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LVZ-Interview

Chef-Kinderarzt der Uniklinik: „Leipzig braucht nur ein großes Krankenhaus“

Wieland Kiess, Chef der Kinderklinik am Universitätsklinikum Leipzig (UKL).

Wieland Kiess, Chef der Kinderklinik am Universitätsklinikum Leipzig (UKL).

Leipzig. Die Bertelsmann-Studie, nach der mehr als jede zweite deutsche Klinik schließen sollte, hat eine umfangreiche Debatte angestoßen. Wieland Kiess, Chef der Kinderklinik am Universitätsklinikum Leipzig (UKL) erklärt, weshalb er die Schlussfolgerungen der Studie für richtig hält. Der Pädiatrie-Professor im LVZ-Interview.

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Herr Professor Kiess, wie beurteilen Sie die Ergebnisse und Aussagen der Bertelsmann-Studie?

Ich habe unserer damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) schon vor 15 Jahren gesagt, dass man die Hälfte der deutschen Kliniken schließen könnte. Das würde die Personalsituation entkrampfen, die Qualität steigern und die Kosten um 50 Prozent senken. Übrigens gab es damals, vor 15 Jahren, in der Großstadt München so viele Kernspintomographen wie in ganz Italien. Da kann doch etwas nicht stimmen.

Nun argumentieren kleinere Häuser mit wohnortnaher Versorgung und der schnellen Behandlung vieler akuter Notfälle.

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Ich will eines klar stellen: Es geht nicht darum, dass ich die Leistungen von Ärzten und Pflegekräften an kleinen Standorten schlecht reden will. Die machen alle gute Arbeit. Aber es ist eben so, dass die Ausstattung in vielen Fällen nicht da ist – und die Erfahrung oft auch nicht. Wenn ein bestimmter Eingriff nicht 150 mal pro Jahr durchgeführt wird, sondern nur zwei mal. Das kann gefährlich werden für den Patienten.

Haben Sie Beispiele aus Ihrem Klinikalltag?

Es gibt immer wieder schwere Fälle, die zu spät zu uns kommen. Da gab es ein elf Monate altes Kind, das in einem Dorf zu Hause vom Sofa gefallen ist und bewusstlos wurde. Die Mutter ging sofort ein paar Häuser weiter zum Hausarzt. Der schickte die Mutter ins nächste Krankenhaus. Dort gab es keine Kinderabteilung, also ging es weiter in eine andere Klinik. Die hatte zwar eine Pädiatrie, aber kein Kinder-MRT, keine Kinder-Intensivstation und keine Kinder-Neurochirurgie. Also kam das Kind mit dem Hubschrauber ans UKL. In der Zwischenzeit waren aber mehrere Stunden vergangen, das Kind starb an einer Hirnblutung. Möglich, dass es noch leben könnte – hätte die Mutter ihr Kleines im eigenen Auto sofort zu uns gebracht.

Zweites Beispiel: Eine Mutter wurde mit einem sechsjährigen Mädchen, das Atemprobleme hatte, in einer Klinik vorstellig. Es gab eine Fehldiagnose, das Kind fiel ins Koma, dann musste es wiederbelebt werden und wurde schließlich ins Herzzentrum und dann zu uns verlegt, wo ihm am Ende nicht mehr geholfen werden konnte und es dann leider verstorben ist. Das Kind hatte einen bis dahin nicht erkannten Diabetes.

Drittes Beispiel: Ein Neurochirurg an einer weiter entfernten Klinik operierte ein Kind mit einem Hirntumor; er ist aber kein Experte für Kinder-Neurochirurgie. Der Kollege konnte während des Eingriffes den Tumor nicht komplett entfernen. Wenn Sie aber in solchen empfindlichen Strukturen einmal erfolglos eingreifen, können Sie hinterher oft nichts mehr tun. Das Mädchen kam zu uns; unsere hochspezialisierten Kinder-Neurochirurgen sahen keine Chance mehr, den Fehler zu reparieren. Ob das Mädchen bei einem anderen Verlauf hätte geheilt werden können, weiß ich nicht. Aber es hätte größere Chancen gehabt, wenn es gleich bei uns behandelt worden wäre. Am Ende landen solche Patienten sowieso mit dem Hubschrauber bei uns.

Wir machen alle Fehler, ich will aber deutlich machen: Wir haben ein Systemproblem.

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Dabei galt doch das deutsche Gesundheitssystem bisher immer als gut.

Es ist auch gut, aber es ist im Vergleich extrem teuer – und es könnte noch deutlich besser sein. Selbst in Rumänien vergeht, verglichen mit Deutschland, im Schnitt die Hälfte der Zeit zwischen einem Herzinfarkt und der Behandlung im Herzkatheter. Auch dort gibt es zentrale Strukturen. Oder nehmen Sie das Beispiel Dänemark, wo es eine groß angelegte Konzentration in der Kliniklandschaft gab, auch im Rettungswesen, in den Rettungsleitstellen. Das Ganze war ein Erfolg. Im Durchschnitt ist die Sterblichkeit bei Herzinfarkten dort um die Hälfte niedriger. Weil die Patienten zwar vielleicht etwas weiter in ein zentrales Krankenhaus gefahren werden müssen, dann aber sofort dort landen, wo sie von erfahrenen Fachkräften in Medizin und Pflege behandelt werden. Und nicht erst von A, über B nach C transportiert werden.

Nun ist Dänemark ein viel kleineres Land.

