L 1 KR 46/17

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 21 KR 2381/13
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 46/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen. 2. Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. 3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe einer Krankenhausvergütung.

Bei der Klägerin befand sich der bei der Beklagten versicherte L. vom 26. April bis 28. April 2009 in stationärer Behandlung aufgrund einer chronischen Infektion der Herzschrittmachertasche mit dem Ziel der Lasersondenextraktion.

Mit Endabrechnung vom 11. Mai 2009 stellte die Klägerin der Beklagten 5.001,43 Euro nach der DRG F18A in Rechnung. Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein und beauftragte ihn mit der Klärung folgender Frage: "War die präoperative Aufnahme medizinisch begründet?" Der MDK kreuzte auf der entsprechenden Prüfmitteilung an die Klägerin folgende zuzusendenden Unterlagen (und damit alle Optionen) an: "Endgültiger Entlassungsbericht, Verlegungsbericht, Verlaufsbericht/ Prozedurenberichte soweit erfolgt, z.B. OP-Bericht, Herzkatheterbericht, Beatmungsprotokoll(e) etc./ kumulatives Laborblatt/ Bei der kassenseitigen Frage nach Zusatzentgelten bitten wir Sie um geeignete Kopien aus der Krankenakte, die Art und Umfang der abgerechneten Zusatzentgelte sicher belegen".

In der Folge kam der MDK zu der Einschätzung: "Aus den hier vorliegenden Unterlagen ergeben sich keine Hinweise auf eine Notwendigkeit von Maßnahmen, die an die spezifischen Möglichkeiten eines Krankenhauses am 26.04.2009 (d.h. einen Tag vor dem ärztlichen Eingriff) gebunden wären, bzw. die der besonderen Mittel und Einrichtungen eines Krankenhauses bedurft hätten" und kürzte die Verweildauer um einen Tag. Die Beklagte zahlte darauf hin lediglich 4.654,41 Euro an die Klägerin. Auch im Hinblick auf den von der Klägerin eingelegten Widerspruch verblieb die Beklagte bei ihrer Auffassung und teilte dies der Klägerin am 8. Juni 2010 unter Anforderung einer korrigierten Rechnung mit. Eine Reaktion der Klägerin hierauf blieb zunächst aus.

Mit Schreiben vom 13. November 2013 übermittelte die Klägerin der Beklagten dann eine korrigierte Krankenhausabrechnung. In dieser Rechnung kürzte die Klägerin die Verweildauer um einen Tag, erhob aber ein Zusatzengelt für den Einsatz eines E.-Lasers zur Extraktion von Schrittmacher- und Defibrillatorelektroden. Die Beklagte lehnte die nachträgliche Begleichung des Zusatzentgelts wegen Verwirkung ab.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 10. April 2017 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte berufe sich zu Recht auf den Einwand der Verwirkung. Die Zulässigkeit von Nachforderungen eines Krankenhauses wegen Behandlung eines Versicherten richte sich nach dem Rechtsgedanken des § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nach Treu und Glauben in Gestalt der Verwirkung. Diese setze als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen habe und weitere besondere Umstände hinzuträten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen ließen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" lägen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf habe vertrauen dürfen, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut habe, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand), und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet habe (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde.

