"Für eine Visite mit 40 Patienten bleiben mir zwei Stunden" – Seite 1

Unter dem Hashtag "Twankenhaus" erzählen seit einiger Zeit deutsche Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte aus ihrem Arbeitsalltag: Nachzulesen sind Hunderte Fälle, in denen im Notfall etwas schiefläuft oder Intensivstationen unterbesetzt sind. Eine derjenigen, die davon berichtet, ist eine Frau, die sich Lieschen Müller nennt – ihren echten Namen will sie für sich behalten, weil sie Angst vor Konsequenzen am Arbeitsplatz hat. Die Unfallchirurgin und Mutter schreibt derzeit an einem Buch zu ihren Arbeitsbedingungen, das im kommenden Frühjahr erscheinen soll. Und sie gehört zum Verein Twankenhaus, der gerade ein Positionspapier zu dem Thema veröffentlicht hat. Sprechender Titel: Wunsch und Wirklichkeit.    

ZEIT ONLINE: Mit welchen Ideen sind Sie mal Ärztin geworden?

Lieschen Müller: Ich habe mich immer sehr für die Naturwissenschaften begeistert, in Mathe, Bio, Chemie war ich gut. Gleichzeitig war es für mich wichtig, eine Arbeit zu haben, bei der ich vorrangig mit Menschen zu tun habe. Deshalb hatte ich eigentlich nie ein anderes Ziel als Medizin. Ich habe schon gegen Ende der Schulzeit Praktika gemacht.

ZEIT ONLINE: Was hat Sie genau am Beruf der Unfallchirurgin fasziniert, am Operieren?

Müller: Die Gleichzeitigkeit von Kraft und Sensibilität, das Nebeneinander von Trauma, Tragik und Hoffnung. Außerdem passten mir das Handwerkliche und die Arbeit nach vermeintlich klaren Prinzipien gut. Etwas Kaputtes zu reparieren erzeugt schnelle Erfolge. Ich konnte der Heilung praktisch zusehen. Das hat mich zufrieden gemacht.

ZEIT ONLINE: War da schon absehbar, wie hart der Job ist?

Müller: Dass der auch schwer ist, habe ich wahrgenommen, aber das hat mich eher angezogen als abgestoßen. Viele Menschen erleben einen Unfall, einen Sturz oder eine Operation als Grenzerfahrung. Irgendwie schien es mir nur logisch, dass wir Ärzte ebenfalls an unsere Grenzen gehen mussten. Die Ärzte, bei denen ich Praktika absolvierte, warnten mich vor den Arbeitsbedingungen. Abgeschreckt hat mich das nicht. Ich war ehrgeizig und motiviert.  

ZEIT ONLINE: Auch in den praktischen Abschnitten des Studiums später, Famulatur und praktisches Jahr? Das gilt ja schon als besonders schwierige Zeit jeweils.

Müller: Ja, aber mich hat es eher in meinen Vorstellungen bestätigt. Heute weiß ich, dass ich ein idealisiertes Bild von der Arbeit als Unfallchirurgin hatte. Weil ich nur reingeschnuppert hatte. Es gab zwischendrin Phasen der Erholung, deshalb wirkte diese Arbeit spannend und schön.

"Die Arbeit ging ziemlich schnell über meine Belastungsgrenze und an die Zeit danach erinnere ich mich nur als eine dunkle, müde Phase, in der mir dauernd kalt war."
Lieschen Müller

ZEIT ONLINE: Wie sah es dann aus, als Sie tatsächlich anfingen zu arbeiten?

Müller: Damals war ich 25 Jahre alt und suchte mir bewusst eine mittelgroße Klinik aus. Ich wollte in einer Klinik arbeiten, die das gesamte Weiterbildungsspektrum anbietet, ohne die riesige Maschinerie einer Uniklinik. Außerdem wollte ich mich auf die praktische Ausbildung konzentrieren. Nach meiner Doktorarbeit war mir vorerst die Motivation für Forschungsarbeit verloren gegangen. Deshalb bin ich für meine Arbeit sogar umgezogen. Und die ersten paar Monate im Job waren tatsächlich aufregend. 

