von Christian Bernhart

Krankes Gesundheitswesen, malade Medien

Geht es um Gesundheitspolitik, haben die Medien den Überblick weitgehend verloren. Darüber können auch spektakuläre Enthüllungen wie jene der «Implant Files» nicht hinwegtäuschen. Gerade bei der Kostenexplosion und der mangelhaften Qualitätskontrolle müssten die Medien aufzeigen können, was falsch läuft. Mit den vorhandenen Ressourcen ist das kaum mehr möglich.

Im Gesundheitswesen der Schweiz gibt es mindestens zwei Eckpfeiler, die zu denken geben. Seit der Einführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung OKP im Jahre 1996 haben sich die Kosten mehr als verdoppelt. Von anfänglich 37,5 Milliarden Franken pro Jahr kletterten sie auf heute über 83 Milliarden Franken. Ob jedoch die Qualität, die wir dabei erhalten, diese hohen Kosten rechtfertigt, wissen wir nicht. Müssten wir aber. Denn das Krankenversicherungsgesetz schreibt die Qualitätssicherung ausdrücklich vor. Dass der Bundesrat als oberste Instanz des Gesundheitswesens dieser Verpflichtung bis heute nicht nachgekommen ist, wird in den Medien kaum thematisiert.

Dafür erfahren wir ab und zu von Skandalen, die skrupellose Firmen verursachen, wenn sie im Verbund mit Ärzten geschickt die ohnehin schon largen Qualitätskontrollen der Behörden umgehen. Gut in Erinnerung sind da die sogenannten «Implant Files». Sie kamen zustande als Kollektivarbeit investigativer Journalisten eines internationalen Konsortiums, dem auch die Tamedia-Redaktion angehört. Was die Tamedia-Zeitungen zum Thema veröffentlichten, entstand in der Zusammenarbeit von 58 Medien unter dem Dach des «International Consortium for Investigative Journalists ICIJ».

Ende 2018 deckten der «Tages-Anzeiger» und die «Sonntagszeitung» auf, wie neue Medizinprodukte in Menschen verpflanzt werden, ohne dass sie zuvor rigorose Verträglichkeitstests durchlaufen haben. Und ohne dass die Ärzte ihre Patienten danach über längere Zeit systematisch auf mögliche Komplikationen untersuchten. Als Hauptproblem stehen die europäischen Zertifikat-Prüfungsstellen am Pranger, weil sie Medizinprodukte zum Teil einzig anhand von Dokumenten zertifizierten, ohne das konkrete Produkt überprüft zu haben. Mit der Kennzeichnung CE (Conformité Européenne) ebnen diese Prüfstellen europaweit den Weg dafür, dass Implantate den Menschen zu Studienzwecken während der Testphase einoperiert werden dürfen.

Den Medien gelingt es kaum noch, die grossen Linien im Gesundheitswesen aufzuzeichnen.

Für die Enthüllung der «Implant Files» arbeitete das Recherche-Desk der Tamedia-Redaktion mit dem «Norddeutschen Rundfunk» NDR und dem «Westdeutschen Rundfunk» WDR zusammen, sowie mit der «Süddeutschen Zeitung». Mit dem Blatt aus München teilt Tamedia auch viele Ausland-Korrespondenten und übernimmt regelmässig Artikel für das Ressort Wissen.

Während jedoch der NDR hartnäckig die Kamera auf Politiker und Repräsentanten von Prüfungsstellen richtete und deren fadenscheinige Ausflüchte oder Aussageverweigerungen dokumentierte, liess es die Tamedia-Redaktion bei ein paar hilflosen Aussagen von Swissmedic bewenden. So konnte die Kontrollbehörde etwa sagen, dass die gesetzlichen Grundlagen fehlten, um Schweizer Patienten ausfindig zu machen, die zu Studienzwecken Implantate erhielten.

Und während die «Süddeutsche Zeitung» Ende Januar 2019 als unmittelbare Folge der Serie vermelden konnte, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen Gesetzesentwurf für ein Implantat-Register vorgelegt hatte, räsonierte die Tamedia-Redaktion in einem Leitartikel zu den «Implant Files» anfangs Dezember 2018, dass in der Schweiz eine Anpassung an die strengeren EU-Vorschriften zu Medizinprodukten – dies als Folge von Implantat-Skandalen seit 2010 – «fast unisono auf Ablehnung» stossen werde. Diese Einschätzung erwies sich als klarer Irrtum: Am vergangenen 22. März verabschiedete das eidgenössische Parlament die Anpassung an das EU-Recht im Rahmen der Revision des Heilmittelgesetzes. Darüber verfasste die Agentur AWP eine Meldung, die Medien schwiegen dazu, auch die Tamedia-Redaktion, die sich mit den «Implant Files» einen Namen machte. 2020 will der Bundesrat die strengere Medizinprodukteverordnung in Kraft setzten, nachdem die Vorlage in der Vernehmlassung auf sehr breite Akzeptanz gestossen ist, wie BAG-Mediensprecher Daniel Dauwalder gegenüber der MEDIENWOCHE sagt.