Grundsätzlich passe das Rechtsinstitut der Verwirkung nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen vierjährigen Verjährungsfrist zwar nicht, als ein Verwirkungsverhalten sei aber regelmäßig die vorbehaltlose Erteilung einer nicht offensichtlich unschlüssigen Schlussrechnung eines Krankenhauses zu werten. Eine Vertrauensgrundlage entstehe in der Regel im Anschluss hieran, wenn das Krankenhaus eine Nachforderung weder im gerade laufenden noch im nachfolgenden vollen Haushaltsjahr der Krankenkasse geltend mache. Dieser Tatbestand sei vorliegend erfüllt, denn spätestens mit Mitteilung des Ergebnisses des Widerspruchsgutachtens des MDK am 8. Juni 2010 sei das MDK-Prüfverfahren aus Sicht der Beklagten abgeschlossen gewesen. Eine Nachforderung der Klägerin sei weder 2010 noch 2011, sondern erst 2013 erfolgt. Eine Verwirkung sei auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil die Schlussrechnung offensichtlich unschlüssig gewesen sei. Dies sei nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nur dann der Fall, wenn ein offensichtlicher, ins Auge springender Korrekturbedarf zu Gunsten des Krankenhauses bestehe. Ein solcher Ausnahmefall habe nicht vorgelegen, denn die Rechnung sei durchaus schlüssig gewesen, da eine Revision eines Herzschrittmachers nicht den Einsatz eines E.-Lasers erfordere. Es hätte daher schon der Studie des konkreten Falles und der weiteren Unterlagen bedurft, um die Fehlerhaftigkeit der Abrechnung festzustellen.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 30. Mai 2017 zugestellte Urteil am 28. Juni 2017 Berufung eingelegt, mit welcher sie geltend macht, ihre Schlussrechnung sei offensichtlich und ins Auge springend fehlerhaft gewesen. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass die Beteiligten aufgrund eines dauerhaften Vertragsrahmens ständig professionell zusammenarbeiteten und in diesem Rahmen eine gegenseitige Rücksichtnahme zu erwarten sei. Schon in der Entlassungsanzeige per Datenträgeraustausch (DTA) sei der E.-Laser mit dem Code aufgeführt worden. Dieser Code dürfe nur in Zusammenhang mit Codes aus A verwendet werden und so sei es in der Entlassungsanzeige auch geschehen. Darüber hinaus handele es sich auch um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, was der Beklagten habe ins Auge springen müssen. Ersichtlich sei die Rechnung, in welcher der E.-Laser schlicht vergessen worden sei, unter Berücksichtigung der der Beklagten übermittelten DTA-Daten unschlüssig gewesen, was auch der Beklagten sofort erkennbar gewesen sei. Es liege somit kein Fall vor, in welchem eine aus den übermittelten Daten nicht erkennbare Prozedur nachberechnet worden sei. Der Beklagten habe der Widerspruch zwischen den übermittelten Daten und der Rechnung sofort ins Auge springen müssen, sie habe indes den Korrekturbedarf unter Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nicht beachtet. Auch dem MDK hätte der Widerspruch ohne weiteres ins Auge springen müssen, dies müsse die Beklagte sich zurechnen lassen. Zudem habe die Beklagte selbst ja den MDK eingeschaltet, also die Richtigkeit der Kodierung in Zweifel gezogen, nach der Rechtsprechung des BSG sei sie, die Klägerin, daher nicht gehindert, selbst im Rechtsstreit noch eine falsche Kodierung gegen die zutreffende auszutauschen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 10. April 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 3.184,75 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % ab dem 4. Dezember 2013 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und weist noch einmal darauf hin, dass sie die fehlende Berechnung der "E." nicht als "ins Auge springenden" Fehler betrachte, da weder sie noch der MDK Contollingaufgaben wahrzunehmen hätten Eine Abrechnungsprüfung erfolge allein anhand der angegebenen Abrechnungspositionen. Keineswegs bestehe eine Verpflichtung, "Abrechnungslücken" aufzuspüren, solange die Positionen für sich genommen korrekt und erklärlich seien. Es handele sich um ein Massengeschäft, das weitere Prüfprozeduren über die konkret vorgetragenen Abrechnungspositionen hinaus ausschließe.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 24. Januar 2019 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und Unterlagen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.

Sie erweist sich indes als unbegründet. Der Anspruch ist verwirkt. Das Sozialgericht hat daher die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen. Auf die Ausführungen wird nach § 153 Abs. 2 SGG nach eigener Prüfung Bezug genommen.

