Forensic Nurse Juliette Galli sichert im Spital Bülach DNA-Spuren unter den Nägeln eines Gewaltopfers. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Forensic Nurse Juliette Galli sichert im Spital Bülach DNA-Spuren unter den Nägeln eines Gewaltopfers. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Wie Krankenschwestern auf der Notfallstation Gewaltverbrechen aufdecken

Im Spital braucht es mitunter detektivischen Spürsinn. Pflegefachpersonen, sogenannte Forensic Nurses, sichern Beweise, damit Opfer von Gewalt zu ihrem Recht kommen. Dazu gehören zum Beispiel DNA-Spuren.

Rebekka Haefeli
Drucken

Juliette Galli macht auf den ersten Blick nicht den Eindruck der fürsorglichen, mütterlichen Krankenschwester. Sie hat blonde, etwas struppige Haare, ist ganz in Schwarz gekleidet und steht mit hochhackigen Schuhen am Empfang im Spital Bülach. In den Händen hält sie eine grosse, mintfarbene Kartonschachtel – ein wichtiges Utensil für die Forensic Nurse.

Faszination für Polizeiarbeit

Galli ist 55 und arbeitet seit vielen Jahren als Notfallexpertin, zu Platzspitz- und Letten-Zeiten war sie im Zürcher Stadtspital Waid. Die von krimineller Energie bestimmte Drogenszene hat sie geprägt. «Fast täglich sah ich Opfer von Messerstechereien, Schiessereien oder Schlägereien», sagt sie. Und sie kam in Kontakt mit Polizisten, war fasziniert von deren Arbeit und von der Beweissicherung, die dazu dient, Täter zu überführen.

Um Forensic Nurse zu werden, hat Juliette Galli eine Zusatzausbildung in Rechtsmedizin absolviert. Der CAS wird seit 2015 in Zürich vom Institut für Rechtsmedizin (IRM) in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich angeboten. Über fünfzig Pflegefachpersonen haben den Studiengang in Zürich bisher abgeschlossen. Ähnliche Ausbildungen gibt es auch in Bern, Lausanne und Chur.

Die Notfallexpertin aus dem Spital Bülach erzählt, sie liebe die Action nicht nur im Beruf. Sie fährt in der Freizeit Töff und arbeitete als Tauchlehrerin auf den Malediven. Im Gespräch kommt sie auf ihre Menschenkenntnis und aufs Bauchgefühl zu sprechen, das ihr im Alltag sagt, «wenn etwas nicht stimmt». Ihre Mimik und ihre Stimme werden weicher; sie sagt, die Ausbildung habe ihre Sensibilität gestärkt und ihr Sicherheit vermittelt. Wenn sie heute den Verdacht hegt, ein Gewaltopfer vor sich zu haben, dann weiss sie genau, was zu tun ist.

Vertrauen gewinnen

«Eine junge Frau, die gerade erst ein Kind bekommen hatte, war erneut schwanger und kam dreimal hintereinander zu uns in den Notfall», erzählt Juliette Galli. «Jedes Mal behauptete sie, sie sei die Treppe hinuntergestürzt. Schliesslich verlor sie das ungeborene Kind.» Auffällig waren für Galli nicht nur die angeblichen Unfälle der Frau. Verdächtig war auch das Verhalten ihres Partners. Er wich im Spital nicht von ihrer Seite und reagierte aggressiv, als man ihn von der Frau trennen wollte.

Juliette Galli hat für ihre Arbeit als Forensic Nurse eine Zusatzausbildung in Rechtsmedizin absolviert. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Juliette Galli hat für ihre Arbeit als Forensic Nurse eine Zusatzausbildung in Rechtsmedizin absolviert. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

«Als Forensic Nurse habe ich gelernt, rätselhaftes Verhalten zu deuten und nachzufragen. Hinter einer Phantasiegeschichte steckt oft ein Fall von häuslicher Gewalt.» Galli räumt ein, es brauche Mut, zu intervenieren, und oft sei nur wenig Zeit vorhanden, um Vertrauen zu gewinnen. Das Ziel sei, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen und Opfer zu unterstützen. Dafür ist mitunter die mintfarbene Schachtel hilfreich, die sie zum Treffen mitgebracht hat.

