Weder das letzte Lebensjahr noch Behandlungen wenige Jahre davor sind überdurchschnittlich verantwortlich für die Entwicklung der Gesundheitskosten.(Bild: Gaetan Bally / Keystone)

Weder das letzte Lebensjahr noch Behandlungen wenige Jahre davor sind überdurchschnittlich verantwortlich für die Entwicklung der Gesundheitskosten.(Bild: Gaetan Bally / Keystone)

Gastkommentar

Sündenbock letztes Lebensjahr

Es sind nicht die letzten Lebensjahre, die schuld an den stetig steigenden Kosten im Gesundheitswesen sind. Das ist erfreulich, weil sich die Politik sonst schwierigen ethischen Entscheidungen stellen müsste.

Fridolin Marty
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Selbst unter Experten ist die Ansicht verbreitet, das letzte Lebensjahr sei derart teuer, dass es die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen massgeblich beeinflusse. Grund für diese Fehleinschätzung ist die individuelle Kostenentwicklung entlang der Lebensphasen. Tatsächlich steigen die Kosten tendenziell für jede Person kontinuierlich bis zum Tod. Das ist wenig erstaunlich, ist doch der Tod im Grunde genommen eine Kumulierung von Fehlfunktionen des Körpers, die wir Krankheiten nennen. Weil die Sterbekosten für den Einzelnen sehr hoch sind, entsteht der Fehlschluss, das letzte Lebensjahr würde die Gesamtkostenentwicklung entscheidend beeinflussen.

Eine Überschlagsrechnung zeigt die relativ geringe Bedeutung der Kosten im letzten Lebensjahr für das Schweizer Gesundheitswesen auf. Die durchschnittlichen Kosten für das letzte Lebensjahr betragen pro Person rund 30 000 Franken. Wir haben in der Schweiz knapp 70 000 Todesfälle pro Jahr, die somit im letzten Jahr gut zwei Milliarden Franken kosten. Die Gesamtkosten in der Grundversicherung betragen aber über 30 Milliarden. 28 Milliarden Franken werden somit durch Personen verursacht, die sich nicht im letzten Lebensjahr befinden; das sind mehr als 93 Prozent.

Es kann also entwarnt werden: Die Sterbekosten sind beinahe unbedeutend für die Gesamtkostenentwicklung. Nun bleibt zu untersuchen, ob die Kosten in mittelbarer Todesnähe (z. B. fünf Jahre vor dem Tod) schuld an der Kostenentwicklung sind. Diese These hat Professor Friedrich Breyer den «Eubie-Blake-Effekt» genannt. Eubie Blake war ein Ragtime-Pianist und wurde biblische 97 Jahre alt. «Wenn ich gewusst hätte, dass ich so alt werde, hätte ich besser auf mich aufgepasst», war sein berühmter Satz. Trotz seinen vielen Gebrechen hat sich sein Tod lange hinausgezögert. Deshalb trägt der Kosteneffekt durch das Hinauszögern des Todes seinen Namen. Die These lautet: Die steigende Lebenserwartung muss erkauft werden durch höhere Ausgaben in den letzten Lebensjahren, damit das Sterben hinausgezögert werden kann.

Der Eubie-Blake-Effekt ist plausibel und wurde für Deutschland nachgewiesen: Je älter man ist, desto näher ist der Tod, und desto höher sind die Kosten. Doch die entscheidende Frage lautet auch hier: Wie relevant ist dieser Effekt für die Gesamtkostenentwicklung? Oder anders ausgedrückt: Sind die stark gestiegenen Krankenversicherungskosten eine Folge der fünfjährigen Todesnähe? Die Antwort lautet auch hier: Nein. Um dies zu plausibilisieren, können wir die Bevölkerung in zwei Gruppen teilen. Die erste Gruppe ist unter 65 Jahre alt und die andere darüber. Letztere repräsentiert 85 Prozent der Todesfälle. Bezüglich des Anteils am Kostenwachstum unterscheiden sich die zwei Gruppen aber kaum. Wäre der Eubie-Blake-Effekt relevant, müsste der Wachstumsanteil bei den alten Leuten massiv grösser sein, da in dieser Gruppe der überwiegende Teil jener Personen vertreten ist, welche fünf Jahre vor dem Tod stehen. Überdies würde man eine unterschiedliche Kostenentwicklung der zwei Gruppen im Zeitverlauf beobachten, wenn sich der Kosteneffekt durch den Technologiewandel auf die letzten Jahre vor dem Tod konzentrieren würde. Auch das ist nicht der Fall.

Weder das letzte Lebensjahr noch Behandlungen wenige Jahre davor sind überdurchschnittlich verantwortlich für die Kostenentwicklung. Das sind sehr gute Nachrichten. Denn die Öffentlichkeit kann somit die letzte Zeit vor dem Tod den Betroffenen und dem medizinischen Personal überlassen und dadurch heikle ethische Entscheidungen vermeiden. Der Grossteil der Kosten entsteht unabhängig vom Todesfall. Das bietet genügend Raum für Diskussionen. Hier kann man mit geschicktem Qualitätswettbewerb um bessere Behandlungsmethoden viel Geld sparen, ohne das System mit Kostenbremsen und mehr Umverteilung auf den Kopf zu stellen.

Fridolin Marty ist Leiter Gesundheitspolitik bei Economiesuisse.