WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Deutschland
  4. Studie zum Gesundheitssystem: Krankenhäuser in Not

Deutschland Gesundheitssystem

Wie Bürokratie deutsche Krankenhäuser lahmlegt

Die Krise der Krankhäuser verschärft sich

Nicht nur der Pflegenotstand, auch die bürokratischen Hürden machen die Arbeit in deutschen Krankenhäusern immer schwieriger. Zudem droht ein Engpass bei chirurgischen Instrumenten, Implantaten und anderen Medizinprodukten.

Quelle: WELT/Nicole Fuchs-Wiecha

Autoplay
In deutschen Kliniken fehlt es an Geld und Pflegern, doch Personal aus dem Ausland zu rekrutieren, ist schwierig. Und die überbordende Bürokratie lähmt den Betrieb. Eine Studie vermittelt ein alarmierendes Bild des deutschen Gesundheitssystems.

Das Gehaltsniveau ist ein anderes, aber im Prinzip sind sie ähnlich umworben wie Fußballstars: Wechselt in Deutschland eine qualifizierte Pflegekraft von einem zum anderen Krankenhaus, wird sie mit einem Handgeld von 3000 bis 5000 Euro empfangen. Und wer einen Kollegen zu seinem Arbeitgeber lotst, darf die gleiche Summe einstreichen.

„Mitarbeiter werben Mitarbeiter“ heißt das Programm, das inzwischen in den meisten Kliniken Standard ist. Von Kopfprämien ist die Rede. Headhunter, die sich früher bevorzugt um Chefärzte und Klinikleiter kümmerten, jagen längst auch Krankenschwestern nach. Pflegekräfte arbeiten immer härter, aber sind auch begehrter als je zuvor.

„Wir haben einen erheblichen Mangel an Pflegepersonal“, klagt Philipp Ostwald, der Geschäftsführer des Klinikums Landshut. „Es scheiden mehr Pflegekräfte altersbedingt aus, als junge Leute nachkommen.“ Seinem Haus kehren von etwa 480 Pflegekräften jedes Jahr rund 80 den Rücken. Oft gehen sie in den Ruhestand, manchmal zur Konkurrenz, mitunter in einen ganz anderen Beruf.

Der heimische Markt ist wie leer gefegt, aber Personal aus dem Ausland zu rekrutieren ist schwierig. Meist müssen zunächst deutsche Sprachkenntnisse vermittelt werden, was oft Jahre dauert. „Gerade bei der Pflege von Menschen ist die Kommunikation ganz wichtig“, sagt Ostwald, der selbst promovierter Mediziner ist.

Wie eine Gemeinde versucht, einen Arzt an Land zu ziehen

Manche Kleinstädte fürchten sich vor der drohenden Entwicklung, weil ihre Ärzte immer älter werden, aber keinen Nachfolger finden. Der Ort Neuenrade will aber nicht auf Ideen aus der Politik warten, sondern geht lieber selbst in die Offensive.

Quelle: WELT

Pflegekräftemangel ist eines der Probleme in deutschen Krankenhäusern. Die anderen: überbordende Bürokratie, permanente Unterfinanzierung, ein strukturelles Überangebot an Kliniken. Der Geldmangel führt zum Beispiel auch dazu, dass die in der modernen Medizin unverzichtbare Digitalisierung und die gesetzlich geforderte Cyber-Sicherheit oft auf der Strecke bleiben. Das ergibt sich aus einer Studie der KPMG speziell zur Situation der Krankenhäuser in Süddeutschland, die WELT AM SONNTAG exklusiv vorliegt. Die Unternehmensberatung hat bei 462 Kliniken nachgefragt, die Rücklaufquote betrug 14 Prozent.

Dass ihr Haus gegen den Fachkräftemangel in Medizin und Pflege gewappnet sei, verneinen 53 Prozent der befragten Klinikverantwortlichen in Baden-Württemberg und 82 Prozent in Bayern. Drei Viertel der Krankenhäuser in beiden Bundesländern sehen eine Anwerbung von ausländischen Fachkräften für den Weiterbetrieb als „unbedingt notwendig“ an.

Alarmierende Befunde in den Kliniken

Doch es fehlt Geld. Sechs von zehn Kliniken im Süden verzeichneten 2018 Verluste. Bei öffentlichen Krankenhäusern sind es 78 Prozent, während die privat geführten Häuser zu 25 Prozent in roten Zahlen stecken. Und zwei von drei der befragten Kliniken in Baden-Württemberg sehen ihr wirtschaftliches Überleben durch die Unterfinanzierung der Notfallversorgung bedroht. Die alarmierenden Befunde sind nicht auf eine Region beschränkt. Im vergangenen Jahr bezeichneten die Chefs jedes vierten Krankenhauses in Nordrhein-Westfalen die Existenz ihrer Klinik in den nächsten fünf Jahren bedroht, wenn öffentliche Fördermittel nicht erhöht würden.