Abstriche für DNA-Abgleiche

Mit dieser Untersuchungsbox arbeiten alle Forensic Nurses, welche die Ausbildung des Instituts für Rechtsmedizin Zürich absolviert haben. Sie dient der Beweissicherung in Fällen mit Verdacht auf sexuelle Gewalt. Die Box enthält unter anderem ein Körperschema, in das Verletzungen eingezeichnet werden, Stäbchen für Abstriche, die man später für DNA-Abgleiche verwenden kann, sowie Behältnisse zum Aufbewahren von Proben wie Blut, Urin, Haaren oder von Partikeln, die unter Fingernägeln entnommen werden.

Die genitale Untersuchung bei mutmasslichen Sexualdelikten wird immer von einer Gynäkologin oder einem Gynäkologen durchgeführt. Die Forensic Nurse assistiert. Die Proben können mit Einverständnis der Patientin auch gesichert werden, wenn sich das Opfer aus Angst oder Scham momentan nicht zu einer Strafanzeige entschliessen kann. Die Box wird versiegelt, ans Institut für Rechtsmedizin geschickt und dort ein Jahr lang aufbewahrt. Dies für den Fall, dass das Opfer zu einem späteren Zeitpunkt Anzeige erstatten will.

Fotos und Beschreibungen

Auch im Zürcher Stadtspital Triemli, wo Eveline Spring als Pflegefachfrau mit Notfallpflegespezialisierung tätig ist, gibt es diese mintfarbene Box. Spring ist 32 Jahre alt, hat braune Haare und sieht selbst nach einem strengen Frühdienst noch ganz frisch aus. Aufgewachsen ist sie in einer Landgemeinde im Aargau. Im Triemli wird sie täglich mit Schicksalen konfrontiert, die sie früher nicht für möglich gehalten hätte.

«Im Schockraum behandeln wir Männer mit einem Messer im Bauch oder Frauen, die vergewaltigt und lebensbedrohlich verletzt wurden», erzählt die junge Frau. Wichtig sei neben der notfallmedizinischen Versorgung – die vorrangig sei –, den Ist-Zustand zu dokumentieren: Verletzungen werden fotografiert und beschrieben, Beweise wie Waffen und Kleider werden in speziellen Säcken sichergestellt und später ans Institut für Rechtsmedizin weitergegeben.

Neben Eveline Spring arbeiten zwei weitere Forensic Nurses im Triemli. Gemessen an den insgesamt rund 80 Pflegenden im Notfall sind das wenige. Spring und ihre Kolleginnen sind darum bemüht, das Team weiterzubilden und für ihre Anliegen zu sensibilisieren. Sie sagt: «Weil die Patientenzahl auf der Notfallstation zuweilen gross ist und die Zeit ständig drängt, muss man sich hin und wieder schon recht durchsetzen.»

Beweise im Stress vernichtet

Wie wichtig die Arbeit der Forensic Nurses in ihren Augen ist, illustriert Spring an einem Beispiel: Eine Frau wird nach einer Vergewaltigung verletzt ins Spital gebracht und muss operiert werden. Die Unterwäsche wird entfernt, ein Katheter gelegt­­ – doch beim Desinfizieren werden Spuren weggewischt. Der Stress der Erstversorgung führt dazu, dass wichtige Beweise vernichtet werden, obschon deren Sicherung nicht viel Zeit in Anspruch genommen hätte.

Eveline Spring sagt, sie sei fasziniert von TV-Serien wie «CSI», in denen Kriminalpolizisten die Hauptrollen spielen. Auf die Ausbildung zur Forensic Nurse sei sie zufällig gestossen. Es gehe ihr vor allem darum, gewaltbetroffene Patientinnen und Patienten zu unterstützen. Das Spektrum im Alltag sei vielschichtig, erzählt sie: «Man darf nicht vergessen, dass häusliche Gewalt sowohl in hetero- als auch in homosexuellen Partnerschaften vorkommt und dass von Übergriffen auch ältere Menschen betroffen sind.»