Mit der Berufung werden keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen. Das BSG hat seine in dem vom Sozialgericht in Bezug genommenen Urteil vertretene Auffassung inzwischen bestätigt und vertieft, indem es ausgeführt hat, dass die Krankenkasse auch darauf vertrauen dürfe, dass das Krankenhaus keine weiteren Nachforderungen erheben werde, wenn der MDK mit der Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Schlussrechnung beauftragt worden sei, weil die Kasse die Behandlungsdauer für unwirtschaftlich gehalten habe. Denn damit werde nicht die Richtigkeit der Kodierung in Zweifel gezogen, sondern ein wirtschaftliches Alternativverhalten, eine kürzere Behandlungszeit geltend gemacht. Leite eine Krankenkasse eine Auffälligkeitsprüfung ein (vgl. § 275 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 1c SGB V) und kürze sie eine Schlussrechnung wegen wirtschaftlichen Alternativverhaltens, ohne die Richtigkeit der Kodierung anzuzweifeln, so erschüttere sie nicht die Grundlage ihres Vertrauens auf die sachlich-rechnerische Richtigkeit und Vollständigkeit der Schlussrechnung. Sie lege bei diesem Verhalten gerade die Richtigkeit der Schlussrechnung zugrunde. Anders läge es, wenn Krankenhaus und Krankenkasse über die Richtigkeit der Kodierung stritten. Streite ein Krankenhaus über die sachlich-rechnerische Richtigkeit der Vergütung und lege es hierbei den vollständigen Behandlungsablauf offen, könne es nicht gehindert sein, im Laufe des Rechtsstreits zur Begründung seiner Forderung eine nach dem tatsächlichen Ablauf unzutreffende Kodierung gegen eine zutreffende Kodierung auszutauschen, soweit nicht gesetzeskonformes Vertragsrecht entgegenstehe. Hiervon sei der Fall, dass die Richtigkeit der Kodierung von der Krankenkasse überhaupt nicht in Zweifel gezogen werde, zu unterscheiden. Werde die Schlussrechnung ausschließlich wegen wirtschaftlichen Alternativverhaltens gekürzt, ohne die Kodierung in Zweifel zu ziehen, so sei die Grundlage des krankenkassenseitigen Vertrauens auf die sachlich-rechnerische Richtigkeit und Vollständigkeit der Schlussrechnung gerade nicht erschüttert, sondern liege dem Verhalten der Kasse zu Grunde (BSG, Urteil vom 23. Mai 2017 – B 1 KR 27/16 R – Juris).

So ist es auch hier. Die Beklagte stellte vorliegend die Richtigkeit der Kodierung nicht in Frage, sondern der Prüfauftrag an den MDK betraf ausschließlich die Frage, ob die Aufnahme des Versicherten bereits einen Tag vor dem Eingriff medizinisch begründet war und zielte damit allein auf eine Abrechnungsminderung wegen Unwirtschaftlichkeit. Dass der MDK dabei auf dem Formblatt an die Klägerin (möglicherweise standardmäßig) alle Alternativen anzufordernder Unterlagen angekreuzt hat, führt zu keiner anderen Beurteilung, denn der beschränkte Umfang des Prüfauftrags ergab sich aus dem Formblatt unzweifelhaft. Eindeutig stand dabei die korrekte Kodierung der Haupt-, Nebendiagnosen und Prozeduren nicht auf dem Prüfstand. Der Beklagten ging es – ausgehend von der abgerechneten DRG F18A und diese nebst allen Diagnosen und Prozeduren als korrekt unterstellend – um die Klärung, ob die frühzeitige Aufnahme des Versicherten medizinisch begründet war. Sie hat damit die Rechnung hinsichtlich der Kodierung überhaupt nicht auf Widersprüche untersucht und mit den Daten aus vorheriger Datenübermittlung auch nicht abgeglichen, was aber selbst nach dem Vortrag der Klägerin notwendig gewesen wäre, um den Fehler erkennen zu können. Dass der Fehler irgendwie erkennbar war, genügt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, welcher sich der Senat anschließt, indes nicht, er muss vielmehr offensichtlich und ins Auge springend sein.

Offensichtlich und ins Auge springend ist nach Auffassung des Senats ein Fehler indes nur, wenn sich dieser aus der Rechnung selbst ohne weiteres und auf augenfällige Art und Weise ergibt und nicht schon dann, wenn dazu andere zuvor übermittelte Daten – wie in diesem Fall die Entlassungsanzeige – abgeglichen werden müssen. Dies gilt nach Auffassung des Senats selbst dann, wenn der Fall als solcher Besonderheiten aufweist, die üblicherweise die Aufmerksamkeit der Beklagten wecken und zu einer gesonderten Überprüfung der medizinischen Notwendigkeit führen können, wie dies für die vorliegend geltend gemachte neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode des E.-Lasers gilt.

Solange diese Frage gerade nicht Gegenstand der Überprüfung durch den MDK war – wie es vorliegend der Fall ist – ist der Fehler nicht schon wegen dieser Besonderheit offensichtlich, eben weil seine Aufdeckung als weiteren Zwischenschritt den Abgleich der Daten aus dem Datenträgeraustausch mit denen der Rechnung voraussetzt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO.

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil sich das Bundessozialgericht mit der Frage, welche Unterlagen für die Frage der Offensichtlichkeit eines Fehlers heranzuziehen sind, noch nicht befasst hat und der Senat diese Frage für klärungsbedürftig hält.
Rechtskraft
Aus
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