ZEIT ONLINE: Im positiven Sinne?

Müller: Ja. Dann ging es ziemlich schnell über die Belastungsgrenze und an die Zeit danach erinnere ich mich nur als eine dunkle, müde Phase, in der mir dauernd kalt war.

ZEIT ONLINE: Was heißt Belastungsgrenze in dem Fall?

Müller: Dass ich in den ersten zwei, drei Jahren immer mehr als 60 bis 80 Stunden, manchmal 100 Stunden in der Woche arbeitete. Ich habe selten geschlafen und wenn, dann maximal drei bis vier Stunden pro Nacht.

"Die Maximalarbeitszeit lag bei 18 Stunden am Stück"

ZEIT ONLINE: Was heißt denn das für eine normale Woche?

Müller: In der Regel fing ich um sieben Uhr mit der Arbeit an und hatte mit sehr viel Glück zwischen 17 und 19 Uhr Feierabend. Dazu kommen ein bis drei Mal die Woche 24-Stunden-Dienste. Bei denen arbeitet man in schlechten Wochen zum Beispiel: Montag auf Dienstag 24 Stunden, Mittwoch und Donnerstag je 10 bis 12 Stunden. Freitag auf Samstag wieder 24 Stunden, Sonntag auf Montag wieder 24 Stunden. Am Anfang hatten wir samstags nach dem 24-Stunden-Dienst noch die Visite, sodass wir erst nach 30 Stunden zu Hause waren. In einem anderen Dienstmodell waren die Bedingungen etwas humaner. Die Maximalarbeitszeit lag bei 18 Stunden am Stück. Natürlich gibt es auch Wochen, in denen man nur einen 24-Stunden-Dienst hat. Eine Woche ohne einen solchen Dienst hat man aber praktisch nicht. Im Durchschnitt arbeitet man zwei Wochenenden im Monat, manchmal auch nur eines oder drei, je nach Krankheits- und Urlaubsphasen.

ZEIT ONLINE: Wie fühlt sich das an? Und wie haben Sie sich dazu gebracht, psychisch wie physisch, das durchzuhalten?

Müller: Das fühlt sich müde an. Ich war dauermüde, mir war ständig kalt und ich habe Schlaf enorm genossen. Es gibt Zeiten, in denen ich zu fast nichts anderes gekommen bin als zu arbeiten. Jeder entwickelt andere Durchhalteparolen. Mediziner sind ehrgeizig und man kann mehr aushalten, als man vermuten würde. Außerdem kommt man selten dazu, nachzudenken. Alle Kollegen machen ja das Gleiche. Psychisch bringt es einen oft über jegliche Grenzen. Mir ist es passiert, dass ich ohne Vorwarnung nachts heulend durch die Flure gelaufen bin oder in Situationen Patienten mehr als unfreundlich behandelt habe. Hier zu reflektieren und einen Ausgleich zu schaffen gelingt bei 100-Stunden-Wochen nicht immer. Die Lösung sind häufig literweise Kaffee oder Energydrinks und Schokolade. Zu medikamentöser Hilfe habe ich nie gegriffen. 

"Manche Oberärzte irritierte es, dass ich Anspruch auf beides stellte: Unfallchirurgin und Mutter zu sein."
Lieschen Müller

ZEIT ONLINE: Sie haben ein Kind. Wie war der Job mit der Familie überhaupt vereinbar?

