Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli: «Mit Ausnahme des Universitätsspitals und des Kantonsspitals Winterthur ist heute eigentlich kein Spital ‹too big to fail›»

Die neue Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (svp.) könnte unangenehme Entscheide wie Spitalschliessungen kommunizieren müssen. Eine Abwahl nähme sie in Kauf, wie sie im Gespräch mit der NZZ durchblicken lässt.

Dorothee Vögeli / André Müller
Drucken
Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli in ihrem Büro.

Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli in ihrem Büro.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Im Nationalrat galten Sie als SVP-Hardlinerin, jetzt sind Sie in der Zürcher Regierung eingebunden. Wie ist dieser Rollenwechsel für Sie?

Es ist tatsächlich eine neue Rolle, aber sie ist nicht völlig anders. Ich schlage ja auch Gesetze vor und kann mit dem Regierungsrat Verordnungen anpassen, wie eben gerade beim Zulassungsstopp für ausländische Ärzte. Für eine Gesetzesänderung brauche ich natürlich den Kantonsrat. Meine parlamentarische Erfahrung und mein politisches Gespür kommen mir dabei zugute.

Ihr Vorgänger Thomas Heiniger klagte jeweils, die Gesundheitspolitik finde auf dem nationalen Parkett statt. Können Sie überhaupt gestalten?

Wir müssen 55 Prozent der Kosten jedes Spitalaufenthalts übernehmen – auch die Prämienverbilligung ist im Krankenversicherungsgesetz vorgegeben. Das sind sehr grosse Budgetposten, rund zwei Milliarden Franken. Will man diese Kosten senken, sind Anpassungen auf nationaler Ebene nötig. Dennoch hat der Kanton viel Spielraum, vor allem bei der Spitalplanung und zum Beispiel auch bei der Prävention.

Die Mehrheiten im Kantonsrat haben gewechselt. Gibt es noch Raum für eine «bürgerliche» Gesundheitspolitik?

Im Gegensatz zu anderen Themen sind die parteipolitischen Fronten im Gesundheitswesen nicht ganz klar. In der Budgetberatung wurde mir soeben bei der Kantonsapotheke und bei der Prämienverbilligung Geld gestrichen – von einer bürgerlichen Kantonsratsmehrheit zusammen mit der GLP. Die Reaktionen zum Zulassungsstopp waren von allen Parteien mehrheitlich positiv. Eine bürgerliche Gesundheitspolitik bedeutet auch, die Eigenverantwortung zu stärken und die Finanzen im Griff zu halten.

Sehr umstritten ist die Spitalplanung. Wie werden Sie es schaffen, Spitäler zu schliessen und trotzdem wiedergewählt zu werden?

Ich schliesse keine Spitäler. Wir vergeben Leistungsaufträge oder eben nicht. Die Spitäler gehören entweder Privaten oder Gemeindeverbünden.

Faktisch führt aber eine Nichtvergabe zur Schliessung.

Dennoch ist es wichtig für die Leserschaft: Wir schliessen keine Spitäler, auch wenn unsere Entscheide vielleicht dazu führen.

Das Spital Affoltern muss den Betrieb einstellen, wenn es die Leistungsaufträge nicht mehr erhält.

Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nicht über einzelne Spitäler reden und Entscheide vorwegnehmen, das wäre unseriös. Ich bin froh, dass wir die Spitalplanung um ein Jahr verschoben haben. Es wäre mir nicht möglich gewesen, mit den Spitälern in den Dialog zu treten, Daten zu erheben und mir eine eigene Meinung zu bilden. Wir diskutierten mit Spitalvertretern bereits die Herausforderungen und Lösungsansätze. Dabei geht es um Qualität, Kooperationen und die Versorgungsstrukturen: Was soll ein Zentrumsspital erbringen, was ein Regionalspital? Im nächsten Jahr erstellen wir eine Bedarfsprognose, heruntergebrochen auf Leistungsgruppen und auch auf Regionen. Klar ist, und da sind sich eigentlich alle einig: Es sollen nicht mehr alle Spitäler alles machen. In einem Jahr werden wir weiter informieren.

Die Botschaft dürfte auch nach einem Jahr sorgfältiger Vorbereitung schwer zu vermitteln sein. Fürchten Sie nicht um Ihre Wiederwahl?

Ich werde dem Regierungsrat vorschlagen, was ich für richtig halte und nicht das, was gut ist für meine Wiederwahl. Je nachdem muss ich in Kauf nehmen, dass ich Entscheide fälle, die in gewissen Regionen oder bei gewissen Personen nicht gut ankommen.

