Der Trick mit den Fallzahlen in den Spitälern

Die Kantone tun sich schwer, Spitälern Leistungsaufträge zu entziehen. Über Mindestfallzahlen für komplexe Eingriffe geschieht das nun indirekt.

Anna Wanner
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Eine Mitarbeiterin während einer Chemotherapie am Kantonsspital Freiburg. (Bild: Anthony Anex/Keystone, 14. September 2018)

Eine Mitarbeiterin während einer Chemotherapie am Kantonsspital Freiburg. (Bild: Anthony Anex/Keystone, 14. September 2018)

Auch ein Tag nach der Abstimmung beschäftigt das Nein zur Basler Spitalfusion die Branche. Ein positives Signal hätten sich viele gewünscht. Die Konzentration komplizierter Operationen an einigen wenigen Standorten erfolgt bis heute höchstens schleppend. Wenn Spitäler zusammenarbeiten, dann meist innerhalb einer kleinen Versorgungsregion. Spätestens an der Kantonsgrenze hört die Planung auf.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Beispielsweise arbeiten die Kantonsspitäler Nidwalden und Luzern seit Jahren eng zusammen. Und seit kurzem führt der Chefchirurg des Kantonsspitals Uri hochkomplexe Eingriffe am Bauch am Luzerner Kantonsspital durch, weil dort die teureren technischen Geräte verfügbar sind. Das Projekt, das über die Kantonsgrenzen hinweg am weitesten gediehen ist, liegt in der Waadt, an der Grenze zum Wallis: das Spital Riviera-Chablais. Anstelle von sechs kleinen Spitälern entsteht ein grosses. Es bleibt die Ausnahme. In kleinsten Schritten verschwinden andernorts die Spezialdisziplinen, der Standort wird aber selten infrage gestellt. Nidwalden und Uri bestehen zum Beispiel weiterhin.

Dass die Kantone an einer feingliedrigen Grundversorgung festhalten, wird sich so schnell nicht ändern. Dass sie aber im spezialisierten Bereich enger zusammenarbeiten, ist unumgänglich. Es ist der Wunsch des Gesetzgebers, aufwendige Leistungen an wenigen Standorten zu konzentrieren. Das hat hauptsächlich zwei Gründe. Erstens steigt die Behandlungsqualität, je häufiger ein Spital einen Eingriff durchführt – das ist wissenschaftlich erwiesen. Zweitens führen eine bessere Auslastung der Operationssäle und eine höhere Qualität mittelfristig zu tieferen Kosten. Bloss: Die neue Spitalplanung hat seit ihrer Einführung 2012 nicht zu diesem Ziel geführt. Kaum ein Kanton war bereit, radikal eigene Strukturen abzubauen. Denn Spitäler schliessen ist politisch höchst unpopulär. Alleine die Diskussion darüber hat schon zu einer Abwahl geführt: Wie 2004 Regierungsrat Anton Grüninger (CVP) aus St. Gallen erfahren musste. Anstatt die Mittel der neuen Spitalplanung zu nutzen und die Leistungsaufträge sorgsam zu verteilen oder gar konsequent zu entziehen, setzen die Kantone lieber auf Strukturerhalt.

Schweiz fällt bei Qualität ab

Nun wird diese Struktur quasi über die Hintertür bereinigt: mit Mindestfallzahlen. Sie legen fest, dass ein Spital gewisse Eingriffe nur noch machen darf, wenn es eine Routine entwickelt hat. Beispielsweise darf ein Spital nur dann neue Knie- und Hüftgelenke einsetzen, wenn es dies mindestens zehn-, zwanzig- oder fünfzigmal pro Jahr macht. Die Zahl setzt der Kanton selbst fest – und kann so das Leistungsangebot weiterhin steuern. Im Vergleich zu anderen Ländern hinkt die Schweiz diesen Qualitätsanforderungen weit hinterher. Laut Krankenkassenverband Santésuisse haben 118 von 188 Spitälern im 2016 Kniegelenke ersetzt. Die Mindestfallzahl von 50 Eingriffen pro Jahr, die Zürich für seine Spitäler festlegt, haben nur 62 Spitäler erreicht. Für die Experten von Santésuisse ist dies klar ungenügend.