Müller: Nur schwer. Das Kind habe ich nach der Basisausbildung bekommen. Ich war zunächst ein Jahr in Elternzeit, danach stieg ich mit 100 Prozent in den Job ein. Die Weiterbildungszeit in meinem Fachgebiet beträgt bei 100 Prozent sechs Jahre. In Teilzeit verlängert sich die Phase der Weiterbildungszeit natürlich. Ich wollte so schnell wie möglich aus diesem Abhängigkeitsverhältnis der Ärzte in Weiterbildung heraus, sodass wir uns als Paar damals für einen Einstieg mit 100 Prozent entschieden haben. Das ging nur, weil mein Mann in Teilzeit gegangen ist. Glücklich hat mich das viele Arbeiten nicht gemacht. Ich habe meinen Mann und mein Kind kaum gesehen. Deshalb waren wir dann eine Zeit lang beide in Teilzeit angestellt. Die Teilzeitarbeit bedeutete für meinen Mann in einem frei wirtschaftlichen Unternehmen leider dasselbe, was es für Frauen bedeutet: Er wurde übergangen und nicht mehr befördert. Schließlich sah er sich gezwungen, zu kündigen und legte ein Jahr Pause ein. Trotz der damit gesicherten Kinderbetreuung habe ich dann nur 75 Prozent gearbeitet. Ich wollte etwas Zeit mit meiner Familie verbringen. Als ich in Teilzeit war, wurde ich oft übersehen, manche Oberärzte irritierte es, dass ich Anspruch auf beides stellte: Unfallchirurgin und Mutter zu sein. Mittlerweile arbeitet mein Mann wieder Vollzeit und ich weiterhin Teilzeit.

ZEIT ONLINE: Klingt nach dem permanenten Versuch, das alles auszutarieren.

Müller: Ist es auch. Jedes Jahr ändert sich etwas, Situationen müssen neu beurteilt werden. Wie geht es dem Kind, dem Partner, mir selbst? In meinem Beruf kann ich nicht sofort das Skalpell fallen lassen, wenn es 16.30 Uhr ist. Trotzdem sollte ich es öfter tun. Glücklicherweise haben wir Großeltern vor Ort, die in der Not einspringen können. Aber mein fieberndes Kind zu betreuen ist meines Erachtens nach wie vor Aufgabe von meinem Mann und mir und nicht von jemand anderem. 

ZEIT ONLINE: Schlägt das irgendwann auf die Gesundheit und das geistige Wohlbefinden?

Müller: Selbstverständlich. Manchmal bin ich mir bei dem Gang über die Krankenhausflure nicht ganz sicher, wer Patient ist und wer zum Personal gehört. Die Studienlage ist klar. Mediziner gehören zu den Gruppen der Meistgefährdeten, an einer Suchterkrankung zu leiden. Die Suizidrate ist hoch.

"70 bis 80 Prozent der Zeit geht mit Bürokratie drauf, Formulare ausfüllen, Arztbriefe schreiben."
Lieschen Müller

ZEIT ONLINE: Ein großer Kritikpunkt, den Sie mit "Twankenhaus" anbringen, ist, wie die vielen Stunden, die Sie in der Arbeit verbringen, strukturiert sind.

Müller: Ja. Es gibt Tage, da bin ich ausnahmsweise viel im OP. Sonst gehen im Schnitt 70 bis 80 Prozent der Zeit mit Bürokratie drauf, Formulare ausfüllen, Arztbriefe schreiben und solche Dinge. Außerdem muss ich, wie wir alle, jede einzelne Minute flexibel sein, das Telefon läutet die ganze Zeit und man muss oft kurzfristig in den OP. Ist man mal zwei Minuten woanders, heißt es: sofort in die Ambulanz. Unstrukturierte Abteilungen sind eine Gefahr für Patient und Arzt. Das Übermaß an Bürokratie macht die Lage zusätzlich schwieriger.

ZEIT ONLINE: Ist das nicht genau das, was Unfallchirurgie im Krankenhaus ausmacht? Oder was macht es besonders stressig?

Müller: Sicher ist die Unfallchirurgie ein Fach, in dem man es mit Traumata zu tun hat und schnelle Reaktionen erforderlich macht. Das hat allerdings nichts mit unstrukturiertem Arbeiten, schlechter Organisation, Personalmangel und überbordender Bürokratie zu tun. Die Unfallchirurgie ist ein sehr strukturiertes Fach. Wir arbeiten nach Kategorien, klassifizieren alles in Systemen. Das ist nicht unorganisiert, sondern klar strukturiert. Personalmangel und maximal wirtschaftliche Ausrichtungen machen die Arbeit stressig.

"In einigen Kliniken geht alles durcheinander"

ZEIT ONLINE: Ist das auch an anderen Krankenhäusern so?

