Krankenkassen wollen hochsensible Patientendaten nutzen

Die Grundversicherer würden gerne mehr Einfluss nehmen auf die medizinische Behandlung ihrer Kunden. Nicht nur Gesundheitsminister Berset findet, das sei nicht die Aufgabe der Kassen.

Simon Hehli
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Krankenkassen wollen Daten ihrer versicherten Patienten nutzen, um Kosten zu sparen.

Krankenkassen wollen Daten ihrer versicherten Patienten nutzen, um Kosten zu sparen.

Karin Hofer / NZZ

Gesundheitsexperten sind sich weitgehend einig: Eine bessere Koordination der medizinischen Behandlungen führt zu höherer Qualität und idealerweise auch zu tieferen Kosten. Das zeigt ein Beispiel: Ein älterer Patient mit Hüftbeschwerden kommt zum Hausarzt, dieser empfiehlt ihm einen Orthopäden. Der Spezialarzt stellt fest, dass der Mann an fortgeschrittener Arthrose leidet, eine Operation im Spital mit fünftägigem Aufenthalt ist unausweichlich. Es folgen drei Wochen stationäre Rehabilitation, dann übernimmt wieder der Hausarzt. Das Resultat fällt besser aus, wenn jemand dafür sorgt, dass der Patient nicht unkoordiniert eine Vielzahl von Spezialisten aufsucht. Oder in einem Spital landet, das für die Operation schlecht aufgestellt ist. Doch welche Stelle soll die Steuerung übernehmen? Die Krankenkassen wollen vermehrt diese Rolle übernehmen – und stossen damit auf Widerstand.

Krankenkassen bewegen sich im Graubereich

Ein Ärgernis für die Krankenkassen ist heute, dass sie aus Datenschutzgründen Restriktionen unterworfen sind bei der Nutzung der Daten ihrer Versicherten. Aufgrund der verschriebenen Medikamente wissen die Kassen, an welchen Krankheiten ihre Kunden leiden. Das würde ihnen die Möglichkeit eröffnen, spezielle Programme zu entwickeln für eine engere Betreuung, etwa von Diabetikern – und damit teure Mehrfachuntersuchungen oder Medikamentenverschwendung zu vermeiden. Doch heute ist es nicht erlaubt, die Versicherten anzuschreiben und ihnen die Aufnahme in ein solches Programm anzubieten. Im gesetzlichen Graubereich bewegen sich die Versicherer auch, wenn sie Patienten mit einem Brief darauf aufmerksam machen, dass es für ihr Gebrechen günstigere Medikamente gäbe.

Doch nun keimt in der Branche Hoffnung auf, dass sie bald stärkere Instrumente zur Steuerung erhält. Anlass dazu ist eine Motion, welche die Staatspolitische Kommission (SPK) des Nationalrates verfasst hat und über die in der kommenden Wintersession das Plenum entscheidet. Der Vorstoss sieht vor, dass Krankenkassen auch hochsensible Personendaten bearbeiten dürfen. Ein zentraler Punkt ist dabei das Profiling. Es geht darum, verschiedene Personendaten zu verknüpfen und auszuwerten – also Abrechnungen von medizinischen Leistungen mit dem Alter oder dem Geschlecht des Patienten. «Solche Informationen brauchen wir für eine bessere Koordination, die zu mehr Qualität und Einsparungen führt», sagt Matthias Vögeli, Datenschutzbeauftragter der CSS. Der grösste Grundversicherer hat sich entsprechend für das Reformprojekt starkgemacht.

«Kassen haben da nichts zu suchen»

Harsche Kritik äussert der Spitalverband H+. «Die Gesundheitscoaches in unserem System sind die Hausärzte, die Spezialisten in freier Praxis und die Spitalmediziner, die sich täglich mit den Patienten auseinandersetzen», betont Sprecherin Dorit Djelid. «Die Krankenkassen haben beim Patientencoaching nichts zu suchen.» Seit der klaren Ablehnung der Managed-Care-Vorlage in der Volksabstimmung im Jahr 2012 herrsche über diese Frage ein gesundheitspolitischer Konsens. «Zudem hat das Parlament in der Diskussion um das elektronische Patientendossier bewusst darauf verzichtet, dass die Kassen Zugang zu den dort gespeicherten Daten erhalten sollen», sagt Djelid.

Die Ärztevereinigung FMH wiederum pocht auf die Autonomie der Patientinnen und Patienten, selbst zu entscheiden, wie und wofür ihre Daten verwendet würden. Und: «Der Schutz der Patienten sollte Vorrang haben vor dem Zugang der Versicherer zu besonders schützenswerten Personendaten.» Auf eine Abstimmungsempfehlung zuhanden der Nationalräte verzichtet der Ärzteverband jedoch.

Bundesrat empfiehlt Ablehnung

Position beziehen hingegen Gesundheitsminister Alain Berset und der Gesamtbundesrat: Er lehnt den Vorstoss ab und warnt vor einem «Risiko der unerwünschten Risikoselektion», das die von den Kassen gewünschte Datenbearbeitung mit sich bringen könne. Berset ist grundsätzlich der Meinung, es sei nicht die Aufgabe der Krankenversicherer, die Behandlung der Versicherten zu steuern oder zu koordinieren. Ein Case-Management sei zwar zulässig – allerdings nur, wenn der Patient einwillige.

Beim Krankenkassenverband Curafutura, zu dem auch die CSS gehört, versteht man die Kritik nicht. Sprecher Ralph Kreuzer sagt, sein Verband sehe keine straffe Rollenzuteilung. «Die Krankenversicherer können durch koordinierte Zusammenarbeit mit Ärzten, Apotheken und so weiter für eine sinnvolle Begleitung der Patienten sorgen, dies insbesondere im Rahmen von alternativen Versicherungsmodellen wie Managed Care und HMO.»

Die falsche Kommission?

Unabhängig von der inhaltlichen Beurteilung sorgt auch der Absender der Motion für Irritation: Gesundheitspolitische Weichenstellungen sind eigentlich nicht das Metier der Staatspolitischen Kommission. Der umstrittene Vorstoss entstand im Zusammenhang mit der Beratung des neuen Datenschutzgesetzes. Die SPK entschied, die Frage der Case-Management-Massnahmen aus diesem Gesetz auszugliedern und im Krankenversicherungsgesetz (KVG) zu verankern.

Im Communiqué zum Datenschutzgesetz wird dies mit keinem Wort erwähnt. Deshalb wirft der Spitalverband der Kommission vor, kassenfreundliche Neuerungen durch die Hintertür ins KVG schmuggeln zu wollen – vorbei an der zuständigen Kommission, jener für Sozial- und Gesundheitspolitik (SGK). Ähnlich sieht das SP-Nationalrat und SPK-Mitglied Angelo Barrile. Als Hausarzt arbeitet er selber in einem Managed-Care-Modell und betont, dieses habe viele Vorteile für die Patienten. «Über den ganzen gesundheitspolitischen Hintergrund haben wir in der Kommission aber gar nicht diskutiert.» Barrile hätte es deshalb lieber gesehen, wenn die Gesundheitspolitiker der SGK mit ihrer Expertise einbezogen worden wären.

Der Nationalrat wird voraussichtlich in der dritten Sessionswoche über die Motion entscheiden, ebenso über einen praktisch identischen Vorstoss, der auch Unfallversicherern wie der Suva neue Kompetenzen geben soll. Den Versicherern einen Strich durch die Rechnung machen könnten die neuen Mehrheitsverhältnisse: Die gestärkte Ratslinke gilt als wenig krankenkassenfreundlich.