S 4 KR 39/15

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 4 KR 39/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Kodierung eines „Schocks“ zur DRG-Bestimmung (etwa T88.2 ICD-10) setzt voraus, dass im Rahmen des stationären Aufenthaltes der Schockindex des Patienten ˃1 war, also der Puls größer als der systolischen Blutdruck. Andere Zustände (etwa ein Kollaps) können nur dann „Schock-Diagnose“ verschlüsselt werden, wenn sie ausdrücklich als Inklusivum im Diagnose-Manual ausgewiesen sind (so zu T88.1 ICD-10).
Die Klage wird abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Anspruchs auf Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung.

Die Klägerin behandelte in dem von ihr betriebenen Medizinischen Zentrum A. den bei der Beklagten krankenversicherten und im Zeitpunkt der Aufnahme 56 Jahre alten D. D. (im Folgenden nur: Versicherter) in der Zeit vom 18. bis 22. Oktober 2010 im Rahmen eines stationären Aufenthalts. Mit Datum vom 16. November 2010 stellte sie der Beklagten für diese Behandlung auf der Basis der DRG I09D einen Gesamtbetrag von 8.684,02 EUR in Rechnung. Die Beklagte glich den Rechnungsbetrag zunächst aus, verrechnete aber am 23. Februar 2012 einen Teilbetrag in Höhe der hiesigen Klageforderung mit einer anderen Vergütungsforderung der Klägerin. Dies basierte auf der Einschätzung des von der Beklagten beauftragten MDK, dass anstelle der Nebendiagnose T88.2 ICD-10 Schock durch Anästhesie die Nebendiagnose I95.2 ICD-10 Hypotonie durch Arzneimittel hätte kodiert werden müssen; denn es habe lediglich ein Blutdruckabfall nach Einleitung der Narkose vorgelegen, keine Schocksituation (Schockindex )1).

Mit Schriftsatz vom 6. März 2015, der am 9. März 2015 bei dem Sozialgericht Fulda eingegangen ist, hat die Klägerin Klage erhoben und verfolgt ihr Vergütungsbegehren weiter. Zur Begründung führt sie aus, dass die bei dem Versicherten gegebene Hypotension zum einen nicht direkt nach Narkoseeinleitung aufgetreten sei, sondern erst deutlich nach dem Schnitt während der Operation. Dieses Phänomen sei daher sicherlich nicht mit der Narkoseeinleitung zu begründen. Der Patient habe vor der Operation Betablocker zu sich genommen, weshalb mit einer Zunahme der Herzfrequenz nicht zu rechnen gewesen sei, so dass ein Schockindex )1 nicht belegt worden sei. Das Kriterium des Schockindexes "versage" im Übrigen bei "jüngeren Patienten".

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.762,92 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 24. Februar 2012 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie im Wesentlichen auf die vorprozessualen gutachterlichen Stellungnahmen des MDK. Durch die präoperativ verabreichten Betablocker komme es im Organismus zu Effekten, durch die vor allem der Blutdruck gesenkt und der Herzrhythmus normalisiert werde. Ein Schockzustand sei aus den Unterlagen ebenso nicht ersichtlich wieder Zusammenhang mit der Anästhesie.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. E., das dieser unter dem 8. März 2014 erstattet hat. Darin führt der Sachverständige aus, dass der intraoperativ aufgetretene Blutdruckabfall ein klar medizinisch relevanter und damit zu verschlüsselnder Sachverhalt gewesen sei. Dies folge aus der Gabe von Arterenol wie auch der Dauer der niedrigen Blutdruckwerte von 45 Minuten. Dabei sei jedoch der Schockindex nie positiv gewesen, also der Puls nicht größer als der systolischen Blutdruck. Der Blutdruckabfall sei als anästhesiebedingt zu bewerten. Eine andere intraoperative Maßnahme, die den Blutdruckabfall verursacht haben könnte, sei nicht wahrscheinlich. Definitorisch sei unter medizinischer Betrachtung zwischen einer Hypotonie, einem Schock sowie einem Kollaps zu unterscheiden. Gleichzeitig sei es durchaus häufig anzutreffen, dass infolge einer Anästhesie ein Blutdruckabfall auftrete; zu verschlüsseln sei dies erst dann, wenn therapeutisch reagiert, also medikamentös gegengesteuert werde, wie es hier der Fall gewesen sei.

