile Manipulation von Leuten, es ist eine subtile Veränderung des Denkens."
Das gilt auch für Verträge mit Chefärzten, die Zielvereinbarungen enthalten, zum Beispiel den Einsatz einer bestimmten Zahl an künstlichen Hüftgelenken. Erreicht die Abteilung diese Vorgabe, dann bekommt der Chefarzt einen Bonus. Obwohl die Deutsche Krankenhausgesellschaft empfiehlt, solche Zielvereinbarungen nicht abzuschließen, gibt es sie nach wie vor. Die 2013 eingerichtete Koordinierungsstelle der Bundesärztekammer und der Verband der Leitenden Krankenhausärzte Deutschlands prüft das, erklärt Heidrun Gitter.
"Gesetzlich ist eigentlich nicht vorgesehen, dass Zielvereinbarungen getroffen werden. Wenn man das tut, ist das leider nicht massiv bestraft. Das führt dazu, das offenbar Krankenhausgeschäftsführungen die Sache nicht ernst nehmen, denn wir bekommen immer wieder und immer noch und bis zum heutigen Tage ganz eindeutig rechtswidrige Verträge vorgelegt, die wir auch so bewerten und das veröffentlichen wir auch im deutschen Ärzteblatt."
Wer dagegen verstößt, muss das veröffentlichen – allerdings nur im gesetzlich vorgeschriebenen Qualitätsbericht. Dort muss stehen: "Ja, wir machen das." Ein Witz findet Heidrun Gitter und sieht den Gesetzgeber in der Pflicht, diese unethischen Verträge spürbar und transparent zu sanktionieren.
Auch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sieht die Qualität in der Medizin durch die zunehmende Ökonomisierung bedroht. Beispielsweise weil der zeitliche Aufwand für die Kommunikation mit Patienten derzeit kaum im DRG-System berücksichtigt wird.

Weiterbildung kommt viel zu kurz

Zeit spielt nicht nur bei der Patientenbetreuung eine wichtige Rolle. Zeit braucht es auch für die Weiterbildung der Ärzte, die wiederum in ein paar Jahren ihre Berufsnachfolger anlernen sollen. Weiterbildung ist also wie ein Staffelstab, der von der einen Ärztegeneration zur anderen weitergegeben wird. Doch wie sollen die jungen Ärzte ihr Wissen in einem so arbeitsverdichteten, prozessoptimierten Arbeitsalltag von den Älteren erhalten? Das sei kaum möglich, klagen Ärzte in Weiterbildung, sogenannte Weiterbildungsassistenten, aus allen Fachrichtungen – stellvertretend Andreas Hammerschmidt, fünftes Weiterbildungsjahr, Orthopädie und Unfallchirurgie:
"Wenn Sie eine Operation bei einem jungen Chirurgen, einer jungen Chirurgin anleiten wollen, dann brauchen sie mehr Zeit zum Erklären. Natürlich sind die nicht so routiniert, natürlich sind die nicht so schnell, wie jemand, der das schon 30 Jahre lang macht. Aber dann heißt es immer: Nein, wir müssen das OP-Programm durchgehen. Der OP-Saal darf nicht in den Dienst, weil das ja dann auch mehr Geld kostet, wenn man Leute im Bereitschaftsdienst bezahlen muss. Und dann heißt es, der Weiterbildungsassistent, die Weiterbildungsassistentin darf den Eingriff nicht machen. Weiterbildung ist im ökonomischen Sinne nicht abgebildet. In einem System, wo sie ganz viel Druck haben, fällt immer das, was sie am ehesten einsparen können, hinten runter und das ist in dem Fall die Weiterbildung."