Sogenannte Versorgungskrankenhäuser, die keiner Universität angeschlossen sind, müssen Notfallpatienten versorgen. „Da haben wir eine Aufnahmepflicht“, sagt Dietmar Pawlik, kaufmännischer Geschäftsführer der München Klinik. Niemand darf abgewiesen werden, vom zu schienenden Beinbruch über den Blinddarmnotfall bis zur Platzwunde nach einer Kneipenschlägerei.

DWO_IP_Krankenhäuser
Quelle: Infografik WELT

Bei Pawlik machen derartige Notfälle 40 Prozent der Patienten aus. Das sei auch ihre Aufgabe, sagt Pawlik, „aber das führt dazu, dass wir regelmäßig Patienten, die sich gerade ein Bein gebrochen haben, sofort auf den OP-Tisch nehmen. Hat ein anderer Patient etwa wegen einer Hüftoperation bei uns einen Termin gemacht, muss ich ihn vertrösten. Der ist wenig begeistert, und ich muss ihn einen Tag länger im Haus behalten.“ Wem das ein weiteres Mal passiert, mag beim nächsten Mal gleich ins Universitätsklinikum fahren. Dort operieren Ärzte ohne den Druck, dass ein Notfall dazwischenkommen kann. „Und dann wird diese Operation zur gleichen Fallkostenpauschale vergütet wie unsere Behandlung, die aber deutlich teurer war“, beklagt Pawlik.

Exklusiv für Abonnenten
Anzeige

Als neueste „Krankheit des Krankenhaussystems“ beschreiben Experten die im Januar eingeführte Pflegepersonaluntergrenze. Sie schreibt Abteilungen wie Intensivstation, Kardiologie oder Unfallchirurgie eine Mindestzahl an Pflegern pro Patient vor.

„Und das muss mit ungeheurem zusätzlichen bürokratischen Aufwand für alle drei Schichten geprüft, dokumentiert und bestätigt werden“, sagt Ostwald. „Aber vielleicht geht es in dem Moment auf der Unfallchirurgie nur um Kniespiegelungen von Mittdreißigern, die keinen hohen Pflegeaufwand benötigen. Zur gleichen Zeit liegen in einer anderen Abteilung drei hochbetagte Patienten, die nicht alleine zur Toilette gehen können oder gefüttert werden müssen. Doch die Pfleger, die sich um sie kümmern könnten, dürfen sich nicht von der Unfallchirurgie wegbewegen, obwohl sie dort gerade weniger zu tun haben.“

Die Folge: Auf Stationen, die nicht genügend Pfleger einsetzen können, werden Betten geschlossen. Insbesondere auf dem Land gefährdet das die Versorgung. Ostwald wirft den früheren Gesundheitsministern und insbesondere dem Amtsinhaber Jens Spahn (CDU) „gut gemeinten Aktionismus“ in Form etlicher Gesetze vor: „Leider werden durch einen großen Teil dieser Gesetze unsere Probleme nicht gelöst, sondern verschärft.“

„Setzen das Pflegepersonal nicht fach- und bedarfsgerecht ein“

Doch gibt es wirklich zu wenige Pfleger? In Deutschland kommen nach einem OECD-Bericht von 2013 auf 100.000 Einwohner 11,3 Kräfte. Das ist weit über dem OECD-Schnitt (8,8) und mehr als in Schweden, Finnland, USA, Frankreich, Großbritannien, Japan, Kanada, Österreich oder Italien. Das Problem offenbart sich erst, wenn es um die Anzahl der Pflegekräfte pro Patient geht: Im Schnitt aller Länder kommen auf 1000 Patienten 32 Pflegekräfte, hierzulande sind es nur 19.

In kaum einem Land werden so viele Menschen ins Krankenhaus eingeliefert wie in Deutschland. „Wir haben im Vergleich mit unseren europäischen Nachbarländern nicht zu wenig Personal“, bestätigt Sebastian Dienst, Pflegedirektor beim Deutschen Herzzentrum in Berlin. „Aber wir setzen das Pflegepersonal nicht fach- und bedarfsgerecht ein.“

Gäbe es weniger Krankenhäuser, würde sich die Situation entspannen. Doch die Träger der Kliniken, meist Bürgermeister, trauen sich nicht, ein Haus zu schließen. Also fördere man weiter „zu viele Krankenhäusern mit der Gießkanne, sodass höchstens noch die großen Häuser genug bekommen, um sicher zu wirtschaften“, sagt Ostwald. Und die Kommunen gleichen Jahr für Jahr mit Millionen an Steuergeldern die Bilanzen „ihrer“ Häuser aus.

Experten schätzen, dass von den 37 Krankenhäusern allein in München die Hälfte verzichtbar wäre, während auf dem Land der Kollaps einer einzigen Klinik eine Versorgungslücke reißen würde. Das Problem ließe sich nur durch einen von Bund und Ländern verfügten Strukturplan lösen. Stefan Friedrich, ein Autor der KPMG-Studie, fragt, „wie lange das so noch funktionieren kann“.

Und der Landshuter Klinik-Chef Ostwald fürchtet: „Das gesamte Krankenhaussystem wird an die Wand gefahren. Wir müssen unbedingt die Notbremse ziehen.“

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema