Personalnot: Ärztepräsident fordert Klinikschließungen

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Facharzt für Allgemeinmedizin.

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Facharzt für Allgemeinmedizin.

Berlin. Sein neues Amt als Ärztepräsident hatte Klaus Reinhardt mit einer Kampfansage begonnen: Die Herausforderungen im Gesundheitswesen seien einfach zu groß, als dass man sie der Politik überlassen könne, sagte er nach seiner Wahl im Mai. Unter seiner Führung werde die Ärzteschaft intensiver als bisher „politisch gegenhalten“, um die Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Medizin zu stoppen. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) macht Reinhardt nun erstmals konkrete Vorschläge, die die Politik umsetzen soll.

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Herr Reinhardt, Gesundheitsminister Jens Spahn rühmt sich, bisher in jedem Monat seiner Amtszeit einen Gesetzentwurf vorgelegt zu haben. Setzt er die richtigen Prioritäten?

Da ist sicher viel Richtiges dabei. Aber für mich steht ein Thema im Mittelpunkt, zu dem ich von Herrn Spahn leider noch nichts gehört habe: Der unkoordinierte Zugang der Versicherten zu unserem Gesundheitswesen.

Was meinen Sie damit?

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In allen EU-Staaten existieren Regularien, um die knappen Mittel und das medizinische Personal so sinnvoll wie möglich einzusetzen. Nur in Deutschland haben die Versicherten die Möglichkeit, ohne ärztlich verantwortete Steuerung nahezu alle erdenklichen medizinischen Leistungen zu nutzen, ohne längere Wartezeiten. Diese ungesteuerte Inanspruchnahme von Ressourcen können wir uns nicht länger leisten.

Die Deutschen sind allerdings auch bereit, viel Geld für dieses System auszugeben. Wo ist also das Problem?

Geld allein kann es nicht mehr richten. Das unbegrenzte Leistungsversprechen von Politik und Kostenträgern geht wegen der zunehmenden Personalnot immer stärker zu Lasten der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Wir Ärzte arbeiten wie in einem Hamsterrad. Zeit für menschliche Zuwendung, die in einer älter werdenden Gesellschaft immer wichtiger wird, bleibt da kaum noch. Das treibt mich sehr um.

Dann gehen wir doch einmal die Möglichkeiten durch: Praxisgebühr?

Niemand will die Praxisgebühr zurück. Auch die Ärzteschaft nicht. In der Politik wäre das ohnehin nicht mehr durchsetzbar.

Zuzahlungen?

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Schwierig. Sind die Zuzahlungen zu niedrig, haben sie keine Wirkung. Zu hohe Zuzahlungen könnten dazu führen, dass finanziell schwächere Versicherte nicht zum Arzt gehen und damit Krankheiten verschleppen. Am Ende wird es so für alle teurer.

Was bleibt?

Ich plädiere nachdrücklich für eine hausarztkoordinierte Versorgung. Der Versicherte schreibt sich für eine bestimmte Zeit bei einem Hausarzt seiner Wahl ein. Dieser Mediziner ist der „Gatekeeper“, also immer die erste Anlaufstelle für den Patienten. Für den Besuch eines Facharztes ist eine Überweisung dieses Hausarztes notwendig. Einige Fachärzte, wie zum Beispiel Augenärzte und Frauenärzte, sind davon ausgenommen. Solche Modelle müssen aber anders als heute mit viel besser vernetzten Versorgungsstrukturen einhergehen.

Damit wird die in Deutschland so hoch gehaltene Wahlfreiheit stark eingeschränkt. Halten Sie das für vertretbar?

Erstens kann der Patient seinen Hausarzt völlig frei wählen. Und zweitens denke ich, dass viele Patienten sogar sehr froh darüber sein werden, wenn sie von ihrem Hausarzt durch das sehr komplizierte Gesundheitssystem begleitet werden. Viele sind doch überfordert, bei Erkrankungen die geeigneten Spezialisten in der richtigen Reihenfolge aufzusuchen. Da wird heute insbesondere in der fachärztlichen Versorgung viel kostbare Behandlungszeit verschwendet. Der Hausarzt kann dagegen zusammen mit dem Patienten einen sinnvollen Behandlungspfad aufstellen.

Und was passiert mit Versicherten, die ein Hausarztmodell, warum auch immer, ablehnen?

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Wer die völlige Wahlfreiheit haben möchte, also auch ohne Überweisung zum Facharzt gehen will, sollte höhere Beiträge bezahlen. Denn er nimmt das solidarische System zum Beispiel durch unkoordiniertes Nebeneinanderherarbeiten deutlich stärker in Anspruch als ein Patient, der einen Hausarzt als primären Ansprechpartner hat.

Ihnen schwebt also ein Modell wie in Dänemark vor?