Viele Krankenhäuser arbeiten personell am Limit

Cornelius Weiß sagt, es gäbe eine große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Man müsse bis zur Facharztprüfung einen Katalog abarbeiten, das heißt, sich Fähigkeiten und Fertigkeiten in dem jeweiligen Fachgebiet aneignen. Theoretisch komme er auch in jede Abteilung, um diese dort zu erlernen. Doch die Personaldecke sei dünn.
"Wenn ein einziger Kollege krank ist, bricht dieses System oft zusammen, weil kein Ersatz da ist. Viele Häuser fahren am absoluten personellen Limit, nicht nur von der Pflege, sondern auch von der Ärzteschaft. Und das allererste, was immer in diesem ganzen Prozess leidet, ist immer die Weiterbildung."
Florian Vollrath engagiert sich in der Arbeitsgemeinschaft "Zukunft in der Chirurgie". Mehr als die Hälfte der durch die Arbeitsgemeinschaft befragten Assistenzärzte hätten noch immer keine strukturierte Weiterbildung. Um den Ansprüchen der Hochleistungsmedizin gerecht zu werden, reicht das nicht. So sieht das auch der angehende Internist Weiß.
"Man kann nicht einfach ein Buch aufschlagen und sich anschauen, wie funktioniert eigentlich eine Sonografie? Oder wie funktioniert eigentlich eine Gastroskopie? Das kann man zwar machen, aber es hilft einem nur bedingt weiter. Man muss das tausend Mal gemacht haben, damit man überhaupt eine Idee davon kriegt: Was ist denn eigentlich eine Sonografie? Was ist eine gute Gastroskopie? Und dieses Verständnis dafür, wie wertvoll auch diese handwerklichen Fähigkeiten sind, die werden in den Häusern stiefmütterlich behandelt."

Junge Ärztegeneration wird verheizt

Der Hartmannbund befragte 1300 Assistenzärzte nach ihrem Klinikalltag: Rund ein Drittel bewerteten ihren Arbeitgeber mit "befriedigend". Ein Fünftel gab dem Arbeitgeber nur ein "ausreichend". Gefragt wurde auch, ob die Assistenten schon einmal zur Arbeit gegangen sind, obwohl sie krank waren. Das beantworteten über 76 Prozent mit "Ja". Die Nachwuchsgruppen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin und des Berufsverbandes Deutscher Internisten haben ebenfalls ihre jungen Mitglieder interviewt. Cornelius Weiß ist Mitautor dieser Studie:
"In dieser Studie konnten wir zeigen, dass wir über alle Gesundheitsberufe in ganz Europa hinweg die größte Disposition für Depression und Folgeerkrankungen haben. Und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, dass wir eine junge Ärztegeneration so verheizen und die Fakten auf dem Tisch haben, wir haben es schwarz auf weiß."

Medizin wird weiblicher

Nicht nur Ökonomie und Zeitmangel haben das Arztbild verändert. Die Medizin wird weiblich, so titelte das Ärzteblatt schon vor zehn Jahren. Immer mehr Frauen studieren Medizin: 1975 waren von 100 Studierenden 29 Studentinnen, 1998 schon mehr als die Hälfte und 2016 bereits 61 von 100. Jede dritte Oberarztstelle ist von einer Frau besetzt, in leitenden Positionen jede zehnte.
"Also wir haben einen Anteil von 45 Prozent Ärztinnen in unserer Klinik."
Jakob Izbicki leitet die Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
"Die Qualifikation dieser Ärztinnen ist genauso gut wie der Ärzte. Sie werden genauso akzeptiert. Sie müssen nicht mehr oder weniger tun als Kollegen männlichen Geschlechtes. Und das ist einfach eine demografische Entwicklung, der wir quasi als Klinik uns auch stellen müssen."
Wie bringt man Familienplanung und Karriere unter einen Hut? Das sind Fragen, die sich nicht nur die Assistenzärztinnen stellen. Auch Chefärzte müssen Lösungen anbieten, sagt Jakob Izbicki. Nur wer das tut, hat zukünftig auch noch genügend Personal.
"Leute haben eine Familienplanung. Nehmen wir mal an, es ist ein männlicher Mitarbeiter. Seine Frau entbindet und er kommt zu mir und sagt, ich möchte jetzt Erziehungsurlaub haben. Als der erste bei mir auftauchte und um Erziehungsurlaub bat, habe ich erst einmal meinen leitenden Oberarzt gefragt: Was ist das? Und ich kippte fast hintenüber. Aber ich habe gesagt: Okay, das ist der Lauf der Zeit. Ich bin mit der Situation, dass ich meine Kinder nicht habe aufwachsen sehen, auch nicht zufrieden gewesen. Ich kann das verstehen."