Im Hinblick auf die Vorgaben der Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) sei zu beachten, dass auch für Nebendiagnosen das Prinzip der möglichst spezifischen Kodierung Geltung beanspruche. Im Hinblick auf die Kodegruppe T80 – T88 der ICD-10 bestünden diverse Exklusiva, etwa unerwünschte Nebenwirkungen von Arzneimitteln und Drogen (die Diagnosen A00 bis R99 sowie T78.-). Vorliegend kämen als konkurrierende Diagnosen in Betracht:

• R03.1 Unspezifisch niedriger Blutdruck,
• I95.2 Hypotonie durch Arzneimittel
• I97.8 Sonstige Kreislauf Komplikationen nach medizinischen Maßnahmen, andernorts nicht klassifiziert
• T81.1 Schock während oder als Folge eines Eingriffs, andernorts nicht klassifiziert
• T88.2 Schock durch Anästhesie
• T88.5 Sonstige Komplikationen in Folgeanästhesie
• Y57! Unerwünschte Nebenwirkungen bei therapeutischer Anwendung von Arzneimitteln und Drogen

Bezüglich des Begriffs des Schocks führt der Sachverständige aus, dass die medizinische Begrifflichkeit hierfür verlange, dass der Puls größer als der systolische Blutdruck sei, was einem Schockindex )1 entspreche. Es gebe jedoch Anhaltspunkte dafür, dass in der ICD-10 der Schock-Begriff abweichend von dieser medizinischen Definition verwendet werde. So werde in der Diagnose I57- ICD-10 als Exklusivum auf "Kardiovaskulärer Kollaps (R57.9)" verwiesen; diese Diagnose werde jedoch tatsächlich als "Schock, nicht näher bezeichnet, Peripheres Kreislaufversagen o.n.A." definiert. Auch bei der Diagnose T81.1 ICD-10 Schock während oder als Folge eines Eingriffes, andernorts nicht klassifiziert finde sich als Unterfall "Kollaps o.n.A.". Daher sei davon auszugehen, dass die Begriffsverwendung der ICD-10 von einem weiteren Begriffsverständnis des Schocks ausgehe, als er der medizinischen Definition zugrunde liege. Folglich komme es für die hier zu treffende Entscheidung nicht zwingend darauf an, dass ein Schockindex )1 dokumentiert sei.

Ein Kollaps wiederum werde definiert als "zusammen sinken, zusammenfallen" und als "Bezeichnung für plötzlich auftretende (passagere) Kreislaufinsuffizienz mit Pulsus filiformis und kurzzeitige Bewusstseins ein Trübung oder Bewusstlosigkeit (Synkope) infolge akuter Verminderung des venösen Blutrückstroms zum Herzen bei Funk zu Kreislaufstörungen oder vena cava inferior Syndrom".

Im Hinblick auf die gebotene spezifischste Kodierung könne unter Zugrundelegung des vorzugswürdigen Systems von Zaiß in: ders, "Verschlüsseln leicht gemacht", durch Bewertung der Lokalisation einer Diagnose, deren Beschreibung, der Ursache, der gewählten Therapie sowie des Zeitpunkts eine Rangfolge der infrage kommenden Diagnosen gebildet werden. Dies führe im vorliegenden Fall zur Auswahl der Diagnose T88.2 ICD-10 Schock durch Anästhesie. Selbst wenn man entsprechend der Zaißschen Empfehlung die Beschreibung der jeweiligen Diagnose doppelt bewerte, ändere sich insoweit nichts. Folglich sei seitens der Klägerin der Kode T88.2 ICD-10 mit Recht verschlüsselt worden.