Das Rettungswesen in Flächenländern wie Kanada oder Australien ist auch nicht schlechter, und da reden wir von ganz anderen Entfernungen. Bei uns ist das Rettungswesen kleinteilig und dezentral organisiert.

Es gab ja auch bei uns die Zusammenlegung von Rettungsleitstellen. Als Gegenargument wird auch heute noch angeführt, dass in großen Einheiten die Kenntnis der lokalen Gegebenheiten verloren geht.

Ich kann dieses Argument überhaupt nicht nachvollziehen. Es gibt heute GPS, da sucht doch keiner mehr mit dem Finger auf der Landkarte, wo welche Straße liegt.

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Wie viele Kliniken bräuchten wir in Leipzig?

Wir brauchen eigentlich nur einen großen Klinikstandort, der alles kann, der dann natürlich eine entsprechende Größe haben, exzellent ausgestattet und hervorragend organisiert sein muss. Es gibt an allen Leipziger Kliniken hervorragende Ärzte und Pflegekräfte, aber eben nicht gebündelt. So etwas kann gelingen, es gibt genügend Beispiele. Konzentrationen im Klinikbereich sind für den Patienten besser – und darum muss es ja vor allem gehen. Aber auch dem Pflege- und Fachärztemangel könnten wir so ein Stück weit begegnen.

Würden denn alle Pflegekräfte und Fachärzte aus kleineren Standorten in ländlichen Gebieten an große Zentren wechseln wollen?

Alle sicher nicht. Aber nehmen Sie die Facharzt-Situation an kleinen Häusern in den Regionen. Da finden Sie ganz wenig Leute, die dorthin wollen. Die bewerben sich bei uns. Das ist gut für uns, aber draußen ist das ein echtes Problem. Da haben Sie dann eben im Zweifelsfall manchmal nicht rund um die Uhr den Facharzt, den Sie gerade brauchen. Es ist doch so, dass die zahlreichen Kliniken in extremer Konkurrenz stehen um Ärzte und Pflegekräfte. Und auch um Patienten; deswegen wird auch manchmal zu spät an ein großes Zentrum überwiesen.

Im ambulanten Bereich hat man den Eindruck, dass Konkurrenz nicht so das Problem ist; Facharztpraxen sind zum Teil hoffnungslos überlaufen.

Grundsätzlich ist festzuhalten: Die Deutschen gehen – verglichen mit anderen Ländern – extrem oft zum Arzt. Mein Vorschlag wäre, dass der Hausarzt und die Gemeindeschwester, wie es sie schon in der DDR gab, eine stärkere Rolle spielen und auch mehr Aufgaben von Fachärzten übernehmen.

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Aber das würde doch nichts daran ändern, dass Eltern keine Termine bei Kinderärzten bekommen – zum Beispiel für Neugeborenen-Untersuchungen.

Doch. Wenn Hausärzte oder Gemeindeschwestern, entsprechend geschult, die Neugeborenen-Untersuchungen durchführen. Oder auch Impfungen. Das kann eine erfahrene Schwester besser als ich. Die niedergelassenen Kinderärzte könnten sich dann auf die echten Behandlungsfälle konzentrieren. Übrigens muss auch ein Zwölfjähriger nicht mehr zum Kinderarzt, der Hausarzt behandelt den genauso gut. Wie gesagt: Der Hausarzt müsste eine zentralere Rolle einnehmen, eine echte Lotsenfunktion übernehmen. Dann wäre auch eine besser koordinierte Behandlung möglich. Die Bevölkerung wäre besser versorgt.

Ist der Hausarzt nicht heute schon ein Lotse?

Heute ist es doch so: Wenn Sie Bluthochdruck haben, schickt man Sie zum Kardiologen, zum Nephrologen, zum Endokrinologen und zum Ultraschall. Von allen bekommen Sie irgendetwas gesagt, es gibt aber selten eine koordinierte Behandlung. Für den Patienten wäre es besser, wenn der Hausarzt Sie an ein ambulantes Zentrum schickt, wo alles aus einer Hand kommt und von wo es einen gemeinsamen Therapievorschlag gibt und dann die Rückkopplung zum Hausarzt. Aber so ist es halt oft nicht.

Bertelsmann-Studie sorgt für Debatten

Nach der gerade veröffentlichten Bertelsmann-Studie sollte mehr als jede zweite deutsche Klinik schließen. Von den derzeit knapp 1400 Krankenhäusern würden deutlich weniger als 600 größere Kliniken bestehen bleiben. Diese könnten dann, so die Argumentation, mehr Personal und eine bessere Ausstattung erhalten. Mit der Konzentration medizinischer Kompetenzen auf Komplexversorger – also große Klinikstandorte – würde die Qualität der Versorgung steigen, heißt es. Kleine Häuser hätten oft nicht die Ausstattung, das Personal und die Erfahrung für eine hochwertige Behandlung – etwa bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. Viele Komplikationen und Todesfälle ließen sich durch eine Bündelung von Kompetenzen und Geräten vermeiden. Eine ARD-Dokumentation kam vor kurzem zu ähnlichen Ergebnissen. Dort wurde unter anderem auf Erfahrungen in Dänemark verwiesen, wo die vollzogene Schließung von Standorten und die Zentralisierung als erfolgreich betrachtet wird. Die Studie steht wegen der weitreichenden Konsequenzen, die die Umsetzung der Forderungen hätte, heftig in der Kritik – vor allem in ländlichen Regionen.

Von Björn Meine

LVZ

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