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Üble Folgen der Personalnot für Intensivpatienten im Klinikum

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Die Intensivstation des Klinikums Lüdenscheid.
Die Intensivstation des Klinikums Lüdenscheid. © Wolfram Schroll/Klinikum Lüdenscheid

Lüdenscheid - Das Klinikum Lüdenscheid wird auch auf seiner Intensivstation die neuen Pflegepersonal-Untergrenzen erfüllen – allerdings nicht etwa durch die Einstellung zusätzlicher Krankenschwestern und -pfleger. Diese gibt es auf dem Arbeitsmarkt nämlich einfach nicht. Stattdessen zahlt man einen hohen Preis.

Das Problem muss nach Darstellung von Dr. Thorsten Kehe, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung der Märkischen Gesundheitsholding und der Märkischen Kliniken, notgedrungen anders gelöst werden – nämlich durch die Reduzierung der Zahl von Intensiv-Pflegebetten.

Worum geht es eigentlich? 

Zum 1. Januar 2019 ist eine neue Pflegepersonal-Untergrenzenverordnung in Kraft getreten, die gewährleisten soll, dass Patienten in vier besonders „pflegesensitiven“ Krankenhausbereichen ausreichend versorgt werden. Bis zum 31. März galt eine Übergangsfrist für die Krankenhäuser. Wer die Untergrenzen ab dem 1. April nicht einhält, muss Vergütungsabschläge in Kauf nehmen, bekommt also weniger Geld von den Krankenkassen.

Warum war die Einführung der Pflegepersonal-Untergrenzen erforderlich? 

Am 23. August 2018 sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dazu: „Bereits seit Juli 2017 haben die Interessenvertreter von Krankenhäusern und Krankenkassen den Auftrag, Personaluntergrenzen für pflegesensitive Krankenhausbereiche selber festzulegen. Diese Verhandlungen sind gescheitert“. Dieses „Versagen der Selbstverwaltung“ erfordere das Handeln der Politik „zum Schutz der Patienten und Pflegekräfte“.

Sind die Untergrenzen überhaupt ausreichend? 

Der Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV), Johann-Magnus von Stackelberg, hat da seine Zweifel. Er vergleicht die Vorgaben mit der „Schulnote 4 minus – gerade noch versetzt“. Dr. Thorsten Kehe sieht das anders. Die Deutsche Gesellschaft für Intensivmedizin halte eine optimale Besetzung von Intensivstationen bei einem Stellenschlüssel von 1:2 für gegeben. Spahns Verordnung fordere 1:2,5. Diese halbe Stelle, sagt Dr. Kehe, könne doch keine Differenz von „optimal“ zu „gerade noch ausreichend“ ausmachen.

Sind außer dem Haus in Lüdenscheid auch die Krankenhäuser in Werdohl und Letmathe betroffen? 

Nicht direkt. Die Geriatrie in Werdohl fällt als Teil der internistischen Abteilung nicht unter die Spahn-Vorgaben, erfüllt sie aber bisher schon bis auf eine Ausnahme. Sie hat nur eine statt der geforderten zwei Nachtwachen. Die Intensivstationen in den beiden Häusern fallen nicht unter die Regelung für Hochleistungs-Intensivstationen, wie sie nun für Lüdenscheid gilt.

Wie viele Pflegekräfte arbeiten derzeit insgesamt im Klinikum Lüdenscheid? 

In Lüdenscheid sind rund 550 sogenannte Vollkräfte beschäftigt. Der Begriff Vollkraft kann beispielsweise auch zwei Halbtags-Beschäftigte bezeichnen. Laut Dr. Thorsten Kehe können pro Jahr durchschnittlich zehn Vollstellen nicht besetzt werden.

Was bedeutet die neue Verordnung für die Stationen der Kardiologie, Geriatrie und Unfallchirurgie in Lüdenscheid?

Hier ändert sich nichts. Die vorgeschriebenen Zahlen wurden laut Dr. Kehe auch bisher schon erfüllt. Allerdings sei die Personaldecke dünn und lasse kaum Ausfälle zu, ohne die Vergütung zu gefährden.

Wir groß ist die Lüdenscheider Intensivstation? 

