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Mensch vor Profit Eine Kinderärztin klagt an: "Viele kleine Patienten fallen durch die Maschen des Systems"

Ingeborg Krägeloh-Mann, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
Prof. Dr. med. Ingeborg Krägeloh-Mann, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin
© Wilma Leskowitsch/stern
Ingeborg Krägeloh-Mann ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Sie unterstützt den Ärzte-Appell im stern und sagt: "Nur die Diagnose wird betrachtet, nicht der Patient in seiner Gesamtsituation."

Die Kinderheilkunde zeigt die Probleme des DRG-Systems (Diagnosis Related Groups; Bezeichnung für pauschalisiertes Abrechnungsverfahren in deutschen Kliniken; Anm. d. Red.) wie unter einem Brennglas. Viele kleine Patienten fallen durch die Maschen des Systems. Ein Beispiel: Ein Kind kam mit schweren Schäden am Gehirn und der Lunge zur Welt. Bei uns wurde es nun mit einer akuten Lungenentzündung eingeliefert, die "Hauptdiagnose". Die mehrfache Behinderung hingegen lässt sich nicht abbilden. Doch dieses Kind hat natürlich einen komplett anderen Bedarf als ein "gesundes". Es muss aufwendiger überwacht werden, braucht mehr Kontrolluntersuchungen.

Kinder machen bei medizinischen Maßnahmen nicht einfach mit, die Schwestern und Pfleger müssen viel mehr erklären und trösten, mit den Eltern sprechen. Eine Lungenentzündung verläuft wegen der Grunderkrankung mit der vorgeschädigten Lunge schwerer, und die Behandlung dauert schnell doppelt so lang. Die Kosten beliefen sich auf rund 9500 Euro, ersetzt bekamen wir in diesem Fall aber nur 2700. Es ist ein Grundfehler im System, dass nur die Diagnose betrachtet wird, nicht der Patient in seiner Gesamtsituation.

Zudem haben wir in der Kinderheilkunde enorme Vorhaltekosten aufgrund der vielen Notfälle, für die das Pflegepersonal und Ärzte tags und nachts bereitstehen müssen. 80 Prozent der Behandlungen sind kaum planbar. Im Winter quellen die Zimmer während der Grippeepidemie über, im Sommer stehen sie manchmal leer. Wir werden immer wieder zum Vorstand zitiert und müssen uns rechtfertigen. Er unterstützt uns, doch es gibt auch die Vorgabe einzusparen. Ein ständiger Kampf. Mit immer mehr Leistung versuchen wir zu kompensieren, was im Budget nicht abgebildet ist – was alle stresst.

Wir stehen im Konflikt zwischen unserem ethischen Anspruch, dem hippokratischen Eid – und dem Alltag, in dem plötzlich ökonomische Argumente schlagend sein sollen. Doch wir ändern unsere Medizin nicht, damit sie in das DRG-System passt. Das System muss sich den Bedürfnissen anpassen, nicht umgekehrt.

Sind Sie Ärztin oder Arzt?

Falls Sie den Mediziner-Appell (hier zum Nachlesen) namentlich unterstützen wollen, schreiben Sie uns bitte an aerzteappell@stern.de. Die Liste der Unterzeichner wird auf stern.de veröffentlicht. Um überprüfen zu können, dass Sie wirklich Ärztin oder Arzt sind, benötigen wir von Ihnen folgende Angaben (nur Punkt 1-3 wird veröffentlicht):

1. den vollständigen Namen

2. Facharztbezeichnung und Funktion

3. Arbeitsort

4. Arbeitgeber

5. E-mail von einem verifizierbaren Account (z.B. Ihre Praxis, Ihr Arbeitgeber)

6. Hilfreich: Website-Auftritt Ihrer Praxis oder Ihres Arbeitsgebers mit Angaben zu Ihnen

Sollten Sie Beispiele beobachten, die zeigen, wie wirtschaftliche Zwänge ärztliche Entscheidungen beeinflussen, schreiben Sie uns gern auch dies. Wir nehmen dann vertraulich Kontakt zu Ihnen auf.

Collage: Operationssaal, Stern-Reporter Bernhard Albrecht

Wer wird in Deutschland unnötig operiert, Herr Albrecht?

04:05 min

 

Mensch vor Profit: Eine Kinderärztin klagt an: "Viele kleine Patienten fallen durch die Maschen des Systems"

STERN Nr. 37/19

Protokoll: Isabel Stettin
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