Ein Kinderkrankenhaus, das sich nicht lohnt – Seite 1
Seit November 2014 ist für Familie Bäder nichts mehr, wie es war. Ärzte diagnostizierten bei der damals dreijährigen Tochter Dorothea
ein Medulloblastom. Der bösartige Tumor saß im Kleinhirn, er musste entfernt
werden. Das Mädchen wurde operiert, bestrahlt und in mehreren Etappen mit Chemotherapie
behandelt. Der Krebs verschwand. Doch im Oktober 2018 tauchte er wieder auf.
Seitdem liegt Dorothea erneut im Krankenhaus. Sie bekommt eine Langzeitchemotherapie, die Kinderklinik in St. Augustin bei Bonn ist für sie zu einem zweiten Zuhause geworden – wie für viele andere schwer kranke Kinder. "Die Menschen hier opfern sich auf", sagt Mutter Corina. "Ob Putzkraft oder Chefarzt, hier haben alle dasselbe Ziel: Sie wollen, dass Patienten und Eltern sich wohlfühlen."
Damit könnte es allerdings bald vorbei sein. Anfang Juli verkündete der Träger, die Hamburger Asklepios-Klinikgruppe, dass das renommierte Kinderherzzentrum geschlossen werden soll. Das jedoch gefährdet die Existenz der gesamten Kinderklinik. Asklepios begründet die Entscheidung damit, dass zwei führende Herzspezialisten das Krankenhaus verlassen haben. Die beiden wurden von der Uniklinik Bonn abgeworben, die nur etwa 20 Kilometer entfernt seit einigen Jahren eine Art Hightech-Krankenhaus-Stadt aufbaut; inklusive Kinderklinik und Kinderherzzentrum.
Das Beispiel der St. Augustiner Kinderklinik steht stellvertretend für einen Streit, der die Gesundheitspolitik in Deutschland schon länger umtreibt: Wie viele Krankenhäuser braucht das Land? Ist es entscheidend, dass jeder Wohnort eine Klinik in erreichbarer Nähe hat, ist es gar die Pflicht der öffentlichen Hand, für eine Grundversorgung im nahen Umkreis zu sorgen? Oder ist es an der Zeit, mehrere Häuser zusammenzulegen zu großen Klinikzentren, die dann – so das Argument der Befürworter – womöglich eine bessere oder zumindest kostengünstigere Versorgung anbieten könnten?
Zu viele Kliniken, zu wenig Subventionen
Patienten in Deutschland könnten mit weniger als der Hälfte der bisherigen Krankenhäuser auskommen. Das hatte im Juli die Studie Zukunftsfähige
Krankenhausversorgung nahegelegt (siehe Box unten). Die
Versorgungsqualität würde dadurch besser, schrieben die Autorinnen und Autoren,
insbesondere bei Akutfällen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Die Kritik war groß.
Die Studie propagiere "die Zerstörung von sozialer
Infrastruktur in einem geradezu abenteuerlichen Ausmaß", sagte Gerald
Gaß,
Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Bundesärztekammerpräsident
Klaus Reinhardt nannte das Papier bedenklich und verwies auf eine von
der Bundesregierung
eingesetzte Kommission, die "gerade erst die Bedeutung der
Daseinsvorsorge und
Sicherung einer gut erreichbaren Gesundheitsinfrastruktur
herausgestellt" habe.
Träger wie der Asklepios-Konzern aber sahen sich bestätigt. Sie fordern ohnehin seit vielen Jahren, den Krankenhausmarkt umzugestalten. Ihr Standpunkt: Weil es so viele Kliniken gebe, würden die knappen staatlichen Subventionen falsch verteilt. Dadurch komme es "zu erheblicher Ineffizienz in der Versorgung und Fehlallokationen", teilt Asklepios-Vorstandsvorsitzender Kai Hankeln auf Anfrage mit. Tatsächlich ist die finanzielle Lage vieler Krankenhäuser in Deutschland prekär. Nach jüngsten Zahlen der DKG schrieb im Jahr 2017 jede dritte Klinik rote Zahlen. Doch statt mutig und planmäßig Krankenhäuser zu fusionieren und Fachabteilungen oder ganze Standorte zu schließen, kritisiert Hankeln, würden "unter dem Vorwand der Wettbewerbs- und Qualitätsorientierung … die ungewollten Häuser auf Imagekosten der Träger aussortiert, wie es ganz aktuell in Sankt Augustin geschieht".