Soweit die Klägerin vortrage, dass die Herzfrequenz des Versicherten infolge der Verabreichung von Betablockern nicht habe ansteigen können, so dass davon auszugehen sei, dass ohne eine entsprechende Medikation der Puls im Rahmen der instabilen Kreislaufsituation stärker angestiegen wäre und sogar den Wert des systolischen Blutdrucks überstiegen hätte, könne dies für sich nicht überzeugen, da dies eine rein fiktive Argumentation sei. Der 56-jährige Versicherte sei zudem auch kaum mehr als "jung" zu bezeichnen.

Dem ist die Beklagte unter dem 26 April 2016 entgegengetreten. Sie führt darin aus, dass bereits kein Schock vorgelegen habe, so dass das von dem Sachverständigen gefundene Ergebnis allein aus diesem Grund nicht zutreffend sein könne. Zudem habe er selbst ausgeführt, dass es sich um einen relevanten Blutdruckabfall gehandelt habe, der als unerwünschte Nebenwirkung der Narkosemittel bewertet werden könne. Er selbst gehe also nicht von einem Schock aus. Der weiter durch den Sachverständigen zugrunde gelegten Auffassung, dass der Begriff des Schocks auch einen Kollaps umfassen könne, sei nicht zu folgen.

Hierzu hat Sachverständige E. sodann unter dem 24. November 2016 ergänzend Stellung genommen. Darin weist er insbesondere die Kritik an der Anwendung des Zaißschen Systems zurück, der als zentrale Person an der Entwicklung der DKR beteiligt sei. Weiterhin führt er aus, dass in der Beschreibung des Kodes T88.2 ICD-10 in der Tat "nur" der Schock genannt sei; durch die im Gutachten genannten Querverweise werde jedoch deutlich, dass dieser Begriff auch andere Zustände abbilde als den eigentlichen Schock. Primär müsse entsprechend der Vorgabe des BSG auf die reine Wortbedeutung abgestellt werden. Stelle sich dabei jedoch eine Situation dar, die nicht auflösbar sei, sei es legitim, weitere Informationen in die Bewertung einzubeziehen. Vorliegend stelle sich die "festgefahrenen Situation" derart dar, dass eine Hypotonie durch Arzneimittel eine Erkrankung beschreibe (einen länger bestehenden Zustand), ein Anästhetikum nur eine Teilgruppe der Arzneimittel sei und die angewandte Therapie nicht der Therapie einer Hypotonie durch Arzneimittel entspreche. Mit Arterenol werde zudem spezifisch ein Schock behandelt.

Vorliegend sei eben auch zu beachten, dass durch die Gabe des Betablockers das Vorliegen eines Schocks "maskiert" werde, so dass die Aussage: "Schockindex nicht positiv, darum kein Schock" nicht möglich sei. Durch diese Maskierung könne das Herzzeitvolumen bereits im Bereich eines manifesten Schocks sein, ohne dass der Schockindex positiv werde. Diese Situation werde in einer separaten Kodierrichtlinie als Verdachtsdiagnose behandelt. Letztlich könne also das Vorliegen eines Schocks nicht zu 100 % bewiesen werden, er sei auch nicht ausgeschlossen gewesen, der Versicherte sei aber so behandelt worden, als ob ein Schock vorliege.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten sowie des Ergebnisses der Beweisaufnahme im Einzelnen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das vorbezeichnete Gutachten nebst ergänzender Stellungnahme verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet; die Klägerin war nicht berechtigt, zur Berechnung der streitgegenständlichen stationären Behandlung die Nebendiagnose T88.2 ICD-10 zu kodieren.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Vergütungsanspruchs der Klägerin ist § 109 Abs. 4 S.3 SGB V i. V. m. § 7 S. 1 Nr. 1 KHEntgG sowie der Vertrag über die Bedingungen der Krankenhausbehandlung nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für das Land Hessen. Nach Rechtsprechung des BSG entsteht die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit der Inanspruchnahme einer Leistung durch den Versicherten (BSGE 86, 166, 168 = SozR 3-2500 § 112 Nr. 1, BSGE 90, 1, 2 = SozR 3.2500 § 112 Nr. 3). Der Behandlungspflicht der zugelassenen Krankenhäuser i. S. des § 109 Abs. 4 S. 2 SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der nach Maßgabe des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, des KHEntgG und der Bundespflegesatzverordnung in der zwischen den Krankenkassen und dem Krankenhausträger abzuschließenden Pflegesatzvereinbarung festgelegt wird. Die Höhe der einem Krankenhaus zustehenden Vergütung wird durch die abzurechnende DRG (Fallpauschale) bestimmt, die wiederum von den zu kodierenden Diagnosen abhängig ist (zu den Einzelheiten s. BSG, SozR 4-2500 § 109 Nr. 11, sowie Urteil v. 25.11.2010 – B 3 KR 4/10 R – juris Rn. 13). Das für das Krankenhausvergütungsrecht allein zuständige 1. Senat des BSG legt dabei folgende Prämissen zugrunde (etwa Urt. v. 9.4.2019 – B 1 KR 27/18 R –, juris Rn. 13 f.):