Die Stadt Zürich hat ihre Spitäler Triemli und Waid zusammengelegt. Nicht nur, um Synergien zu nutzen, sondern auch im Hinblick auf ein Spital, das «too big to fail» ist. Gibt es Zürcher Spitäler, die systemrelevant sind?

Wir werden alles unvoreingenommen hinterfragen. Mit Ausnahme des Universitätsspitals und des Kantonsspitals Winterthur ist heute eigentlich kein Spital «too big to fail». Das sage ich nicht, weil es die kantonseigenen Spitäler sind, sondern weil das Unispital führend ist in der hochspezialisierten Medizin und für die Region Winterthur nur das KSW zur Verfügung steht.

Das Unispital, für das Sie indirekt verantwortlich sind, will eine Minderheit des Spitals Männedorf übernehmen. Gleichzeitig entscheiden Sie über die Leistungsaufträge von Männedorf. Sind die beiden Hüte nicht ein Problem?

Ich tue mich in der Tat etwas schwer mit diesen verschiedenen Hüten, nicht nur wegen der potenziellen Beteiligung in Männedorf. Wir sind Eigentümer von Spitälern, wir sind Aufsichtsinstanz, und wir vergeben Leistungsaufträge. Aber ich habe nun all diese Rollen und versuche, sie mit bestmöglicher Transparenz und Governance zu trennen. Zur Beteiligung des USZ am Spital Männedorf wird sich der Regierungsrat erst eine Meinung bilden, wenn ein Antrag vorliegt. Grundsätzlich bin ich skeptisch, wenn sich das USZ finanziell an Regionalspitälern beteiligt. Es kann dazu führen, dass bei beteiligten Spitälern und bei der Konkurrenz die Meinung entsteht, diese Beteiligung gebe eine Garantie für die Spitalliste. Dem ist nicht so.

Die Psychiatrie wird in Bundesbern stiefmütterlich behandelt. Bemerkenswert ist deshalb, wie Sie kürzlich öffentlich über Ihre Depression sprachen, die Sie dank fachlicher Unterstützung überwinden konnten. Ist Ihnen die Entstigmatisierung der Psychiatrie ein Anliegen?

Ich brauche das Wort Stigmatisierung nie. Denn mit diesem Ausdruck stigmatisiert man bereits. Natürlich bin ich bereit, eine Lanze für die psychische Gesundheit zu brechen, stelle mich aber nicht persönlich in den Vordergrund. Der richtige Weg ist für mich, offen für das Thema zu sein. Es braucht jedoch Taten statt Worte.

Können Sie das konkretisieren?

Mehr handeln, mehr vorangehen, statt zu theoretisieren.

Weshalb gibt es im Kanton Zürich im Unterschied etwa zu den Niederlanden oder Grossbritannien noch wenig aufsuchende Psychiatrie im häuslichen Umfeld?

Wir sind auf einem guten Weg. Der Regierungsrat hat die Förderung der ambulanten Psychiatrie sogar in seine Legislaturziele aufgenommen. Auch die Kliniken achten darauf, wie sie Patienten im familiären und beruflichen Umfeld unterstützen können, Information und Prävention erhalten grösseres Gewicht.

Der Kanton Bern finanziert versorgungspolitisch erwünschte Leistungen, die durch andere Kostenträger ungenügend abgegolten sind. Die Voraussetzung ist eine Leistungsdokumentation. Könnte dieses Modell ein Vorbild für den Kanton Zürich sein?

Wir werden diesen Weg bestimmt prüfen. Im Unterschied zur Akutsomatik müssen wir in der Psychiatrie aber zuerst noch gewisse Dinge justieren. Einerseits gilt es die Versorgungsstrukturen zu optimieren und die Behandlungsqualität zu erhöhen. Bis 2030 wollen wir den stationären Bereich für Erwachsene trotz Bevölkerungswachstum stabil halten. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie und in der ambulanten Psychiatrie haben wir ganz klar einen Aufholbedarf. Hier kann der Kanton unter gewissen Voraussetzungen mittels Subventionen unterstützen.

Momentan erhebt die Gesundheitsdirektion, wie viele stationär behandelte Psychiatriepatienten ambulant betreut werden könnten. Sind es tatsächlich 30 Prozent, die nicht zwingend in einer Klinik sein müssten?

Wir haben noch keine definitiven Zahlen. Klar ist aber, dass es stationäre Patienten gibt, die ambulant betreut werden könnten und dafür das entsprechende Angebot fehlt. Sobald wir die Daten und Fakten kennen, schauen wir, wie wir das ambulante Angebot optimieren und finanzieren können. Gerade weil es ein Legislaturziel ist, bin ich optimistisch, politische Mehrheiten zu finden.

Auch für allfällige neue Gesetzesartikel?

Ja.

