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Honorarkräfte in Kliniken und Heimen "Es brennt gewaltig bei mir und den Kollegen"

Krankenhäuser können nicht mehr auf Honorarärzte setzen, Altenheime nicht mehr auf freiberufliche Pfleger. Das geht aus zwei höchstrichterlichen Urteilen hervor. Viele Fachkräfte sind empört.
Foto: Andreas Arnold/dpa

"Bei uns stehen die Telefone gerade nicht mehr still", sagt Tobias Freudenberg von der Pflegekräfte-Agentur Care-Connect. Sie vermittelt bundesweit rund 2500 selbstständige Fachkräfte an Heime und Kliniken und bekommt dafür eine Provision. "Die Geschäftsführung hat auch am langen Wochenende durchgearbeitet. Die Kunden sind verunsichert."

Grund dafür ist ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vor wenigen Tagen. Demnach dürfen in der Regel sowohl in Pflegeheimen als auch in Kliniken keine Pflegekräfte mehr auf Honorarbasis eingesetzt werden. Auch Honorarärzte soll es laut einem zweiten Urteil des höchsten deutschen Sozialgerichts nicht mehr geben. Arbeitgeber seien vielmehr verpflichtet, Sozialversicherungsabgaben für beide Gruppen zu zahlen. Das liefe dann auf eine Festanstellung hinaus.

Und jetzt?

In der Branche ist die Empörung groß. "Das Urteil hilft niemandem", kritisiert Freudenberg, es verschärfe den Fachkräftemangel noch. Es sei nun schwieriger, Personal und Arbeitgeber zusammenzubringen. Von einer "Frechheit" spricht Andrea Höfer aus Niederbayern, die seit mehreren Jahren als Honorarkraft in der Pflege arbeitet.

Auf Facebook hat die 55-Jährige eine Petition gestartet. Sie sammelt digitale Unterschriften, um sich gegen das Urteil aus Kassel zu wehren. "Es brennt gewaltig bei mir und den Kollegen", sagt sie. "Wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen."

Höfer und andere Honorarkräfte wollen nicht auf ihre Freiberuflichkeit verzichten und stattdessen in eine Festanstellung wechseln - weil sie damit Flexibilität abgeben müssten und weniger Geld verdienen. "Wir sind nicht in die Festanstellung zu kriegen - auch nicht mit Gewalt", sagt die 55-Jährige. Festanstellung bedeute: "Viel weniger Bezahlung - und viel mehr Stress."

Sie spreche persönlich mit Heimleitungen über Dienstpläne, könne sich ihre Arbeitszeiten weitgehend selbst aussuchen, sagt die Fachkraft. Nicht nur junge Mütter profitierten von der Arbeit auf Honorarbasis, auch Alleinstehende oder Menschen in einer Partnerschaft wollten auf ihre Freiberuflichkeit nicht mehr verzichten.

Peter Müller, Sprecher der Pro -Seniore-Unternehmensgruppe, die ebenfalls vor Gericht unterlag, sagt: "Niemand arbeitet gerne in durchgetakteten Dienstplänen." Durch das Aus für Honorarkräfte gehe ein Instrument verloren, um Fachkräfte wenigstens für ein paar Stunden pro Tag im Beruf zu halten. Gerade mit Blick auf junge Eltern sei Honorararbeit eine Chance gewesen - um beispielsweise Mütter für vier Stunden am Vormittag zurück zu bekommen.

Kein Grund, Arbeitnehmerrechte auszuhebeln

Honorarärzte und Honorarpfleger sind selbstständig und arbeiten auf eigene Rechnung. Sie müssen bestimmte Sozialabgaben wie zum Beispiel die Arbeitslosenversicherung nicht abführen und bekommen den Angaben zufolge oft einen deutlich höheren Stundenlohn als Festangestellte. Sie sind flexibler und können selbst bestimmen, zu welchen Zeiten sie arbeiten wollen.

Wie viele Menschen das betrifft, ist allerdings unklar. Laut der Gewerkschaft Ver.di gibt es keine offiziellen Statistiken. Schätzungen zufolge geht es um einige Tausend Honorarpfleger und -ärzte in Deutschland. Kliniken und Pflegeheime haben sie vor allem engagiert, um besondere Belastungen bei der Versorgung oder Krankheitswellen beim eigenen Personal auszugleichen. In der Pflege sind Tausende Stellen unbesetzt. Es dauert oft mehrere Monate, um neue Angestellte zu finden.

Personalnot wollten die Kasseler Richter jedoch nicht als Begründung dafür gelten lassen, sozialrechtliche Regelungen und - insbesondere bei Honorarärzten mit langen Arbeitszeiten - Vorgaben zum Arbeitnehmerschutzrecht auszuhebeln. Honorarkräfte seien in Dienstpläne und Arbeitsabläufe eingegliedert, damit weisungsgebunden und folglich nicht selbstständig, befand das BSG - zum Ärger von Branchenvertretern. Sie halten folgende vier Szenarien für denkbar:

Szenario 1: Festanstellung

Fachkräfte werden dringend gesucht, Kliniken und Pflegeheime haben jede Menge unbesetzte Stellen, die Honorarkräfte könnten sich also fest anstellen lassen. Viele wollten das aber nicht, wie der Vermittler Freudenberg und die Fachkraft Höfer sagen. Und so geht es nach Einschätzung von Markus Keubke, der vor Gericht Krankenhausbetreiber und Honorarärzte vertreten hat, auch vielen Medizinern.

