Eine Operation, für die es medizinisch keinen Anlass gibt, führt nicht nur zu Kosten, sondern schadet auch dem Patienten. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Eine Operation, für die es medizinisch keinen Anlass gibt, führt nicht nur zu Kosten, sondern schadet auch dem Patienten. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Ärzte gehen gegen schwarze Schafe in ihren Reihen vor

Die Chirurgen haben genug davon, als Sündenböcke für die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen dazustehen. Sie drohen den Verantwortlichen für die Überarztung mit Hinauswurf.

Simon Hehli
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Die einstigen Halbgötter in Weiss haben ein Imageproblem: In der politischen Debatte taucht in letzter Zeit vermehrt das Bild des Arztes als Abzocker auf, der sein ohnehin schon hohes Einkommen durch unnötige Behandlungen oder überrissene Rechnungen aufbessert. Eine vom Bundesrat eingesetzte Expertenkommission geht davon aus, dass rund 20 Prozent aller Eingriffe überflüssig sind. Unter dem Verdacht der Kostentreiberei stehen dabei weniger die Haus- und die Kinderärzte sowie die Psychiater – als vielmehr die Spezialisten.

«Wir werden immer wieder angefeindet, von der Bevölkerung, den Medien, der Politik», konstatiert Josef Brandenberg. Er ist Präsident des Verbandes FMCH, dem gut 20 Fachgesellschaften und Berufsverbände angehören, darunter jene der Chirurgen, Orthopäden, Augenärzte oder Gynäkologen. Schuld am angekratzten Image ist aus seiner Sicht eine kleine Gruppe von Spezialisten, die für die Negativschlagzeilen sorgen. «Wir distanzieren uns ausdrücklich von diesen schwarzen Schafen», sagt Brandenberg. Um die Nulltoleranz zu betonen, hat FMCH nun einen neuen «Code of Behaviour» verabschiedet.

Keine OP ohne richtige Indikation

Die Richtlinien legen fest, welches Verhalten der Verband für verwerflich hält. Dass manche Spezialisten offenbar Phantasiebezeichnungen auf ihren Briefkopf setzen, ist ein skurriles Detail. Weit gravierender sind Mängel bei der Behandlung. Die zentrale Weisung im Papier ist denn auch, dass Ärzte nur bei «klar ausgewiesenen, wissenschaftlich anerkannten und im Einzelfall begründeten Indikationen» zum Skalpell greifen dürfen.

Eine Operation, für die es medizinisch keinen Anlass gibt, führt nicht nur zu Kosten, sondern schadet auch dem Patienten. Doch wie verbreitet das Phänomen tatsächlich ist, weiss mangels Daten niemand. Holt eine Patientin keine Zweitmeinung ein, ist es unwahrscheinlich, dass eine falsche Indikation auffliegt. Manchmal hilft ein Tipp. Josef Brandenberg war vor einigen Jahren als Präsident der Orthopäden am Verfahren gegen einen Kollegen beteiligt. Die Unfallversicherung hatte Verdacht geschöpft – und eine Expertenkommission der Fachgesellschaft konnte nachweisen, dass das MRI eine Operation nicht rechtfertigte.

Brandenberg betont, dass das «Überarzten» aus finanziellen Motiven eine grosse Ausnahme sei. Allerdings hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) vor einigen Jahren nachgewiesen, dass gerade für Privatversicherte, mit denen sich viel Geld verdienen lässt, die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht ist, am Knie oder an der Hüfte operiert zu werden. Laut Brandenberg steigt jedoch auch bei den Patienten die Sensitivität. «Sie reagieren skeptisch, wenn ein Arzt sagt, er habe nächste Woche gerade noch einen Termin frei.»

Der «Code of Behaviour» verbietet es den Spezialärzten auch, sich bei der Rechnungsstellung kreativ anzustellen. Hier haben die Versicherer die Möglichkeit, mit statistischen Verfahren einem Teil der Trickser auf die Spur zu kommen. Ein Beispiel aus dem Aargau: Ein Gefässspezialist generierte in den Jahren 2017 und 2018 je einen Umsatz von rund 1,5 Millionen Franken. Der Krankenkassenverband Santésuisse konnte ihm nachweisen, dass er zu viele Berichte geschrieben und zu viele Konsultationen pro Patient durchgeführt und verrechnet hatte. Der Spezialist musste deshalb 320 000 Franken zurückzahlen.

Nicht schlimmer als die Baubranche

Laut Santésuisse verursachte 2017 jeder hundertste Arzt auffällig hohe Kosten pro Patient; gut 0,5 Prozent mussten bezogene Prämiengelder zurückerstatten. «Der Präsident der Baumeister erklärte einst, er gehe von etwa einem Prozent schwarzer Schafe in seiner Branche aus – da stehen wir gar nicht so schlecht da», sagt Josef Brandenberg.

Verboten ist es den Spezialärzten laut dem Verhaltenskodex zudem, Patienten abzuwerben – etwa bei Stellvertretungen oder in Notfallsituationen – und Geld oder Geschenke für die Zuweisung von Patienten anzunehmen. Sie dürfen sich von der Pharmaindustrie auch nicht dafür bezahlen lassen, ein Medikament oder ein Implantat zu empfehlen. Eine Zusammenarbeit der Mediziner mit der forschenden Industrie jedoch müsse weiterhin möglich sein, betont Brandenberg. «Das bringt die Medizin weiter.»

Er hält es auch für legitim, dass die Ärzte für ihren Beitrag zur Forschung entschädigt werden. Sie sollen allerdings transparent machen, wie viel Geld sie genau erhalten. Da gibt es noch Handlungsbedarf. Im Jahr 2017 bekamen gut 4000 Ärzte 12,5 Millionen für Referate oder eine Teilnahme an Kongressen. Doch obwohl sich die Pharmabranche zur Offenlegung der Geldströme verpflichtet hat, stehen laut dem «Beobachter» weiterhin viele Ärzte nicht öffentlich zum Sponsoring.

Denjenigen Ärzten, die sich nicht an die Richtlinien halten und denen dies nachgewiesen werden kann, droht der Ausschluss aus ihrer jeweiligen Fachgesellschaft. Diese soll auch den Kantonsarzt informieren. Die Behörden können dann darüber entscheiden, ob sie dem Mediziner die Bewilligung zur Berufsausübung entziehen.

Viel Geld für viel Leistung

Kritik zu hören bekommt aber auch diejenige Mehrheit der rund 2000 frei praktizierenden Spezialärzte, die keine Regeln bricht. Grund sind die hohen Einkommen: Laut einem Bericht im Auftrag des BAG verdient beispielsweise die Hälfte der Orthopäden mehr als 540 000 Franken im Jahr. Josef Brandenberg sagt, er stosse sich an exorbitanten Honoraren, die besonders im privaten Spitalbereich anfielen und die das ganze System der Zusatzversicherungen gefährdeten. Aber man müsse auch berücksichtigen, dass die hohen Einkommen oft eine Folge davon seien, dass viele seiner Kollegen auch zu Unzeiten verfügbar seien. «Und wenn ein Chirurg herausragende Qualitäten hat, dann besteht nun einmal eine hohe Nachfrage auch bei privaten Patienten – und er verdient entsprechend gut.»