Müller: Das variiert nach Organisations- und Besetzungsgrad im jeweiligen Haus.

ZEIT ONLINE: Wie groß sind die Unterschiede?

Müller: Ich habe drei Kliniken mitbekommen, weil ich den Arbeitgeber in der Hoffnung auf bessere Bedingungen gewechselt habe. Es gibt unterschiedliche Dienstsysteme und Organisationsformen, manche Häuser beschäftigen beispielsweise mehr Personal für Bürokratie. Je strukturierter alles ist, umso besser. Aber in einigen Kliniken geht alles durcheinander. Wenn man frei hat, wird man dauernd angerufen, ob man doch einspringen kann. Die Strukturlosigkeit und wenig Personal fördern natürlich Krankheit und der Teufelskreis beginnt von vorne.

ZEIT ONLINE: So etwas macht natürlich den Alltag mit Familie noch komplizierter.

Müller: Den gibt es unter diesen Bedingungen schlicht nicht, weil eh jeder Tag anders ist. Machbar ist das nur im alten Familienmodell, wo einer arbeitet und einer daheimbleibt und dort alles regelt.

ZEIT ONLINE: Haben Sie das mal thematisiert in den Häusern?

Müller: Ja, gerade die Vereinbarkeit habe ich oft angesprochen. Ich habe mehrfach mit dem Betriebsrat geredet, Veränderungen der Dienstmodelle vorgeschlagen. Aber selbst wenn mir viele Kollegen vor den entscheidenden Besprechungen zugestimmt haben, war ich in der Sitzung immer eine Einzelkämpferin und die meisten anderen Ärzte blieben still. Die befürchteten Restriktionen, wenn sie Freizeit einfordern.

ZEIT ONLINE: Warum?

Müller: Schlussendlich wird immer über Geld argumentiert, also dass andere Organisationsformen weniger einbringen. Gleichzeitig verändert es einiges am Gehalt, wenn man keine langen Dienste mehr macht – und da ist das Einkommen vielen Kollegen und Kolleginnen eben wichtiger. Hinzu kommt: Sehr viele der Oberärzte leben noch das alte Familienmodell und sehen ihre Frauen und Kinder wenig. Sie sind durch noch viel anstrengendere Phasen gegangen, hatten beispielsweise 72-Stunden-Dienste. Sie kennen es also nicht anders. Ich möchte meine Patienten mit gutem Gewissen mit der bestmöglichen Qualität versorgen. Effizient, konzentriert und aktiv bin ich eben nur, wenn ich auch Zeit für persönlichen Ausgleich habe. Vor allem, weil wir heute in derselben Zeit viel mehr Patienten betreuen als früher. Wo man noch vor ein paar Jahren zehn Patienten pro Schicht behandelt hat, sind es mittlerweile 60. Der Qualitätsverlust der Arbeit unter diesem Zeitdruck wird unterschätzt.

"In einem Zeitalter der Selbstoptimierung scheint der Gang zum Arzt für manche fast selbstverständlich zum wöchentlichen Zeitplan zu gehören."
Lieschen Müller

ZEIT ONLINE: Wie viel Zeit haben Sie pro Patientin und Patient?

Müller: Wenig. Für eine Visite mit 40 Patienten bleiben mir zwei Stunden, manchmal weniger. In dieser Zeit muss ich Verbände kontrollieren, für Operationen aufklären, Blutuntersuchungen bewerten, Medikamente und Röntgenbilder anordnen. Für ein Gespräch mit dem Patienten bleibt herzlich wenig Zeit. Dabei ist es sehr wichtig. Die kurzen Behandlungszeiten haben dazu geführt, dass die Patienten zunehmend die Schulmedizin hinterfragen und oft mehrere Meinungen einholen. In einem Zeitalter der Selbstoptimierung scheint der Gang zum Arzt für manche fast selbstverständlich zum wöchentlichen Zeitplan zu gehören. Die Menschen wollen mehr aufgeklärt werden, auch, weil sie sich viel online informieren. Die Unsicherheiten spürt man. Die Angst und das Misstrauen gegenüber uns Ärzten ist gestiegen. Sich das Vertrauen zu erarbeiten, kostet Zeit. Bei manch anderen Fällen führt es zu Lebensgefahr, da sie der Schulmedizin gänzlich abschwören.  