"Welche DRG-Position abzurechnen ist, ergibt sich rechtsverbindlich aus der Eingabe und Verarbeitung von Daten in einem automatischen Datenverarbeitungssystem, das auf einem zertifizierten Programm basiert (vgl § 1 Abs 6 S 1 FPV 2011; zur rechtlichen Einordnung des Groupierungsvorgangs vgl BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 19 ff). Zugelassen sind nur solche Programme, die von der InEK GmbH - Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus -, einer gemeinsamen Einrichtung der in § 17b Abs 2 S 1 KHG und § 9 Abs 1 S 1 Nr 1 KHEntgG genannten Vertragspartner auf Bundesebene, zertifiziert worden sind (vgl BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 58 RdNr 13). Das den Algorithmus enthaltende und ausführende Programm greift dabei auch auf Dateien zurück, die entweder als integrale Bestandteile des Programms mit vereinbart sind (zB die Zuordnung von ICD-10-Diagnosen und Prozeduren zu bestimmten Untergruppen im zu durchlaufenden Entscheidungsbaum) oder an anderer Stelle vereinbarte Regelungen wiedergeben. Zu letzteren gehören die Fallpauschalen selbst, aber auch die internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) in der jeweiligen vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des BMG herausgegebenen deutschen Fassung (ICD-10-GM), die Klassifikation des vom DIMDI im Auftrag des BMG herausgegebenen OPS (Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) hier in der Version 2011 idF der Bekanntmachung des BMG gemäß §§ 295 und 301 SGB V zur Anwendung des OPS vom 21.10.2010, BAnz Nr 169 vom 9.11.2010, S 3752, in Kraft getreten am 1.1.2011; zur Grundlage der Rechtsbindung vgl BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 24) sowie die von den Vertragspartnern auf Bundesebene getroffene Vereinbarung zu den DKR für das Jahr 2011 (Vereinbarung zu den Deutschen Kodierrichtlinien Version 2011 für das G-DRG-System gemäß § 17b KHG; zu deren normativer Wirkung vgl BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 18).Die Anwendung der normenvertraglichen Abrechnungsbestimmungen ist nicht automatisiert und unterliegt als Mitsteuerung der prozesshaften Tatbestandsbildung im Zusammenspiel mit den Vorgaben zertifizierter Grouper ihrerseits grundsätzlich den allgemeinen Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft. Die Abrechnungsbestimmungen sind gleichwohl wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems eng am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen. Eine Vergütungsregelung, die für die routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungsfällen vorgesehen ist, kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie allgemein streng nach ihrem Wortlaut sowie den dazu vereinbarten Anwendungsregeln gehandhabt wird und keinen Spielraum für weitere Bewertungen sowie Abwägungen belässt. Demgemäß sind Vergütungsregelungen stets eng nach ihrem Wortlaut und allenfalls ergänzend nach ihrem systematischen Zusammenhang auszulegen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19 RdNr 17 mwN; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 27; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 51 RdNr 13 mwN; BSG SozR 4-5562 § 2 Nr 1 RdNr 15)."

