Seit Monaten streikt das Pflegepersonal in Frankreichs Notaufnahmen. (Bild: Samuel Boivin / Imago)

Seit Monaten streikt das Pflegepersonal in Frankreichs Notaufnahmen. (Bild: Samuel Boivin / Imago)

Das Spital wird selber zum Notfall: Frankreichs Gesundheitssektor streikt

Personalmangel, Überlastung und Aggressionen durch Patienten: Seit sechs Monaten streikt das Pflegepersonal in den Notfallstationen von Frankreichs öffentlichen Spitälern. Nun hat Gesundheitsministerin Agnès Buzyn neue Zugeständnisse gemacht.

Rudolf Balmer, Paris
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An der Fassade des Pariser Spitals Saint-Antoine, unweit des Place de la Bastille, hängen aus Leintüchern gefertigte Spruchbänder mit der Aufschrift: «En grève!» (im Streik). Doch die Arbeit ruht nicht, ganz im Gegenteil. Alle paar Minuten fährt ein Ambulanzwagen am Eingang der Notaufnahme vor, und dies rund um die Uhr. Andere Patienten kommen selber direkt dorthin. Auch am Empfang sehen sie den Hinweis darauf, dass hier das Personal streikt. Das steht so mit dem Filzstift geschrieben auf den weissen Arbeitstenus und -blusen der meist vorbeieilenden Beschäftigten. Sie sind offiziell im Streik, doch sie arbeiten trotzdem mehr denn je.

Man kann sich nicht ausmalen, wie es wäre, wenn die Beschäftigten effektiv die Arbeit niedergelegt hätten. Ihr mehr symbolischer Streik wird denn auch sehr ernst genommen und erhält in den französischen Medien ein fast durchwegs wohlwollendes Echo. Die an der Qualität der Pflege interessierten Bürger haben ebenfalls Verständnis für die Anliegen und auch für die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen, die zugleich bessere Aufnahmebedingungen garantieren sollen.

Aggressionen als Auslöser

In der Notfallstation von Saint-Antoine hat der Streik vor einem halben Jahr begonnen. Es ging zunächst um die Aggressionen durch entnervte Patienten oder deren Angehörige, denen das Personal immer wieder ausgesetzt ist. Da es an verfügbaren Betten mangelt, liegen die Neuankommenden oft bis zu acht Stunden auf Bahren, manchmal sogar länger. Dort warten sie darauf, dass sich jemand um sie kümmert.

Die Notfallstation ist – wie praktisch alle Notfallstationen in Frankreich – vor allem in der Nacht und an den Wochenenden notorisch unterbesetzt. Absolute Priorität für die Ärzte und Pflegefachleute haben die wirklich dringenden Fälle, in denen es häufig um Leben und Tod geht. Die anderen müssen sich gedulden. In Lokalzeitungen ist gelegentlich von Fällen zu lesen, bei denen das Warten ohne medizinische Hilfe skandalös lange gedauert habe und ein Patient schliesslich verstorben sei, ohne einen Arzt gesehen zu haben.

«Die Notaufnahme ist selber zum Notfall geworden», erklärt die Hilfspflegerin Candice Lafarge. Für die 33-Jährige ist das niedrige Gehalt des Pflegepersonals der Hauptgrund für den Personalmangel. Ihr Gehalt liege nach zwölf Jahren unermüdlichen Einsatzes mit 1500 Euro im Monat nur knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn. Solche prekären Konditionen würden diesen Beruf im öffentlichen Dienst nicht gerade attraktiv machen. Viele ihrer Kolleginnen gingen deshalb lieber in private Kliniken oder Altersheime, wo sie mehr verdienten, oder dann gleich über die Grenze in die Schweiz, berichtet Lafarge.

Mehr Patienten, weniger Betten

Dieselbe Situation mit vorzeitigen Abgängen in den Privatsektor oder gar Berufswechseln kennt auch der diplomierte Krankenpfleger Pierre Schwob, der im Spital Beaujon in Clichy bei Paris arbeitet. Er leistet fast ausschliesslich Nachtdienste und sieht entsprechend bleich und müde aus. «In meiner Notfallabteilung bin ich der Einzige, der es acht Jahren lang ausgehalten hat», sagt er mit einem Anflug von ironischem Stolz. Schwob gehört wie Candice Lafarge zum Kollektiv Inter-Urgences, das den Streik koordiniert. Auch er hält es für vorrangig, die Pflegeberufe im öffentlichen Dienst aufzuwerten. Dazu müssten die Löhne des Pflegepersonals um 300 Euro im Monat erhöht werden, lautet die Forderung der Streikenden.

