Jens Jessen über die Kirche als Arbeitgeber

Christliche Identität ja, Heuchelei nein

Im Vordergrund ein senkrechtes Schild mit der Aufschrift St.-Vinzenz-Krankenhaus, dahinter fährt ein Rettungswagen vom Klinikgelände, im Hintergrund das Krankenhausgebäude
Das katholische St. Vinzenz-Krankenhaus in Düsseldorf hätte seinem Chefarzt nicht kündigen dürfen, urteilte das Bundesarbeitsgericht. © picture alliance/dpa/Martin Gerten
Moderation: Korbinian Frenzel · 20.02.2019
Verheiratet, geschieden, wieder verheiratet: Grund für ein katholisches Krankenhaus, dem Chefarzt zu kündigen. Zu Unrecht, urteilte jetzt das Bundesarbeitsgericht. Zeit-Redakteur Jens Jessen betont hingegen das Selbstbestimmungsrecht des Arbeitgebers.
Zehn Jahre lang beschäftigten sich Gerichte mit dem Fall eines Düsselfdorfer Chefarztes: Der Katholik war von einem katholischen Krankenhaus entlassen worden, weil er nach einer Scheidung wieder geheiratet hatte. Jetzt fällte das Bundesarbeitsgericht ein Urteil mit vermutlich weit reichenden Folgen für christliche Arbeitgeber: Die Kündigung ist unwirksam. Katholische Arbeitgeber dürften von ihren katholischen Beschäftigten nicht höhere Loyalitätsanforderungen verlangen als von Arbeitnehmern mit einer anderen oder ohne Glaubenszugehörigkeit.
Unser Studiogast Jens Jessen, Redakteur im Feuilleton der "Zeit", betonte kurz vor der Urteilsverkündung die Bedeutung der christlichen Identität von kirchlichen Großorganisationen wie der Caritas. Ohne diese würden sie sich völlig auflösen.
Jens Jessen im Porträt
Jens Jessen, Redakteur im Feuilleton der Zeit© picture-alliance/ dpa / Steffen Kugler
Braucht ein Chefarzt also auch eine christliche Identität? "Ja - jedenfalls, wenn er in einem christlichen Krankenhaus arbeitet", sagte Jessen im Deutschlandfunk Kultur. Denn man gehe in ein christliches Krankenhaus in der Erwartung, "dort einem höheren Ethos zu begegnen".
Dem stünden die "korrupten Welten" eines Privatkrankenhauses entgegen, "wo der Betriebswirt regiert". Jessen sieht in diesem Bereich "Exzesse": "Hamburg beispielsweise ist völlig verwahrlost, sittlich verwahrlost", sagte er.

Wiederverheiratung als Feld der Heuchelei schlechthin

Etwas Anderes sei es allerdings, ob aus dem Selbstbestimmungs- oder Identitätsrecht kirchlicher Organisationen auch das Recht folge, das Privatleben der Mitarbeiter "zu zensieren und zu überwachen nach durchaus bestreitbaren Dogmen der katholischen Sittenlehre", so der Journalist.
"Dieses Feld der Wiederverheiratung ist ja das Feld der Heuchelei schlechthin", betonte er. Denn es sei noch niemand daran gescheitert, die erste Ehe "unter nichtigen Gründen" von der Kirche annullieren zu lassen. Das sei ein völlig haltloser Grundsatz, sagte Jessen.
(bth)

Jens Jessen ist Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit" im Feuilleton, das er von 2000 bis 2014 auch leitete. Zuvor war er Feuilletonchef bei der "Berliner Zeitung" und Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Begonnen hatte der Autor und Publizist seine Laufbahn von 1984 bis 1988 als Verlagslektor in Stuttgart und Zürich. 2012 erschien im Carl Hanser Verlag Jessens Roman "Im falschen Bett".

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