Dem ist zu folgen, so dass entscheidend auf den Wortlaut der jeweiligen Diagnose- oder Prozedurbeschreibungen abzustellen ist.

Für den vorliegenden Fall und die damit relevante Auseinandersetzung mit den gutachterlichen Feststellungen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die von dem Sachverständigen E. angewandte Methode nach Zaiß im Hinblick auf die Auswahl des spezifischsten Kodes auch von der Kammer zu Grunde gelegt wird und ein rationales Verfahren darstellt, aus mehreren Kodes denjenigen auszuwählen, der im konkreten Einzelfall zu verschlüsseln ist. Insofern geht die Kritik der Beklagten am methodischen Vorgehen des Sachverständigen vorbei. Er hat sein Ergebnis überzeugend und in sich schlüssig hergeleitet, ohne dass insoweit etwas zu erinnern wäre.

Ungeachtet dessen kann sich die Kammer dem von ihm gefundenen Ergebnis letztlich nicht anschließen. Zutreffend führt der Sachverständige aus, dass das komplexe System der ICD-10 durchaus Widersprüche und "festgefahrene Situationen" hervorruft, die dann durch systematische Erwägungen, wie sie auch durch das BSG "erlaubt" werden, einer Lösung zugeführt werden können. Prämisse muss aber sein, dass von einer Wortlautinterpretation auszugehen ist; dies bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Kode dann ausscheidet, wenn die (Tatbestands-)Merkmale der Wortlaut-Definition durch den jeweiligen Sachverhalt nicht erfüllt sind. Dies gilt auch dann, wenn in der Zaißschen Systematik ein solcher Kode durchaus zulässig oder gar naheliegend wäre.

Folglich kommt vorliegend die Kodierung der Diagnose T88.2 ICD-10 nicht in Betracht. Der Schock als medizinische Diagnose erfordert, wie auch der Sachverständige E. bestätigt hat, einen Schockindex )1, der vorliegend weder dokumentiert ist und auch nicht vorgelegen hat. Unbeachtlich ist, dass dies möglicherweise nur deshalb der Fall war, weil der Versicherte durch die Gabe von Betablockern eine reduzierte Herzfrequenz aufwies. Die Schockdefinition war schlicht nicht erfüllt. Nun hat der Sachverständige gleichzeitig dargelegt, dass die Verwendung des Schock-Begriffs in der ICD-10 zumindest Zweifel daran aufkommen lässt, dass ihr die aufgezeigte medizinische Definition des Schocks über den Schockindex zugrunde liegt. Dies kann für sich genommen durchaus überzeugen, wirft aber unmittelbar die Frage auf, ob die Abweichung vom klassischen medizinischen Schock-Begriff (Schockindex )1) generaliter der Terminologie und Systematik der ICD-10 zugrunde liegt oder eben nur dort, wo konkrete Inkludierungen oder Verweise (etwa auf einen Kollaps) vorliegen. Der Sachverständige E. geht (inzident) offensichtlich von einer grundsätzlichen Abweichung des Schock-Begriffs aus. Nun sind diesbezüglich die "typischen" logischen Schlüsse denkbar, so dass neben der Schlussfolgerung auf eine grundsätzliche Abweichung vom medizinischen Schockbegriff auch diejenige gleichwertig steht, dass eine Abweichung eben nur dort in der ICD-10 gewollt ist, wo solche ausdrücklich beschrieben sind, wie etwa in T81.1.