Persönlich gehen ihr die Fälle mit Kindern am meisten unter die Haut, wobei sie selber noch keine Kinder hat. «Ich erinnere mich an einen kleinen Patienten, der innerhalb von kürzerer Zeit mehrmals auf dem Notfall aufgenommen wurde, immer mit Brüchen, Prellungen und Hämatomen. Da fühle ich mich allein machtlos.»

Im Kanton Zürich gibt es gemäss Gesundheitsgesetz ein Melderecht für Personen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Das heisst, sie können Wahrnehmungen melden, die auf ein Verbrechen hindeuten – sie müssen aber nicht. Im Spitalalltag handelt es sich laut Spring immer um eine Entscheidung im Team.

Vermittler zur Rechtsmedizin

Eine der Initiantinnen des CAS Forensic Nursing ist Rosa Maria Martinez. Sie ist Fachärztin für Rechtsmedizin und Bereichsleiterin Klinische Rechtsmedizin am IRM Zürich. Martinez sagt, den Ausschlag für die Ausbildung habe nicht ein einziger, spektakulärer Fall gegeben, sondern die Erfahrung, dass das Bewusstsein für die Forensik oft fehle. «Forensic Nurses sind Bindeglieder zwischen den Ärzten und der Rechtsmedizin», erklärt sie. Während Ärztinnen und Ärzten erfahrungsgemäss kaum Zeit bleibe, ein tieferes Gespräch mit den Patienten zu führen, sei das Pflegefachpersonen eher möglich.

«Es ist wichtig, dass bereits auf dem Notfall jemand an die Spurensicherung denkt», sagt die Rechtsmedizinerin. «Wenn der Patient schon im Operationssaal war und die Wunde gereinigt und zugenäht ist, ist es zu spät für gerichtsverwertbare Beweise. Wenigstens Fotos sollten die Spitalberichte enthalten.»

Martinez äussert zwar Verständnis für Ärzte, die Wunden möglichst rasch verschliessen. «Sie machen nur ihre Arbeit.» Für ein Opfer sei es aber absolut entscheidend, ob eine forensische Untersuchung durchgeführt werde.

Engmaschiges Netzwerk als Ziel

Sarah Bressan ist 36-jährig, Notfallpflegefachfrau am Kantonsspital Winterthur, und sie war Teilnehmerin des ersten Studienganges Forensic Nursing 2015. Die zackige junge Frau mit der Hochsteckfrisur sagt, auch wenn das vielleicht eigenartig klinge, gereizt habe sie die «Detektivarbeit». Eine weitere Motivation liege in ihrem Gerechtigkeitssinn. Bressan erwähnt, es sei zuweilen herausfordernd, einen Verdacht auszusprechen.

Nicht immer weiss sie, ob Betroffene Unterstützung von der Polizei oder einer Beratungsstelle annehmen. «Manchmal fühle ich mich ziemlich hilflos.» Genau wie ihre zwei Kolleginnen im Spital Bülach und im Stadtspital Triemli Zürich gibt sie ihr Wissen an internen Vorträgen weiter. Die drei Forensic Nurses sind sich einig, dass ihr Netz in Zukunft noch viel engmaschiger gespannt werden müsste.

Juliette Galli engagiert sich im Vorstand der Swiss Association Forensic Nursing (SAFN), eines Vereins, der 2017 gegründet wurde. Der Verein setzt sich in der Weiterbildung und auf politischer Ebene für eine bessere Anerkennung ein. Das Ziel wäre, dass nicht nur Spitäler, sondern auch Alters- und Pflegeheime sowie Sanitätsdienste in ein Forensic-Nursing-Netzwerk eingebunden wären. Galli schwebt ein 24-Stunden-Pikettdienst vor: «Pizza kann man per Telefon bestellen. Warum nicht auch eine Flying Forensic Nurse?»

Mehr von Rebekka Haefeli (ekk)