70 Mitarbeiter haben die Kündigung eingereicht
In St. Augustin hat der Abgang der beiden Koryphäen eine
Kettenreaktion in Gang gesetzt: Die Ärzte könne man laut Asklepios
aufgrund mangelnder Kandidatinnen und Kandidaten nicht einfach gleichwertig ersetzen. Ein
Herzzentrum ohne herausragendes medizinisches Personal aber sei nicht zu
halten, die Schließung der Abteilung beschlossen. Da das Zentrum etwa die Hälfte der Erlöse aller Stationen erwirtschafte, wird nun die
Abwicklung der gesamten Klinik erwogen.
Dabei genießt das Krankenhaus bundesweites Renommee. St. Augustin ist ein sogenannter Maximalversorger in der Kindermedizin, einschließlich Traumazentrum, Schockraum und Hubschrauberlandeplatz. Es gibt zahlreiche Fachdisziplinen; Rheumatologie, Orthopädie und Neurochirurgie sind international anerkannte Referenzzentren. Die Ärztinnen und Ärzte der Notfallambulanz versorgen jährlich 50.000 Fälle – gebrochene Arme, Fleischwunden, Wespenstiche sowie schwer verletzte Unfallopfer. Auch die Kinderonkologie, in der die inzwischen achtjährige Dorothea betreut wird, hat sich über die Jahre einen Namen erworben. Die Patienten kommen aus ganz Deutschland und dem Ausland hierher.
Personal, Patienten und Eltern sind entsetzt. Aus Angst vor der ungewissen Zukunft des Hauses hätten inzwischen 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – von insgesamt 850, wie Asklepios angibt – die Kündigung eingereicht, ist aus Klinikkreisen zu hören. Das Kinderkrankenhaus kämpft ums Überleben.
Die Konkurrenz wird ebenfalls subventioniert
"Man kann kaum ermessen, wie wichtig die Klinik für
alle, die darin arbeiten, und für die Menschen hier ist", sagt Corina Bäder. Die vierfache Mutter wohnt
mit ihrer Familie im 25 Kilometer entfernten Eitorf. Zur Bestrahlung sei sie
mit ihrer Tochter auch schon mal in der Uniklinik Köln gewesen. Aber das sei
etwas ganz anderes. "In St. Augustin haben alle ein Ohr für die Kinder", sagt
die 42 Jahre alte Physiotherapeutin. "Zu den Ärzten ist ein
Vertrauensverhältnis gewachsen, man kann mit ihnen auf dem Gang sprechen. So
etwas ist viel Wert, auch für den Heilungsprozess. Man kann nicht immer alles
an der Wirtschaftlichkeit ausrichten."
Dem Asklepios-Konzern käme die Schließung nicht ungelegen, die Klinik macht seit Jahren Verluste. Womöglich hat die wirtschaftliche Schieflage viel mehr mit der nordrhein-westfälischen Landespolitik zu tun als mit dem Klinikmanagement. Früher erhielten die Träger des Krankenhauses je nach Investitionsbedarf pro Jahr mehrere Millionen Euro vom Land, um die Klinik in Stand zu halten. Heute gibt es nur noch eine Pauschale von etwa 600.000 Euro per annum – und die Konkurrenz im nahe gelegenen Bonn, die St. Augustin in Schwierigkeiten bringt, wird ebenfalls von der Landesregierung subventioniert.
Nach Informationen von ZEIT ONLINE hat das Unternehmen
Akteneinsicht bei der Landesregierung beantragt. Seine Vertreter wollen wissen: Wer hat in Düsseldorf wann die Entscheidung getroffen, quasi in Sichtweite in Bonn ein Kinderherzzentrum zu fördern, obwohl nur
wenige Kilometer entfernt bereits eine angesehene Einrichtung existiert? War es
ein Versehen? Oder gar eine bewusste Entscheidung, um mit St. Augustin eine unliebsame Klinik aus dem Weg zu räumen? Wie man hört, wolle Asklepios die Auskunft notfalls auch juristisch erzwingen.
Sollte die Klinik schließen müssen, beansprucht Asklepios dafür Geld aus der Steuerkasse und hat beim Land bereits einen hohen zweistelligen Millionenbetrag beantragt. Das Geld aus dem Krankenhausstrukturfonds soll den Aufwand aus langfristigen Lieferverträgen, die Ablösung von Darlehen sowie die Rückzahlung von Fördermitteln an die Behörden decken. Die Chancen scheinen nicht schlecht, dass Asklepios zumindest einen Teil davon bekommt: Das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium schreibt auf Anfrage, man wolle in der Periode 2019 bis 2020 mit dem Fonds insbesondere "die dauerhafte Schließung und träger- und standortübergreifende Konzentration von Krankenhäusern fördern".