Man könnte meinen, dass sei der Generationenkonflikt, wie ihn schon Sokrates beschrieben hat: "Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll."
In einem Anatomie-Hörsaal der Medizinischen Fakultät an der Martin-Luther-Universität verfolgen Medizinstudenten eine Vorlesung. Es sitzen deutlich mehr Frauen als Männer im Hörsaal.
Mittlerweile studieren mehr Frauen Medizin als Männer.© picture alliance / Waltraud Grubitzsch
Der 62-jährige Chefarzt lacht und sagt, als Konflikt würde er das nicht sehen, nur als einen Unterschied zwischen den Generationen, so wie das auch bei ihm und seinem damaligen Chef war. Das sei doch irgendwie normal. Heute müsse man eben keine 36-Stunden-Dienste mehr schieben, dank des Arbeitszeitgesetzes, von dem auch junge Ärzte profitieren.
Wenn eine Klinik heute nicht ausreichend Personal einstellt, geregelte Arbeitszeiten und Teilzeitmodelle anbietet, Überstunden ausgleicht, kommen keine jungen Ärzte mehr zur Weiterbildung. Das sei schlecht für eine gute Patientenversorgung, meint Heidrun Gitter.
"Die jungen Ärztinnen und Ärzte machen die Patientenversorgung während der Weiterbildung, wenn wir die weg hätten, dann würde die Patientenversorgung zusammenbrechen. Und die brauchen wir dringend. Und was wir dazugeben müssen in den Weiterbildungsstätten, ist halt eine Supervision, Anleitung in der Vertiefung des Fachgebietes, was sie sich ausgesucht haben."

Zu viele Befristungen, zu wenig Teilzeitangebote

Damit sich weiterhin junge Menschen für das Medizinstudium entscheiden und sich anschließend im Krankenhaus weiterbilden lassen, braucht es auch familienfreundliche Rahmenbedingungen. Die allerdings fordert der Deutsche Ärztinnenbund schon seit den 1950ern. Über Ganztagsschulen und Kindertagesstätten diskutiert die Politik nun seit vielen Jahren, passiert ist bisher immer noch nicht genug, anders als in Skandinavien und Frankreich. Und befristete Arbeitsverhältnisse sind ebenso wenig hilfreich für die Familienplanung. In der Berliner Charité sind drei Viertel der Mediziner befristet angestellt, gleiches gilt für das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und an anderen Universitätskliniken sieht es nicht viel besser aus.
Nach Angaben des Deutschen Ärztinnenbundes würden immer noch viele Ärztinnen wegen der Familie aus dem Beruf aussteigen. Oft bedeute eine Schwangerschaft für operativ tätige Ärztinnen das Aus im OP und dadurch verliert eine Ärztin viel wertvolle Weiterbildungszeit. Hinzu kommt, dass man sich in einem chirurgischen Fach nach längerer Pause die praktischen Fähigkeiten erst wieder aneignen müsse.
"Ich glaube, dass ich für die Weiterbildung der mir unterstellten Leute schon sehr große Verantwortung habe", sagt Professor Izbicki vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
"Weibliche Mitarbeiter, die ein Kind bekommen, versuchen wir absolut auf die individuellen Wünsche einzugehen. Das heißt, wir haben ein abgestuftes Programm der Re-Integration. Und die gehen zum Beispiel zunächst einmal in eine Position als Tumorboard-Koordinator, die non-operativ ist. Die aber sehr, sehr planbar hinsichtlich der Arbeitszeit ist. Dann werden sie sukzessive wieder in die operative Tätigkeit eingeführt."
42 Prozent der Krankenhausärzte sind mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie unzufrieden, fand die Fachhochschule Münster heraus. Gründe dafür waren: mangelnde Angebote an Teilzeitbeschäftigung, keine Unterstützung durch den Arbeitgeber bei der Organisation der Kinderbetreuung und dass Arbeits- und Dienstzeiten nicht vorausschaubar geplant werden können.

