Gastkommentar

Rationalisierung rettet die obligatorische Krankenversicherung

Im schweizerischen Gesundheitswesen kann noch sehr viel optimiert werden, ohne dass es zur Einschränkung medizinisch notwendiger Leistungen kommt.

Thomas J. Grichting
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Es gibt Haushalte, die bis zu 18 Prozent des verfügbaren Einkommens für ihre medizinische Grundversicherung ausgeben. (Bild: Gaetan Bally / Keystone)

Es gibt Haushalte, die bis zu 18 Prozent des verfügbaren Einkommens für ihre medizinische Grundversicherung ausgeben. (Bild: Gaetan Bally / Keystone)

Die Gesundheitskosten steigen weitgehend ungebremst weiter und belasten über Krankenkassenprämien und Steuern die Haushalte. Neben dem erfreulichen medizinischen Fortschritt stehen wir vor dem Problem der zunehmenden sogenannten Überarztung, welche unnötige Kosten verursacht und den Patienten sogar gesundheitlich schaden kann. Soll die obligatorische Krankenversicherung finanzierbar bleiben, müssen wir uns künftig entschiedener auf Behandlungen beschränken, die wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind.

Bisher wenig Wirkung

Die bisherigen Massnahmen zur Eindämmung der Gesundheitskosten zeigten wenig Wirkung. Gewisse Haushalte geben gemäss Bundesamt für Gesundheit bis zu 18 Prozent des verfügbaren Einkommens für ihre medizinische Grundversicherung aus. So kann es nicht weitergehen. Neben Nachbesserungen bei der Prämienverbilligung braucht es griffige Massnahmen zur Rationalisierung.

Im schweizerischen Gesundheitswesen kann noch sehr viel optimiert werden, ohne dass es zur Einschränkung medizinisch notwendiger Leistungen kommt. Zu den Hebeln gehören evidenzbasierte Behandlungsleitlinien und die Beseitigung von Fehlanreizen im Gesundheitssystem. So darf es sich künftig für Ärzte und Spitäler schlicht nicht mehr lohnen, mehr als das medizinisch Notwendige anzubieten.

Der Bundesrat schlägt vor, eine verbindliche Kostensteuerung durch die Tarifpartner, also Krankenversicherer, Ärzte und Spitäler, einzuführen. Dies ist sinnvoll. Die Akteure im Gesundheitssystem sollen unter Berücksichtigung von Wirtschaftskraft, Krankheitslast und medizinischem Fortschritt den zulässigen Kostenanstieg und Sanktionen bei Überschreitung aushandeln.

Pauschale Vergütungen auch im ambulanten Bereich sollen zusätzlich zur Kostensteuerung beitragen und die Ausweitung der Anzahl an unnötigen Untersuchungen und Therapien reduzieren. Damit nicht am falschen Ort gespart wird, braucht es klare Entscheide, welche Interventionen mangels Wirksamkeit oder Wirtschaftlichkeit zu unterlassen sind. Gestützt auf internationale Evidenz und Health-Technology-Assessments, könnten schweizweit einheitliche Behandlungsleitlinien neben der Qualitätssicherung eine Schlüsselrolle bei der Rationalisierung einnehmen.

Entscheidungen treffen

Anstelle von jahrzehntelangen Debatten über die theoretisch besten Massnahmen gilt es hier, medizinische und wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen. Es ist zudem verschiedentlich möglich, evidenzbasierte medizinische Leitlinien aus dem Ausland für die Schweiz zu übernehmen. Der Verein «Smarter Medicine – Choosing Wisely Switzerland», dem medizinische Fachgesellschaften und Patientenorganisationen angehören, nennt aus jeder medizinischen Fachrichtung fünf unnötige Behandlungen. Zum Beispiel sollte die Computertomografie bei Blinddarmverdacht bei Kindern nur durchgeführt werden, wenn eine vorgängige Ultraschalluntersuchung nicht zielführend war.

Flankierend dazu braucht es auch eine Rationalisierung beim medizinischen Angebot. Ein Überangebot an Ärzten kann mangels Auslastung unwirtschaftlich sein und zur Überarztung beitragen. Dasselbe gilt für die Anzahl Spitäler. Nicht jedes Tal braucht ein eigenes Spital mit Hightech-Medizin.

Jahrelang war der Druck gering, sich mit der Kostenkontrolle im Gesundheitssystem zu befassen. Der demografische Wandel und der rasante medizinische Fortschritt führen nun aber dazu, dass die Finanzierung der obligatorischen Krankenversicherung gefährdet ist. Die Zeit drängt. Wir brauchen dringend eine offene, faktenbasierte Auseinandersetzung mit dem Thema Rationalisierung im schweizerischen Gesundheitssystem.

Thomas J. Grichting ist Mitglied der Generaldirektion und Generalsekretär des Versicherers Groupe Mutuel sowie Vizepräsident von Santésuisse.