Doch die Spitallandschaft bewegt sich. Im Takt des Kantons Zürich, der als erster Mindestfallzahlen für die eigenen Spitäler definierte, folgen die anderen Kantone, vor allem die grösseren wie Bern, Basel, Basel-Landschaft, Luzern, St. Gallen, Aargau und Solothurn. Der Thurgau und Schwyz wollen Mindestfallzahlen anwenden, stehen dem Konzept aber eher kritisch gegenüber. Im vergangenen Jahr hat die Konferenz der Gesundheitsdirektoren (GDK) das Modell Zürich zur Nachahmung empfohlen. Nur kleinere Kantone sehen weiterhin davon ab: Uri, Appenzell Innerrhoden, Zug und Schaffhausen verzichten auf Mindestfallzahlen. Graubünden übt sogar Kritik: «Eine schlechte Behandlung wird nicht besser, wenn sie 200-mal schlecht gemacht wird.»

Für gleich lange Spiesse braucht es nationale Vorgaben

Die Zurückhaltung begründen die Gegner hauptsächlich mit der fehlenden Empirie. Es sei nicht erwiesen, dass Mindestfallzahlen die Qualität tatsächlich steigerten. Zudem bestehe die Gefahr einer Mengenausweitung, die nicht zwingend im Sinne des Patienten ist: Wenn nämlich der Arzt sich eher für eine OP entscheidet als für eine alternative Behandlung, nur um eine Zahl zu erreichen. Und schliesslich wird gerne auf geografische Unterschiede hingewiesen. So brauchen Bern, Graubünden und das Wallis dezentralere Strukturen. Sie finden: Ausnahmen sollen möglich sein.

Unbeachtet der Kritik, verschärft Zürich die Vorgaben weiter: Seit diesem Jahr muss nicht nur das Spital eine bestimmte Anzahl Operationen nachweisen, auch von den behandelnden Chirurgen wird dies verlangt. Damit wollen sich längst nicht alle anfreunden. Obwohl der Kanton Schwyz Mindestfallzahlen einsetzt, um die unerwünschte «Gelegenheits-chirurgie» zu verhindern, gehen ihm die neuen Auflagen zu weit. Werde etwa die Mindestfallzahl erhöht, sei das weder fair noch sinnvoll, solange dies nicht in allen Kantonen umgesetzt werde. Nur nationale Vorgaben könnten zu gleich langen Spiessen führen.

Santésuisse macht seit längerem Druck auf den Bund, auf nationaler Ebene Fallzahlen einzuführen. Theoretisch könnte der Bundesrat diese relativ einfach über den Verordnungsweg beschliessen – ohne das Parlament zu konsultieren. Dem Vernehmen nach will der Bundesrat einen solchen Schritt nun prüfen.

Luzern forciert Spitalverbund in der Zentralschweiz

Während in der Region Basel die Spitalfusion soeben gescheitert ist, wird in der Innerschweiz an einer verstärkten überkantonalen Zusammenarbeit gezimmert. Bereits seit 2012 bilden die Kantonsspitäler Luzern und Nidwalden die gemeinsame Spitalregion mit dem Namen «Lunis». Im November 2018 haben die beiden Spitäler und der Kanton Luzern den Aktionärsbindungsvertrag für eine noch engere Zusammenarbeit unterzeichnet. Das Luzerner Kantonsspital wird sich gemäss Vertrag mit 60 Prozent am Spital Nidwalden in Stans beteiligen. Doch die Fusionspläne stehen in der Kritik: Vor allem die Linke bezeichnet das Vorhaben als intransparent und undemokratisch. Insbesondere die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft stösst auf wenig Gegenliebe – ein Argument, das auch die Gegner der Basler Spitalfusion vorbrachten. Ein Referendum ist daher absehbar. Im Januar 2019 wurde zudem bekannt, dass auch die Obwaldner Regierung eine Fusion mit dem Luzerner Kantonsspital prüft. Das Spital in Sarnen hat im Alleingang kaum noch Möglichkeiten zur Gewinnbildung, heiss es bei der Obwaldner Regierung. Der Luzerner Gesundheitsdirektor Guido Graf (CVP) zeigt sich offen, sollten sich weitere kleine Spitäler in anderen Kantonen anschliessen wollen.

Die Zusammenarbeit mit dem Luzerner Kantonsspital wäre für die Obwaldner nicht die erste. Seit Anfang 2017 wird die psychiatrische Versorgung der Ob- und Nidwaldner Bevölkerung in Sarnen durch die Zusammenarbeit mit der Luzerner Psychiatrie gewährleistet. Zudem betreibt das Luzerner Kantonsspital, das grösste nicht universitäre Spital der Schweiz, beispielsweise seit Anfang Jahr im Zuger Kantonsspital in Baar eine Abteilung Radio-Onkologie. Derweil wird auch in der Innerschweiz kräftig in die Spitäler investiert. Das Luzerner Kantonsspital mit seinen Aussenstandorten Sursee und Wolhusen plant bis 2035 Investitionen von rund 2,1 Milliarden Franken. Sowohl das Spital in Wolhusen als auch jenes in Sursee werden neu gebaut. Am Standort in Luzern werden morgen die Neubaupläne für das Kinderspital, welches die ganze Zentralschweiz abdeckt, vorstellt.