Die eigene Praxis als Alternative zur Klinik?

Alternativen, um dem Hamsterrad Krankenhaus zu entfliehen, mehr Berufszufriedenheit zu erfahren, gibt es. Zum Beispiel die eigene Praxis. Hier erkennt man allerdings einen ungewöhnlichen Trend: Ärzte sind dort lieber angestellt als Eigner. Vor über 15 Jahren kam als weitere Arbeitsmöglichkeit das MVZ, das Medizinische Versorgungszentrum hinzu, eine Einrichtung zur ambulanten Versorgung.
Mareike Albers befindet sich in Weiterbildung zu Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe. Die ersten vier Jahre hat sie in einer Klinik gearbeitet. Da die 29-Jährige sich auf Reproduktionsmedizin spezialisieren möchte, absolviert sie ihr letztes Weiterbildungsjahr in einer solchen Schwerpunktpraxis und hat den direkten Vergleich.
"Ich glaube, gerade wenn man vorher in der Klinik gearbeitet hat und dann in die Praxis kommt, egal, wie familiär und nett es in der Klinik war, ist das das Paradies auf Erden. Man hat plötzlich nicht mehr fünf Aufgabenbereiche, für die man gleichzeitig zuständig ist. Man hat seine Sprechstunde. Die Patienten kommen nacheinander und es ist alles sehr gut organisiert und natürlich sind das ganz andere Arbeitsbedingungen. Man hat regelmäßig Pausen. Man kann etwas essen, man kann auf die Toilette gehen, das sind natürlich andere Arbeitsbedingungen."

In den MVZs können beliebig viele zugelassene Ärzte im Angestelltenverhältnis arbeiten, was in den herkömmlichen Praxen nur sehr eingeschränkt erlaubt ist. In MVZs können fachübergreifend Fachärzte unterschiedlicher Richtungen oder nur aus einer Fachrichtung arbeiten. In der auf Reproduktionsmedizin spezialisierten Praxis, in der Mareike Albers tätig ist, arbeiten Gynäkologen, Endokrinologen, Andrologen zusammen mit Sozialarbeiterin und Psychologin. Dabei geht es hier nicht nur darum, sich einen gemeinsamen Tresen und das Wartezimmer zu teilen. Hier bietet man geballte Kompetenz an, zu fast allen Zeiten.
"Das ist ein großer Vorteil und es gibt ja auch immer persönliche Vorlieben, die die einzelnen Ärzte vielleicht haben. Wir können durch die größere Ärzteanzahl schon täglich Termine ab sieben Uhr anbieten. Und ich finde, es ist für die Frauen, die gerade vor der Arbeit einmal zu uns zu Untersuchungen kommen, ganz hervorragend. Wir bieten auch an einigen Tagen bis 20 Uhr Sprechstunden an, sodass man auch nach der Berufstätigkeit hervorragend die Termine umsetzen kann."
Eine junge Ärztin sitzt an ihrem Schreibtisch und schreibt auf einem Notizblock. 
Die Arbeit in einer Arztpraxis gilt als stressfreier als die Arbeit im Krankenhaus.© picture alliance / dpa / Christin Klose