Auf der Zentralen Intensivstation 8.7 und 8.9 gibt es bis zu 40 Betten für unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten streng intensivpflichtiger Patienten. Dies sind Menschen mit Organversagen sowie Beatmungspatienten. Ein Herzinfarkt-Patient dagegen, bei dem kein Organversagen vorliegt und der nicht beatmet wird, ist im engeren Sinn kein Intensivpatient. Er kommt auf eine sogenannte Intermediate-Care-Station zur Intensivüberwachung. Diese ist zwar räumlich abgeschlossen, liegt aber direkt an der Intensivstation. Sie leistet mehr als eine normale Station, benötigt aber nicht die komplette technische Intensivausstattung.

Wie viele Patienten werden auf der Intensivstation jährlich behandelt? 

Laut Homepage des Klinikums werden etwa 2800 Patienten jährlich rund um die Uhr ärztlich und pflegerisch betreut.

Wurden für die Lüdenscheider Intensivstation, um die Pflegepersonal-Untergrenzenverordnung erfüllen zu können, zusätzliche Kräfte eingestellt? 

Nein. Dies sei nicht möglich, sagt Dr. Kehe. Er verweist darauf, dass Intensiv-Krankenpfleger wegen des bundesweiten Fachkräftemangels nicht verfügbar seien.

Wie hat man vor der Neuregelung auf der Intensivstation gearbeitet? 

Man hat laut Dr. Kehe bisher „sehr flexibel“ auf den Bedarf reagieren können: „Im Durchschnitt haben wir rund 30 Erwachsenen-Intensivbetten belegt. Wenn dann der 30. oder 31. Patient gekommen ist, haben wir den aufgenommen und behandelt. Gleichzeitig haben wir aber geschaut, welche Patienten schon fit genug sind, um sie auf Normalstationen verlegen zu können.“

Wie wird das ab dem 1. April aussehen, wie erfüllt man die Vorgaben? 

Dr. Kehe sagt: „Wir sind durch die erstmals erfolgten gesetzlichen Vorgaben dazu gezwungen, eine starre Obergrenze von 28 Patienten bei der Zahl der Intensivbetten einzuziehen, weil wir ganz einfach nicht mehr Pflegepersonal haben. Wenn die Intensivstation voll ist, dann müssen wir sie konsequent abmelden.“

Was passiert, wenn sich das Klinikum über die Vorgaben hinwegsetzt? 

Zum einen bekommt das Haus dann weniger Geld. Der erhöhte Aufwand für die Intensivpflege wird nicht bezahlt. Außerdem muss das Klinikum laut Dr. Kehe mit haftungsrechtlichen Problemen rechnen, wenn es den selbst auferlegten Aufnahmestopp für weitere Intensivpatienten über die Zahl von 28 hinaus nicht einhält. Nehme man jetzt also zu viele Patienten für zu wenige anwesende Pflegekräfte auf, könnten letztendlich alle Beteiligten, die einen Patienten betreuen, in Haftung genommen werden, wenn etwas schiefgehe.

Welche Folgen wird die neue Situation für die Intensivpatienten haben? 

Für Dr. Kehe ist der Fall klar: „Aufgrund der mangelnden Flexibilität, die uns jetzt verordnet wird, werden Intensivpatienten viel häufiger in andere Kliniken verlegt werden müssen – manchmal vielleicht nur, weil in dieser oder in der nächsten Schicht eine Pflegekraft nicht zur Verfügung steht.“ Natürlich werde die Erstversorgung eines Notfallpatienten weiter in Lüdenscheid erfolgen, wenn er hier eingeliefert werde. „Das tun wir auch gerne, dafür sind wir da. Aber danach sind wir alleingelassen. Wir müssen sehen, wie wir den Patienten irgendwo anders unterbringen, wenn’s bei uns nicht geht. Das nimmt uns keiner ab.“

Gab oder gibt es wegen der Personalknappheit Stationsschließungen? 