«In vielen Abteilungen gibt es zwar offene Stellen, doch sie können mangels Bewerbungen nicht besetzt werden», präzisiert Schwob. Trotz den Rekrutierungsproblemen fordert das Kollektiv für ganz Frankreich 10 000 zusätzliche Arbeitsstellen für die Notaufnahmen und ein Moratorium bei der Verminderung der Aufnahmekapazitäten. Diese sind im Rahmen der Kostensenkungen und Fusionen von Abteilungen im ländlichen Frankreich in den letzten zwanzig Jahren laut den Streikenden um 100 000 Betten reduziert worden, während sich in der gleichen Zeit die Nachfrage von Notfallpatienten praktisch verdoppelt hat. Kamen 1996 laut einem Bericht des Gesundheitsministeriums noch rund 10 Millionen Patienten in die Notaufnahmen, waren es 21 Millionen im Jahr 2016.

«Wir können niemanden abweisen»

Die Streikenden wie auch die Regierung sehen in dem wachsenden Andrang das Hautproblem. «Wir sind für alle da. Wir können niemanden abweisen, weil wir bereits überlastet sind», sagt Pierre Schwob. Candice Lafarge erklärt, dass neben den eigentlichen medizinischen Notfällen auch Kranke in die Notaufnahme kämen, die schlicht keinen Hausarzt hätten oder in einer Arztpraxis keinen Termin bekämen. Hinzu kämen Obdachlose, die in der Notfallstation schlafen oder sich einen Kaffee aus dem Automaten leisten wollten.

Die resultierende Überlastung und der Stress wirken sich auf das Personal aus, die ihre Arbeit nicht mehr gewissenhaft erledigen können. «Wenn ältere Menschen mehrere Stunden ohne Betreuung auf der Bahre liegen, weil kein Bett für sie vorhanden ist, wird das eine Form von institutioneller Misshandlung», schimpft der Pfleger Schwob.

Gesundheitsministerin reagiert

Die französische Gesundheitsministerin Agnès Buzyn, selber eine ehemalige Medizinerin, die aus ihrer Erfahrung allerdings besser die Forschung als den Spitalalltag kennt, hat angesichts des andauernden Streiks am Montag neue Massnahmen angekündigt. Sie will in den kommenden drei Jahren 750 Millionen Euro in die Hand nehmen. Den Andrang auf die überfüllten Notfallstationen will sie unter anderem durch die Einrichtung eines «Service d’accès aux soins» bis zum Sommer 2020 mindern. An diese Plattform sollen sich die Franzosen per Telefon oder via Internet 24 Stunden am Tag wenden können und je nach Dringlichkeit medizinische Auskunft erhalten, an einen Hausarzt oder an eine Notfallstation verwiesen werden. Privatärzte sollen mehr Besuchszeiten ohne Terminvereinbarung anbieten und dabei unterstützt werden. Zudem will Buzyn dafür sorgen, dass für die besonders fragilen betagten Patienten die lange Wartezeit in den Notfallstationen wegfällt.

Bereits zuvor ist die Ministerin den Streikenden zwei Mal ein Stück weit entgegengekommen. Den Nachtdienst leistenden Pflegern sprach sie eine monatliche Prämie von 100 Euro zu, als eine Art Gefahrenzulage. Im Sommer hat sie einen Zusatzkredit von 70 Millionen freigestellt, der es jedoch nur gerade erlaubt hat, ferienbedingte Absenzen durch Temporärangestellte zu kompensieren. Die Streikenden waren von der Machbarkeit und auch der notwendigen Finanzierung der Vorschläge bisher nicht überzeugt. Erste Reaktionen auf die nun angekündigten Massnahmen sind ebenfalls skeptisch. Denn von der Schaffung neuer Stellen in den Notaufnahmen etwa war in Buzyns Ankündigung nicht die Rede.

Ärzte schliessen sich dem Streik an

Seit Anfang September bekommen die Streikenden eine wachsende Unterstützung durch die Notfallärzte. Der aus den Medien sehr bekannte Notfallarzt Patrick Pelloux, der zum Redaktionsteam des 2015 von Terroristen überfallenen Satireblatts «Charlie Hebdo» gehörte, ist Vorsitzender der Association des médecins urgentistes (Amuf). Diese unterstützt das Kollektiv Inter-Urgences, spricht sich aber für eine Reform des aus dem Gleichgewicht geratenen Gesundheitswesens insgesamt aus: «Es braucht globale Lösungsansätze. Die Notfallstationen sind ja nicht das einzige Problem», sagte Pelloux. Ihn ärgert besonders, dass die Regierung immer an «die Nächstenliebe und die Humanität» des Pflegepersonals appelliert habe, um zu Mehrarbeit anzuspornen: Einer Krankenschwester, die eigentlich vier Patienten betreuen sollte, werde gesagt, sie könne doch auch sechs übernehmen.

Über das weitere Vorgehen will Inter-Urgences am Dienstag in einer Vollversammlung in Saint-Denis entscheiden. Auch die Idee, die Patienten zu mobilisieren, kam auf. Diese werden beispielsweise am Eingang der Notfallstation von Mülhausen im Elsass von einem Schild begrüsst, auf dem steht: «Sie müssen nicht warten, weil wir im Streik sind – wir sind im Streik, weil Sie warten müssen.»

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