Ökonomie begrenzt Handlungsspielraum

Medizinische Versorgungszentren, aber auch die Praxen der niedergelassenen Ärzte müssen wie die Krankenhäuser am Quartalsende schwarze Zahlen schreiben, sonst droht das Aus. Die Krankenkassen machen Vorgaben, was der Arzt an Medikamenten oder Heil- und Hilfsmittel in einem Quartal verordnen darf. Die Ökonomie bleibt also auch in der Praxis nicht außen vor.
"Wenn man darüber nachdenkt, welche Handlungsspielräume man hat für Diagnostik und Therapie, dann spielt es eine erschreckend große Rolle", sagt Katharina Thiede, Fachärztin für Allgemeinmedizin und erklärt das an einem Beispiel – Patienten kommen in die Praxis kommen und sagen:
"Sie hätten gern mehr Physiotherapie, sie hätten immer gern das gleiche Medikament und nicht das, was die Krankenkasse vorschlägt. Dann ist man mit Ökonomie konfrontiert. In der Hausarztpraxis muss ich überlegen, wie sind meine Budgetdeckung für Heilmittelverordnung oder eben für Medikamente? Was ist mit meinem Laborbudget? Ich muss unterscheiden, was sind Patientenwünsche und was ist notwendig und man muss immer wieder erklären und rechtfertigen. Man würde diese Zeit natürlich gerne anders nutzen, als den Patienten zu erklären, was sieht unser Gesundheitssystem vor und was sieht es nicht vor."
Katharina Thiede arbeitet als angestellte Ärztin. Dazu habe sie sich bewusst entschieden.
"Man hat natürlich ruhigere Nächte. Man hat nicht das unternehmerische Risiko zu tragen. Ich bin auch momentan nicht sicher, ob ich bereit wäre, das irgendwann zu tragen. Unsere moderne Gesellschaft wird mobiler, flexibler. Man ist sich nicht 100 Prozent sicher, ob man immer in der Stadt bleiben kann, in der man momentan ist. Vielleicht muss man irgendwann zur Pflege der Eltern zurück oder wie auch immer. Man weiß nicht, wie das Leben spielt. Ich finde es auch sehr schwer, sich so zu binden."

Anstellung statt unternehmerischen Risikos

Immer mehr Ärzte in Deutschland arbeiten in Anstellung: Bei Hausärzten stieg der Anteil seit 2012 von sechs auf 15 Prozent, bei Fachärzten von elf auf 26 Prozent. Vor allem jüngere Ärzte ließen sich lieber in Praxen, MVZs oder anderen Einrichtungen anstellen, statt sich selbstständig zu machen. Doch auch angestellte Ärzte beklagen eine hohe Arbeitsbelastung – und dass sie zu wenig Zeit für ihre Patienten haben. Katharina Thiede nickt. Sprechende Medizin spiegle sich nicht "monetär" wider.
"Wie oft ist es, dass man sich nicht die Zeit nimmt zu hinterfragen, stimmt eigentlich die Verdachtsdiagnose? Was war eigentlich jetzt in dem letzten halben Jahr los? Wohin wollen wir eigentlich, gerade am Lebensende, was soll eigentlich noch alles gemacht wird? Oder auch ausführlich mit den Angehörigen zu sprechen. Man braucht mehr als zehn Minuten Gespräch, um zu verstehen, was da alles passiert, um gemeinsam Therapieziele festzulegen."