Zahlreiche Honorarärzte hätten sich bewusst gegen die Festanstellung entschieden, sagt der Jurist. So seien sie aus allen organisatorischen Zwängen raus, hätten weniger bürokratischen Aufwand und könnten sich mehr auf ihre Patienten konzentrieren.

Szenario 2: Zeitarbeit

Statt Mediziner auf Honorarbasis zu beschäftigen, könnten Krankenhäuser dieselben Ärzte zukünftig vor allem als Leiharbeiter einsetzen. Das Landratsamt Aichach-Friedberg, das als Krankenhausbetreiber vor dem BSG geklagt und verloren hat, setzt schon seit einigen Jahren auf diese Lösung. Für die Klinik sei das im Vergleich zu den Honorarärzten jedoch "deutlich teurer, da die Provision der Leiharbeitsfirma zusätzlich berechnet wird", teilte Sprecherin Teresa Wörle mit.

Die Arbeitgeber würden folglich lieber auf Festanstellung setzen. Doch aufgrund des Fachkräftemangels bliebe ihnen keine Wahl - sondern die Ärzte könnten entscheiden. Und für die ist Zeitarbeit attraktiver als eine Festanstellung, wie Nicolai Schäfer vom Bundesverband der Honorarärzte sagt. In Zeitarbeit komme zwar Bürokratie hinzu, aber die Ärzte arbeiteten hier "zu exorbitant besseren Konditionen als angestellte Ärzte".

Bei den Pflegern wird sich laut Vermittler Freudenberg ebenfalls ein Teil für Zeitarbeit entscheiden, da auch hier die Bedingungen und die Bezahlung besser seien als bei einer Festanstellung. Für die Heime gehe das ebenfalls mit deutlich höheren Kosten und mehr Aufwand für Bürokratie einher, sagt Peter Rösen, der als Verbandsjurist des Industriellen Arbeitgeberverbands Osnabrück ein Altenheim vor Gericht vertreten hat.

Doch auch hier hätten die Arbeitgeber oft keine andere Wahl, bestätigt unter anderem der Altenheimbetreiber Pro Seniore, der ebenfalls vor Gericht geklagt hatte. Er setze statt auf Honorarkräfte wegen der Rechtsunsicherheit schon seit einigen Jahren vermehrt auf Zeitarbeiter, so wie es laut Ver.di viele Kliniken und Pflegeheime tun.

Die Deutsche Rentenversicherung hatte immer häufiger auf Scheinselbstständigkeit geprüft. Der Arbeitgeberverband der privaten Anbieter sozialer Dienste empfahl seinen Mitgliedern aufgrund widersprüchlicher Gerichtsentscheidungen schon lange, keine Honorarkräfte einzusetzen.

Szenario 3: Schlupflöcher suchen

Ob Honorarkräfte, die künftig nicht mehr als solche arbeiten dürfen, nun Zeitarbeitskräfte werden wollen, bezweifelt allerdings einer, der bereits viele Aufträge an Honorarkräfte vermittelt hat. "Die Stimmung unter den Honorarkräften? 'Jetzt erst Recht!'", sagt Freudenberg.

Sobald das schriftliche Urteil vorliege, werde man sehen, welche Möglichkeiten noch bestünden, freiberuflich als Honorarkraft zu pflegen. Betroffene könnten versuchen, eine GmbH oder Partnerschaftsgesellschaft zu gründen, und so weiter als Selbstständige arbeiten. Dann seien sie nicht sozialversicherungspflichtig.

Diese Chancen stehen für die Ärzte allerdings etwas besser als für die Pfleger, erläutert Anwalt Keubken. Hans-Jörg Freese, Pressesprecher des Ärzteverbands Marburger Bund, erhofft sich mehr Aufklärung dazu, welche "gewichtigen Indizien" laut Gericht bestehen müssen, damit bei Ärzten ausnahmsweise von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen werden könne.

Szenario 4: Den Beruf aufgeben

Das vierte Szenario ist für die Branche, die bereits massiv unter Personalnot leidet, besonders bitter: ein Rückgang an Fachkräften. Der dürfte allerdings eher Pflegekräfte als Ärzte betreffen. Für den Pflegebereich fürchtet Freudenberg, einige ehemalige Honorarkräfte könnten ihren Job ganz aufgeben oder ins Ausland abwandern. Wie es die 55-jährige Höfer aus Niederbayern bereits durchspielt.

Sie wolle weiterhin als Honorarkraft arbeiten - unbedingt. Dafür sei sie sogar bereit, ins Ausland zu gehen, nach Österreich oder in die Schweiz zum Beispiel. Das müsse nicht mit einem Umzug verbunden sein, sagt Höfer - schließlich fahre sie schon heute bis zu 500 Kilometer zu einem Auftraggeber. Es sei kein Problem, für den Job künftig auch Ländergrenzen zu überqueren.

Mitarbeit: Franca Quecke