Paukenschlag führt zu Protesten in der Ostschweiz

Partnerschaften über die Kantonsgrenzen hinaus sind zwar auch in der Ostschweiz ein Thema. Doch seit dem letzten Jahr ist die Diskussion in den Hintergrund gerückt. Denn der mit Abstand grösste Player St. Gallen steckt in finanziellen Nöten. Laut dem Verwaltungsrat der St. Galler Spitalverbunde droht den Spitälern des Kantons ein jährliches Defizit von 70 Millionen Franken. Die Spitalverbunde wollen deshalb die Bettenstationen der Standorte Flawil, Wattwil, Altstätten, Rorschach und Walenstadt schliessen. Stationäre Angebote soll es nur noch in St. Gallen, Grabs, Uznach sowie in Wil geben. Den Bauprojekten in Altstätten und Wattwil hat der Verwaltungsrat der Spitalverbunde eine «Denkpause» verordnet.

Dieser Paukenschlag führte zu Protesten in den betroffenen Regionen und zu einer hitzigen Spitaldebatte. Die Empörung ist auch deshalb so gross, weil das Stimmvolk 2014 Kredite von 805 Millionen Franken für die Erneuerung und den Ausbau einiger Spitäler deutlich gutgeheissen hatte. Letzten Herbst wurden deshalb Rekurse gegen den Bau- respektive Planungsstopp in Altstätten und Wattwil eingereicht. Laut einem Gutachten der St. Galler Regierung haben der Kantonsrat und schliesslich das Volk das letzte Wort bezüglich Spitalschliessungen. Gleichzeitig zeigt sich St. Gallen offen für Kooperationen mit den Nachbarkantonen und Liechtenstein. Jedoch stösst dies auf wenig Gegenliebe. Liechtenstein hält aus Angst vor einem Verlust der Autonomie am eigenen Spital fest. Trotz wiederholter Gespräche gibt es auch keine tiefgreifende Kooperation mit den beiden Appenzell, die sich ebenfalls für den Erhalt der eigenen Spitäler entschieden haben. Lediglich in der Chirurgie und der Gastroenterologie gibt es eine Zusammenarbeit mit dem Spital Appenzell. 

Viele offene Fragen nach dem Nein zur Spitalfusion in der Nordwestschweiz

Nach der gescheiterten Spitalfusion der beiden Basel steht insbesondere der Kanton Baselland vor einem Scherbenhaufen. Das dortige Kantonsspital mit den Standorten Liestal, Bruderholz und Laufen könne in der heutigen Ausprägung nicht überleben, sagte Verwaltungsratspräsident Werner Widmer am Sonntag. Der Baselbieter Gesundheitsdirektor Thomas Weber fordert denn auch , dass das Kantonsspital Baselland seine Kosten und Erträge ins Gleichgewicht bringen muss. Für das vergangene Jahr rechnet das Spital mit einem Defizit von 14,5 Millionen Franken. Das Wort Spitalschliessungen mochten die Verantwortlichen bislang nicht in den Mund nehmen. Doch insbesondere für das Spital Bruderholz, das sich an der Grenze zu Basel befindet, stellt sich die Frage, wie es nun weitergehen soll. Die gescheiterten Fusionspläne hätten dort eine Tagesklinik für ambulante Eingriffe sowie ein Orthopädie- und Reha-Zentrum vorgesehen. Ohne neue Kooperationen ist eine Schliessung des Standorts nicht ausgeschlossen.

Für das Universitätsspital Basel stellen sich vor allem mittelfristig mehrere Herausforderungen. So ist etwa offen, wie lange das kleinste Unispital der Schweiz alleine die national festgelegten Fallzahlen erreichen kann, um die lukrativen Leistungsaufträge für die hoch spezialisierte Medizin zu erhalten. Gut möglich, dass im Baselbiet nun eine Zusammenarbeit mit den Kantonen Solothurn oder Aargau ins Spiel gebracht wird. Im Aargau wird wie andernorts in der Schweiz derzeit kräftig investiert. So soll in Aarau, dem grössten Spital des Kantons, ein 600 Millionen Franken teurer Neubau entstehen. In Baden werden aktuell 450 Millionen Franken in ein neues Spital investiert. In Solothurn kostet das neue Bürgerspital rund 340 Millionen Franken. Die Ausgaben übernimmt der Kanton, im nächsten Jahr steht die Eröffnung an. (mka)