Die Zahl der Betten werde laufend an den Bedarf angepasst, erläutert Dr. Kehe. Größere Patientengruppen müsse man zum Beispiel heute nicht mehr stationär, sondern könne sie in Kooperation mit niedergelassenen Ärzten ambulant betreuen. Dieser Umstand und auch saisonale Einflüsse führten zu einem Rückgang des Betten-Bedarfs und zu zeitweiligen Stations-Schließungen. Fest und für immer geschlossen sei aber keine Station. Im Moment gebe es unterm Strich aber tatsächlich weniger Bettenbedarf.

Schließt das Klinikum trotz des Mangels an Fachkräften noch Zeitverträge ab? 

Der Chef sagt „Nein“. Dies sei in der Vergangenheit stets ein Kritikpunkt gewesen – auch noch, als er vor fünf Jahren nach Lüdenscheid gekommen sei. Krankenpflegeschüler seien nur bei guten Noten unbefristet übernommen worden. Das könne man sich heute gar nicht mehr erlauben. Zudem habe Lüdenscheid mit seiner Lage am Rande von Ballungsgebieten in Hinblick auf die Gewinnung von Fachkräften von vornherein „ein kleines Handicap“. Die letzten noch existierenden Zeitverträge werden jetzt entfristet.

Was kann das Klinikum selbst gegen den Pflegenotstand tun? 

Dr. Kehe sieht Hellersen gegenüber anderen Krankenhäusern „noch privilegiert“, weil die Märkischen Kliniken eine eigene Krankenpflegeschule unterhalten. Die Ausbildung dort wolle man weiter intensivieren.

INFO

DIE NEUEN PFLEGEPERSONAL-UNTERGRENZEN

Folgende Untergrenzen sind vorgesehen:

Intensivmedizin: Tagschicht maximal 2,5 Patienten pro Pflegekraft; Nachtschicht 3,5 Patienten pro Pflegekraft. Ab 1. Januar 2021 gilt: Tagschicht 2 Patienten pro Pflegekraft; Nachschicht 3 Patienten pro Pflegekraft.

Geriatrie (Altersheilkunde): Tagschicht 10 Patienten pro Pflegekraft; Nachtschicht 20 Patienten pro Pflegekraft.

Unfallchirurgie:  Tagschicht 10 Patienten pro Pflegekraft; Nachtschicht 20 Patienten pro Pflegekraft.

Kardiologie (Herzmedizin): Tagschicht 12 Patienten pro Pflegekraft; Nachtschicht 24 Patienten pro Pflegekraft

KOMMENTAR

Keine gute Nachricht

Es ist keine gute Nachricht, dass das Klinikum Lüdenscheid die Zahl seiner Intensivpflegeplätze ab dem 1. April auf 28 deckeln wird. Es ist die Nachricht über eine Entscheidung, die im allerschlimmsten Fall Menschenleben kosten kann. Nämlich dann, wenn die Intensivstation unwiderruflich ausgelastet ist und ein lebensbedrohlich Erkrankter in ein weiter entferntes Krankenhaus gebracht werden muss.

Die Geschäftsleitung der Märkischen Kliniken hat aber jetzt offenbar keine andere Wahl. Ist Pflegepersonal heute schon allgemein kaum noch zu bekommen, so gilt das erst recht für die hochspezialisierten Frauen und Männer, die ihren Dienst auf der Intensivstation verrichten. Ergo: Wenn man die Realität nicht nach seinen Wünschen gestalten kann, muss man seine Wünsche eben der Realität anpassen.

Die schweren Fehler sind in der Vergangenheit gemacht worden. Viel zu lange wurden Krankenschwestern und -Pfleger miserabel bezahlt und in brutale Schichtpläne gepresst. Dies war ein überdeutliches Zeichen mangelnden Respekts.

Apropos Respekt: Wer schon einmal miterlebt hat, wie unverschämt und fordernd gar nicht so wenige Patienten und deren Angehörige mit dem Pflegepersonal umspringen, der wundert sich über gar nichts mehr. Auch nicht darüber, dass so manche Schwester einfach keine Lust mehr darauf hat, ihren Beruf auszuüben. Es ist also kein Zufall, dass so viele, die einmal aus der aktiven Pflege in einem Krankenhaus ausgestiegen sind, auf keinen Fall wieder zurück wollen.

Es gibt auf allen Ebenen noch viel zu tun, bis der Pflegeberuf für junge Menschen wieder attraktiv ist.

Willy Finke

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