ZEIT ONLINE: Was heißt das in der Praxis?

Müller: Dass die Zahl der Banalitäten und insgesamt die schiere Menge an Patienten zunimmt. Da müssen wir dann Pflaster auf Schürfwunden kleben, die früher niemals im Krankenhaus behandelt worden wären. Oder ich muss 15 Minuten Zeit in einen Patienten investieren, um ihm eine Operation zu empfehlen, die ihm bereits vier andere Ärzte empfohlen haben, er aber noch eine fünfte Meinung einholen möchte. Ich könnte ewig weiter machen.

ZEIT ONLINE: Liegt das nur an den Patienten?

Müller: Nein, die Probleme sind auch durch die hierarchische Struktur der Medizinerwelt bedingt. Es herrschen in den Kliniken ausgeprägte Machtkämpfe, es geht um Geld und Positionierung. Die marktwirtschaftliche Konkurrenz führt dazu, dass eben nur noch die schwarze Zahl am Ende des Jahres zählt. Menschlichkeit, Weiterbildung, weiche Kompetenzen werden nicht bewertet. Außerdem konkurrieren die Kliniken auch miteinander. Konkurrenz also überall und das in einer Branche, in der eh alle ehrgeizige Einzelkämpfer sind.

ZEIT ONLINE: Wann haben Sie gemerkt, dass Sie das nicht mehr mitmachen wollen?

Müller: In der Elternzeit ist mir aufgefallen, was man alles verpasst, wenn man in diesem Hamsterrad ist und wie wichtig beispielsweise Sozialkompetenzen sind, die einem im medizinischen System komplett abtrainiert werden. Erst in dieser freien Zeit konnte ich anfangen, zu reflektieren. Wir sind als Ärzte ständigen Grenzsituationen ausgeliefert. Hierzu ist es notwendig, emotional viel schneller zu reifen, als es manche Menschen in ihrem ganzen Leben erleben. Krankheit, Tod, Leben, Hilflosigkeit und Trauer begegnen uns täglich. Damit umzugehen stärkt einen ungemein, ist aber ohne Reflektion kaum möglich.

ZEIT ONLINE: Wie haben Sie das festgestellt?

Müller: Ich habe mich mit vielen anderen Eltern unterhalten und gelernt: Das, was die Patienten eigentlich wollen, können wir ihnen gar nicht geben. Dabei kenne ich es selbst gelegentlich aus der Praxis: Unterhält man sich mit einem Patienten eine Minute länger, trifft man sehr oft genau ins Schwarze, was sein eigentliches gesundheitliches Problem ist. Aber genau dafür hat man im Krankenhausalltag oft keinen Nerv mehr. Die unteren Rückenschmerzen sind vielleicht gar keine Variante des Hexenschusses, sondern liegen ursächlich am Tod des Ehemanns vor einigen Tagen. Andersherum ist der vermeintliche Spannungskopfschmerz wegen mutmaßlich viel Stress einer Blutung im Kopf geschuldet. Beides kann man als Arzt verpassen, wenn man keine Zeit für ein Gespräch mit dem Patienten hat und kein Vertrauensverhältnis besteht. Entgegen aller wirklich wichtigen Evidenz, darf man sein Bauchgefühl als Mediziner nie verlieren. Man muss es sogar schulen. Nicht mal, um das zu reflektieren, hatte ich im Alltag noch die Zeit. Dazu musste erst die Elternzeit kommen.

"Viele brauchen einfach Vorbilder"

ZEIT ONLINE: Sie haben dann angefangen, über die Missstände in Kliniken zu bloggen und später zu twittern. Wie kam das?