Genau. Dort können die Versicherten wählen, ob sie sich bei einem Hausarzt einschreiben oder ob sie mehr bezahlen und dann immer zu jedem Arzt gehen können. 99 Prozent der dänischen Bevölkerung hat sich aktiv für das Hausarztmodell entschieden. Das spricht auch dafür, dass die Menschen es schätzen, durch das komplizierte Gesundheitssystem geleitet zu werden. Für mich erscheint das auch völlig logisch. Ich kann gar nicht verstehen, wie man dagegen sein kann.

Wie gesagt: Weil in Deutschland die Wahlfreiheit so hoch gehalten wird.

Ein Hausarztmodell kann man ja auch so ausgestalten, dass der Versicherte nach wie vor einen sehr hohen Freiheitsgrad hat. Denkbar ist, dass er lediglich für einen bestimmten Zeitraum an den gewählten Hausarzt gebunden ist und ihn wechseln darf, sollte das Vertrauensverhältnis gestört sein. Und die Frage, welcher Facharzt gewählt wird, kann der Versicherte ohnehin gemeinsam mit seinem Hausarzt entscheiden. Im Übrigen hat jeder Versicherte die Möglichkeit, sich zwischen dem Modell einer hausarztkoordinierten Versorgung und einem völlig freien Zugang zu einem Arzt seiner Wahl zu entscheiden. Ich sehe da keine Einschränkung.

Noch ein Gegenargument: Es gibt zu wenig Allgemeinmediziner, viele gehen jetzt in Rente.

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Das stimmt, aber es ist eine Trendwende zu beobachten. Es gibt eine steigende Zahl von jungen Medizinern, die sich als Hausarzt niederlassen wollen. Richtig ist, dass es nach wie vor schwierig ist, Kollegen für die Eifel oder die Uckermark zu begeistern. Aber das kann ja kein Argument sein, das systematisch richtige Hausarztmodell generell in Frage zu stellen. Übrigens ist die gesamte ärztliche Versorgung in diesen Regionen reduziert und extrem angespannt, nicht nur die hausärztliche Versorgung.

Auch Ihre Kollegen im Krankenhaus klagen über eine enorme Arbeitsverdichtung. Was muss hier geändert werden?

Wie viel dort gearbeitet werden muss, ist grenzwertig. Der ökonomische Druck in den Kliniken ist riesig. Die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern machen Humanität und ärztliche oder pflegerische Zuwendung immer schwieriger. Für alle diese Dinge, die einer Klinik kein Geld bringen, aber für die Genesung enorm wichtig sind, bleibt kaum noch Zeit. Die Kolleginnen und Kollegen sind zu Recht maximal frustriert.

Bei den Pflegeberufen gibt es inzwischen für einige Klinikabteilungen Vorschriften für eine Mindestzahl von Beschäftigten. Wäre das auch für Ärzte nötig?

Wir brauchen Untergrenzen für alle Berufsgruppen, die mit Patienten zu tun haben, also auch für die Ärzte. Sie müssen zudem für alle Abteilungen gelten. Ansonsten wird das Problem ja nur verlagert, weil dann die Löcher einfach in den Abteilungen gerissen werden, die noch keine Untergrenzen haben.

Die Krankenkassen argumentieren, der ökonomische Druck entstehe vor allem deshalb, weil es viel zu viele Kliniken gebe, die miteinander in scharfer Konkurrenz stehen. Teilen Sie die Einschätzung?

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Das ist auch ein Grund. Wir haben in Deutschland in Ballungsgebieten zu viele Krankenhausstandorte. Und wir brauchen unbedingt eine Bereinigung der Kliniklandschaft. Allein die Personalnot wird dazu führen, dass Häuser geschlossen werden müssen. Für die Patienten wird das nicht einmal zu längeren Wegen führen, weil die Klinikdichte in vielen Regionen wirklich hoch ist. Durch Fusionen werden die Patienten und das Personal profitieren, weil der ökonomische Druck abnimmt.

Die Realität ist doch aber, dass kein Politiker sich traut, ein Krankenhaus zu schließen, auch wenn es schon rote Zahlen schreibt.

Deshalb brauchen wir einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass solche Standortentscheidungen nicht parteipolitisch instrumentalisiert werden. Wenn Krankenhäuser in benachbarten Landkreisen allein nicht überlebensfähig sind, muss man Ressourcen bündeln. Die jetzige, auch von Minister Spahn verfolgte Strategie, Kliniken langsam sterben zu lassen, halte ich dagegen für verfehlt. Denn das wird auf den Rücken von Patienten und Personal ausgetragen. Wir Ärzte werden nicht im Weg stehen, wenn irgendwo die Entscheidung ansteht, bei Erhalt des Personals aus zwei kleineren Kliniken ein größeres Krankenhaus zu machen. Das schafft Synergien, mindert den Arbeitsdruck und bringt Freiräume für Investitionen.


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