Die Kammer schließt sich letzterer Interpretation an, weil auch diese dem Vorrang des Wortlauts besser gerecht wird. Wenn in einem medizinischen Regelwerk wie der ICD-10 Begriffe verwendet werden, zu denen ein eindeutiges Verständnis der medizinischen Wissenschaft existiert, ist es geboten, ebenjene Definition zugrunde zu legen. Wenn also eine Diagnose in ihrer Beschreibung einen "Schock" erfordert, kann sie nur dann verschlüsselt werden, wenn der Schockindex )1 ist. Dabei kann es auch nicht darauf ankommen, warum diese Definitionskriterien nicht erfüllt wurden, wie hier etwa (möglicherweise) durch Gabe eines Betablockers. Liegen sie nicht vor, scheidet die Kodierung aus. Hiervon kann nur dann eine Ausnahme gemacht werden, wenn das Regelwerk, also die ICD-10, ausdrücklich eine Abweichung von diesem Begriffsverständnis anordnet, wenn sie also etwa ein Inklusivum wie einen "Kollaps" enthält. Fehlt ein solcher, muss es beim grundsätzlichen medizinischen Verständnis bleiben.

Damit scheidet für den streitgegenständlichen Behandlungsfall die Kodierung der Diagnose T88.2 Schock durch Anästhesie aus, da hier keine Abweichung vom medizinischen Schockbegriff vorliegt. Nur ergänzend ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass sich an diesem Ergebnis nichts dadurch ändert, dass der Blutdruckabfall des Versicherten durch die Gabe von Arterenol behandelt worden ist, was der typischen Therapie eines Schocks entspricht, wie der Sachverständige E. ausgeführt hat. Denn auch die Wahl der Therapieform kann das Fehlen notwendiger Voraussetzungen einer Diagnose nicht kompensieren. Insoweit hilft auch der von dem Sachverständigen herangezogene Aspekt einer Verdachtsdiagnose nicht weiter, weil sie voraussetzen würde, dass die Diagnose Schock durch Anästhesie nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Da aber zu keiner Zeit der Schockindex )1 war, ist ein Schock nach dieser Definition, auf die es allein ankommt, auszuschließen.

Wegen des Vorrangs der Wortlautinterpretation scheidet auch die Verschlüsselung der Diagnose I97.8 ICD-10 Sonstige Kreislauf Komplikationen nach medizinischen Maßnahmen, andernorts nicht klassifiziert aus. Wie auch der Sachverständige E. ausgeführt hat, verlangt die Verschlüsselung eines Kodes, der eine Erkrankung oder einen Zustand "nach medizinischen Maßnahmen" beschreibt, dass diese Komplikation "mit einem gewissen zeitlichen Versatz zu einer Operation, einem Krankenhausaufenthalt oder einer Intervention auftritt". Intraoperative Zustände, die gerade nicht nach Abschluss eines Eingriffs auftreten, sondern während dessen, können nach dem Wortlaut somit nicht mit dieser Diagnose kodiert werden.

Hinzu kommt, dass nach der Prämisse einer möglichst spezifischen Kodierung vor der Verwendung von Kodes aus I97.- ICD-10 zu prüfen ist, ob die Erkrankung bzw. Störung nicht mit einem Kode aus einem anderen Bereich der ICD-10 und damit ohne den Zusatz in der Bezeichnung "nach medizinischen Maßnahmen" verschlüsselt werden kann (so Zaiß, in: ders. (Hrsg.), DRG: Verschlüsseln leicht gemacht, 14. Aufl. 2016, S. 50). Dies ist hier der Fall, weil mit dem von der Beklagten favorisierten Kode I95.2 ICD-10 Hypotonie durch Arzneimittel ein solcher vorzugswürdiger Kode existiert. Der Blutdruckabfall wird mit dem Begriff der Hypotonie beschrieben; dieser ist nach den Feststellungen des Sachverständigen E. wegen seiner Dauer fast bis zum Ende der Operation "kausal an die eingesetzten Narkotika zu knüpfen" und damit durch Arzneimittel entstanden. Folglich ist der Blutdruckabfall des Versicherten, wie er hier zu beurteilen ist, korrekterweise mit der Diagnose I95.2 ICD-10 zu verschlüsseln gewesen.

Nach alledem ergibt sich, dass die Klägerin die geltend gemachte weitere Vergütung nicht verlangen kann, da der streitgegenständliche Offenheit des Versicherten nicht mit der DRG I09D abgerechnet werden durfte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 197a SGG.
Rechtskraft
Aus
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