Müller: In der Elternzeit begann ich etwas zu forschen. Wie schaffen andere Ärztinnen die Vereinbarkeit Job und Familie? Also baute ich einen Blog auf, verfasste einen Interview-Fragebogen und wollte von anderen Ärztinnen wissen, wie sie ihren Weg als Ärztinnen und Mütter gehen. Bislang gab es keine solche Seite. Gleichzeitig nutzte ich diesen Blog dazu, einige Themen anzusprechen, die mich berührten. Mittlerweile haben über 30 Ärztinnen aus unterschiedlichsten Fachdisziplinen ihr Interview online gestellt. Das freut mich wahnsinnig. Viele brauchen einfach Vorbilder. 

ZEIT ONLINE: Wie ging es weiter?

Müller: Der Blog ging relativ schnell durch die Decke, ich dachte kurz: Oh je, was passiert denn da? Ich habe erst mal alles offline genommen, weil ich nicht damit umgehen konnte. Ein anderer Arzt hat mich dann überzeugt, weiter zu machen. Dann war ich auch auf Twitter, habe da andere Ärztinnen und Ärzte kennengelernt und gemerkt: Es gibt Menschen, die das, was da passiert, ähnlich sehen. Die Entwicklung des Gesundheitssystems ist beängstigend und wir sind als Ärzte verpflichtet, uns damit auseinanderzusetzten. Das kannte ich aus meinem Arbeitsalltag kaum. Das hat mich total motiviert.

"Als Unfallchirurgin habe ich für jede Situation einen Plan B, C oder D. In meinem Leben nicht, da vertraue ich auf mein Herz."
Lieschen Müller

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Müller: Auf Ärzte zu treffen, die die schwindende Qualität und vergessene Menschlichkeit in Krankenhäusern als ähnlich problematisch erachten wie ich, motiviert mich, weiter darüber zu schreiben. Wir sollten uns als Gesellschaft mehr damit beschäftigen.

ZEIT ONLINE: Die digitale Welt mit sehr viel Zustimmung von Kolleginnen und Patienten ist das eine, der Arbeitsalltag das andere. Haben Sie das Gefühl, Sie erreichen etwas mit dem Hashtag Twankenhaus?

Müller: Ich glaube schon. Wir liefern gerade Inhalte, die die Politik braucht, um die Debatte voranzubringen.

ZEIT ONLINE: Was sagen Sie zum neuen Gesetz zu Digitalisierung und Pflege?

Müller: In der Praxis führt dieses Gesetz dazu, dass so viele Pflegekräfte wie möglich eingestellt werden. Die Krankenhäuser konkurrieren mit den besten Arbeitsbedingungen, leisten Sonderzahlungen oder Boni für Arbeitnehmer, wenn sie andere Pflegekräfte anwerben. Aber schlussendlich erhöht sich die Anzahl der Gesundheits- und Krankenpfleger durch dieses Gesetz nicht. Es gibt weiterhin kaum Fachkräfte auf dem Markt, die ins Krankenhaus wollen. Die fehlenden Gesundheits- und Krankenpflegerstellen werden mit Personal anderer Fachrichtungen, wie Arzthelferinnen, aufgestockt. Die Krankenhäuser versuchen also bis zum Stichtag, so viele Kräfte wie möglich zu mobilisieren. Als Beispiel nenne ich hier die Versorgungsstruktur in unserer zentralen Notaufnahme. Momentan werden dort die Fachkräfte annähernd verdoppelt. Die eingestellten Kräfte sind aber selten ausgebildete Notaufnahmeschwestern. Hier müssen erst Strukturen geschaffen werden, dieses Personal auch produktiv einzusetzen. Damit werden die Kosten in den nächsten ein bis zwei Jahren eklatant ansteigen. Und die Kassen werden bereits entsprechende Konzepte entwickeln, um die Kosten wieder zu senken. Die neuen Pflegekräfte sind also sicherlich keine Entlastung, an die man sich über längere Zeit gewöhnen sollte. 

ZEIT ONLINE: Werden Sie eigentlich künftig weiter in Ihrem Beruf arbeiten? Oder gibt es einen Plan B?

Müller: Das ist eine gute Frage. Als Unfallchirurgin habe ich bei jeder Frakturversorgung einen Plan B, C oder D parat. In meinem Leben nicht, da vertraue ich meist auf mein Herz.