Sie vergleichen das Gesundheitswesen gern mit einem Sinfonieorchester. Die vielen Akteure produzieren aber oft eine Kakophonie. Hat die Gesundheitslobby in Bundesbern einen zu starken Einfluss?

Ich hatte wenig mit ihr zu tun, weil ich nie in der Gesundheitspolitik tätig war. Das ist ein Vorteil, weil ich keiner Branche «verpflichtet» bin. Aber ja: Die Lobby ist stark. Vor allem die Krankenkassen sind gut vertreten im eidgenössischen Parlament, gerade beim Thema Efas, der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen. Als zuständige Regierungsrätin ist es meine Verantwortung, dafür zu schauen, dass der Kanton Zürich nicht einfach zum Zahler degradiert wird.

Heute zahlt der Kanton für stationäre Behandlungen, aber nicht für ambulante, was zu Fehlanreizen führt. Efas soll diese beheben. Hat das neue Finanzierungsmodell angesichts der unterschiedlichen Positionen überhaupt eine Chance?

Die Kantone, auch Zürich, bieten inzwischen Hand für Efas. Wir sehen in der aktuellen Vorlage Korrekturbedarf, zum Beispiel was die Finanzen betrifft. Der Übergang zur einheitlichen Finanzierung von ambulant und stationär muss für die einzelnen Kantone überprüfbar und kostenneutral sein. Ebenfalls müssen die Kantone die Möglichkeit haben, das ambulante Versorgungsangebot zu steuern, wenn sie es künftig mitfinanzieren. In der Efas-Vorlage sollte auch sichergestellt werden, dass die Langzeitpflege verbindlich aufgenommen wird.

Mit dem Zulassungsstopp für ausländische Ärzte haben Sie kantonal einen ersten Pflock eingeschlagen. Weshalb gilt er nicht für Spitalambulatorien?

Der Regierungsrat ist der Ansicht, dass wir nicht ambulant vor stationär fordern können und gleichzeitig die Spitalambulatorien dem Zulassungsstopp unterstellen. Wir sandten aber klar die Botschaft aus, dass diese Ausnahme der Verlagerung aus dem stationären in den ambulanten Bereich dienen soll und damit nicht frei praktizierende Ärzte angeworben beziehungsweise konkurrenziert werden sollen. Die Kritik etwa der Ärztegesellschaft nehmen wir ernst, und wir werden ein Monitoring aufbauen. Falls nötig, wird der Regierungsrat auch den Zulassungsstopp auf die Spitalambulatorien ausweiten.

Auch im stationären Bereich ist es ein grosses Problem, die Qualität zu vergleichen. Für die Vergabe der Leistungsaufträge möchte die Gesundheitsdirektion aber künftig Qualitätsdaten erheben und nutzen. Allerdings erst ab 2030. Warum dauert das so lange?

Das frage ich mich auch. Es gibt zwar eine Reihe von Statistiken. Aber entweder lassen sich damit die Spitäler nicht vergleichen, oder sie betreffen unterschiedliche Zeiträume. Es liegt in der Natur der Sache, dass jeder diejenigen Qualitätsdaten verwendet, die für ihn am besten sind. Wir haben dazu mit dem Verband der Zürcher Krankenhäuser eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen. Der Leitsatz lautet «lieber weniger Daten, dafür vergleichbare». Die Spitäler haben zum Ausdruck gebracht, dass die Gesundheitsdirektion nicht einfach neue Daten verlangen soll, deren Erhebung viel Geld kostet, und am Ende doch nichts damit passiert.

Das Spitalfinanzierungsgesetz erntete in der Vernehmlassung harsche Kritik von den Spitälern. Es sei dirigistisch und überreguliert, hiess es. Wie weit kommen Sie den Skeptikern entgegen?

Da sind wir momentan intensiv dran. Wir überlegen uns, was wir dem Regierungsrat beantragen könnten in Kenntnis der Vernehmlassungsantworten und der Mehrheiten im Kantonsrat. Aus dessen Reihen werden insbesondere mengenabhängige Chefarztlöhne kritisiert. Hier werden wir einen Vorschlag machen müssen.

Worauf möchten Sie in vier Jahren stolz zurückschauen?

Das überlege ich mir nicht. Als Realistin versuche ich im Jetzt, einen guten Job zu machen, Entscheide zu fällen, die sich auf Daten und Fakten stützen, und im Dialog zu sein mit verschiedenen Akteuren. Dabei ist mir bewusst, dass ich mit meinen Entscheiden nicht alle zufriedenstellen kann. Ich bin mittendrin, jeden Tag lerne ich dazu. Im Zentrum steht eine gute Gesundheitsversorgung für den ganzen Kanton.