"Hier arbeiten Überzeugungstäter"
Dass ein Krankenhaus für eine Schließung Geld vom
Steuerzahler bekommen könnte, hält Martina Messing-Jünger für unwahrscheinlich.
"Das wäre der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln", sagt die Medizinerin. Sie ist
2007 nach St. Augustin gekommen, um die neurochirurgische Abteilung der Kinderklinik aufzubauen.
Ihr Fachwissen ist erstklassig, inzwischen kann die Professorin in ihrem
Bereich zusammen mit der Berliner Charité die höchsten Fallzahlen im ganzen
Bundesgebiet vorweisen. Sie hatte schon einen Vertrag bei der Bonner
Uniklinik unterzeichnet, kündigte die neue Stelle aber noch vor ihrem Antritt.
"Mehr als Erwachsenenmedizin verlangt Kindermedizin eine
interdisziplinäre Ausrichtung", sagt Messing-Jünger. "Der Ansatz kam mir dort zu kurz." In St. Augustin habe sie alles, was sie für eine optimale
Behandlung der Patienten auf hohem Niveau brauche: kurze Wege, familiäre
Atmosphäre und ein Team, das sie eine eingeschworene Gemeinschaft nennt. "Hier
arbeiten Überzeugungstäter." Würde die Klinik in St. Augustin schließen, wäre das nicht aufzufangen.
Nur: Auch Messing-Jünger macht keine hohen Einnahmen für die Klinik. "Die gesamte Pädiatrie in Deutschland ist unterfinanziert, die Fallpauschalen sind zu niedrig angesetzt", sagt die Chefärztin. Das System mache es unmöglich, als Kinderärztin Gewinne zu erwirtschaften. "Das Ganze ist desaströs." Sie will Asklepios nicht von aller Schuld freisprechen, doch die Politik handle scheinheilig. "Die öffentliche Hand hat sich aus der Versorgungsverantwortung rausgezogen und kritisiert jetzt die Zustände."
Die schwarz-gelbe Landesregierung schiebt die Schuld vor allem auf ihre rot-grüne Vorgängerin. Asklepios-Chef Hankeln hat unterdessen den Glauben längst verloren, dass die Länder das Problem selbst lösen. Er fordert, die Planungshoheit für die Krankenhäuser von der Landes- auf die Bundesebene zu verlagern – doch ob die so handeln würde, wie Hankeln erwartet? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte erst kürzlich, ein Krankenhaus in Wohnortnähe sei für viele Bürger ein Stück Heimat.
Die acht Jahre alte Krebspatientin Dorothea hat mit ihrer Mutter einen
Brief an den zuständigen Landrat Sebastian Schuster verfasst. "Ich bin sehr
enttäuscht darüber, dass mein Krankenhaus in St. Augustin droht zu schließen", schreibt sie.
Trotz der Chemos komme sie gern dorthin, weitere Fahrten nach Bonn oder Köln
seien wegen ihrer Krankheit kaum möglich. "Im Ernst, lieber Herr Schuster, ich
trickse Sie nicht aus! Ich meine das alles ganz ernst!"
Seit November 2014 ist für Familie Bäder nichts mehr, wie es war. Ärzte diagnostizierten bei der damals dreijährigen Tochter Dorothea
ein Medulloblastom. Der bösartige Tumor saß im Kleinhirn, er musste entfernt
werden. Das Mädchen wurde operiert, bestrahlt und in mehreren Etappen mit Chemotherapie
behandelt. Der Krebs verschwand. Doch im Oktober 2018 tauchte er wieder auf.
Seitdem liegt Dorothea erneut im Krankenhaus. Sie bekommt eine Langzeitchemotherapie, die Kinderklinik in St. Augustin bei Bonn ist für sie zu einem zweiten Zuhause geworden – wie für viele andere schwer kranke Kinder. "Die Menschen hier opfern sich auf", sagt Mutter Corina. "Ob Putzkraft oder Chefarzt, hier haben alle dasselbe Ziel: Sie wollen, dass Patienten und Eltern sich wohlfühlen."