Arbeitsbedingungen müssen familienfreundlicher werden

Ärzte wollen nicht mehr so arbeiten wie bisher, nicht unter diesen und zu diesen Bedingungen wie sie derzeit in den Krankenhäusern, Versorgungszentren und Praxen herrschen. Das äußern sie laut und selbstbewusst. Andreas Hammerschmidt, chirurgischer Assistenzarzt, sagt, wir fordern nur ein, was für alle anderen Arbeitsnehmer normal sei, und ärgert sich über die öffentliche Verurteilung der jungen Ärzte als "Generation Spaß", die wenig arbeiten, aber maximal gute Bedingungen haben möchte.
"Im Gegenteil: Wir sind eine Generation, die will arbeiten. Wir sehen unseren Job als Berufung an. Wir kümmern uns gerne um unsere Patienten. Aber wir glauben, dass dazu viele Dinge anders gemacht werden müssen, damit insbesondere ein Zusammenwirken von Berufsalltag, von Privatleben, aber auch von Familienleben als auch guter ärztlicher Weiterbildung einfach dazugehören."
"Natürlich ist es so, dass unsere Vorgesetzten noch zu ganz anderen Arbeitsbedingungen gearbeitet haben. Aber ich halte es dennoch für eine natürliche Sache, dass es da eine Entwicklung gibt, sodass wir heute das, was die vorhergegangenen Generation erstritten hat, als gegeben wahrnehmen und noch darüber hinausgehen wollen und es noch besser haben wollen. Und ich glaube, dass auch unsere jetzigen Vorgesetzten diesen Konflikt damals mit ihren Chefs ausgefochten haben, weil die wiederum zu ganz anderen Bedingungen gearbeitet haben. Ich merke das selbst als schon fortgeschrittener Assistent: Wenn ich die Studenten von heute erlebe, wie die an unseren Beruf herangehen, merke ich da auch gewisse Unterschiede zu dem, wie ich da vor zehn, 15 Jahren angegangen bin."

Neue Arztgeneration fordert eine politische Debatte

Die jungen Mediziner fordern alle auf mitzudiskutieren. Ein "Weiter so" auf dem Rücken der Ärzte, aber auch der Patienten darf es nicht geben. Florian Vollrath sagt, es sei eine Systemveränderung erforderlich und sieht dabei auch die Patienten in der Pflicht.
"Ich denke, da muss man wirklich ansetzen: Das Verständnis der Bevölkerung, dass gewisse Leistungen, dass medizinische Maßnahmen, Eingriffe ein begrenztes Gut sind, für das man dankbar sein muss, wenn man es so schnell bekommt, wie man es in Deutschland bekommt, und mit dem man aber auch nicht leichtfertig umgehen darf."
Heidrun Gitter, die Bremer Ärztekammerpräsidentin fragt sich:
"Ob man nicht gesetzlich verankern sollte, dass Krankenhäuser, die Versorgungskrankenhäuser sein wollen, also an öffentlichen Investitionen, die aus Steuergeldern kommen, partizipieren wollen und außerdem ihre Leistungen refinanziert bekommen wollen aus den Mitteln der gesetzlichen Krankenkassen, ob nicht diese Krankenhäuser ausschließlich gemeinnützig tätig sein dürfen. Damit nicht solche Gelder, die aus Steuergeldern kommen und aus den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, für Aktionäre, Investoren abgezogen werden."
Das ist auch ganz im Sinne von Katharina Thiede, die den Aufruf der jungen Mediziner für ein neues Arztbild mit unterzeichnet hat.
"Ich finde, das ist eine gesellschaftliche Diskussion, die zu führen ist. Wir als Gesellschaft müssen uns fragen, welche medizinische Versorgung wollen wir und wie kriegen wir die? Und welche Rahmenbedingungen müssen wir als Gesellschaft verändern? Vieles ist innerärztlich sicherlich. Aber andere Dinge, die berühmte Ökonomisierung, die Finanzierung unseres Gesundheitswesens, ob wir mit der Ausgestaltung der DRGs zufrieden sind oder nicht, das kann die Ärzteschaft nicht alleine regeln. Das ist eine politische Diskussion, die zu führen ist."
*Wir haben das ursprüngliche Manuskript um eine Passage gekürzt.

Autorin: Dorothea Brummerloh
Sprecherin: Julia Brabandt
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Constanze Lehmann

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