Als die Verlage noch Geld hatten, war es Usus, komplexe Gesundheitsthemen an spezialisierte freie Journalisten auszulagern.

Den Medien gelingt es kaum noch, die grossen Linien im Gesundheitswesen aufzuzeichnen. Ob etwa die Qualität zunimmt, wenn schon immer mehr Geld reinfliesst, oder ob die Sicherheitsstandards erfüllt und kontrolliert werden, wie es das Gesetz verlangt, darüber wird kaum recherchiert. Und wenn das dann doch mal geschieht, dann oft aufgrund internationaler Studien, die bereits im Ausland für Schlagzeilen gesorgt haben.

Ein gutes Beispiel dafür ist das umstrittene Mammografie-Screening zur Früherkennung von Brustkrebs. Eine Langzeituntersuchung an 90’000 Frauen in Kanada löste eine grosses Medienecho aus. Die Studie konnte nachweisen, dass die Sterberate infolge von Brustkrebs gleich hoch lag, unabhängig davon, ob sich die Frauen einem Screening unterzogen hatten oder nicht. Während das Bundesamt für Gesundheit BAG und die Krebsliga das regelmässige Screening nach wie vor empfehlen, sah das Fachgremium des Swiss Medical Board von einer Empfehlung ab und forderte eine Überprüfung des Screening-Programms. Diese Kontroverse führt bis heute zu zahlreichen Berichten in den Medien. Zuletzt etwa ausführlich im letzten April in der Konsumentensendung «Patti Chiari» des italienischsprachigen Fernsehens der Schweiz.

Als die Verlage noch Geld hatten, war es Usus, komplexe Gesundheitsthemen an spezialisierte freie Journalisten auszulagern. So beauftragte etwa die «Berner Zeitung» den Schreibenden ab 2000 viermal mit einer jährlichen Krankenkassenserie, wozu ebenso einschlägige Artikel zur Gesundheitsprävention und zur Kosteneindämmung gehörten. Oder sie rückten gerne kritische Beiträge zum Gesundheitswesen von Experten wie Urs P. Gasche ins Blatt. Gasche verfügt als einstiger Leiter mehrerer Konsumentenmedien («Kassensturz», «K-Tipp», «Gesundheitstipp»), sowie als langjähriger Vertreter der Patienten und Konsumenten in der Eidgenössischen Arzneimittelkommission über grosse Erfahrung mit dem reformresistenten Gesundheitswesen. Gasche veröffentlicht zwar weiterhin zur Gesundheitspolitik, aber mit viel geringerer Reichweite im Online-Magazin «Infosperber».

Kritische Recherchen sind nur möglich, wenn in Redaktionen Personal mit langjähriger Erfahrung tätig ist.

In den Zeitungsverlagen hat sich das Mitarbeiterkarussell infolge Fusionen, Abgängen und Kündigungen nach 2000 immer schneller gedreht. Inzwischen muss sich seit der Einführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bereits die vierte oder teils schon die sechste Journalistengeneration ins komplexe Gesundheitswesen einarbeiten. Kommt hinzu, dass immer weniger Personal die Bundespolitik begleitet. So berichten für die CH-Media-Titel seit diesem Jahr nur noch zwei Journalistinnen aus dem Bundeshaus. Auch für die NZZ müssen zwei Journalisten diese Aufgabe bewältigen. Die Westschweizer Qualitätszeitung «Le Temps» bedient sich für Bundeshausthemen bei der Freiburger «La Liberté». Die Tageszeitungen des Tamedia-Verlags haben eine einzige gemeinsame Bundeshausredaktion. Hier berichtet Markus Brotschi quasi im Alleingang über das komplexe Gesundheitswesen, punktuell unterstützt von seinen Kolleginnen und Kollegen im Bundeshaus und im Inland-Ressort. Als ehemaliger Bundeshausredaktor der Nachrichtenagentur AP und später der «Berner Zeitung» verfügt Brotschi über grosse Erfahrung. Das Potential wäre riesig, wenn er diese über den blossen Agentur-Rapportier-Stil ausbreiten könnte oder dürfte.

Geht es um die kantonale Gesundheits- und insbesondere um die Spitalpolitik, dann sieht es kaum besser aus. Auffallend ist auch hier, dass kritische Recherchen nur möglich sind, wenn in Redaktionen Personal mit langjähriger Erfahrung tätig ist. Hier sticht etwa Susanne Anderegg vom «Tages-Anzeiger» hervor. Seit mehr als zwanzig Jahren begleitet die Redaktorin das Gesundheitswesen im Kanton Zürich im allgemeinen und das Zürcher Universitätsspital im speziellen kritisch. Kosten und Qualität des Gesundheitswesens spielen in ihrer Berichterstattung eine zentrale Rolle. Aus anderen Kantonen fehlen solche Berichte. Ob es daran liegt, dass Journalisten nicht recherchieren oder dass bei der Gesundheitsversorgung alles zum Besten steht, ist schwierig zu beurteilen.

Eigentlich müssten die Redaktionen ihrer Leserschaft vor Augen führen, wie die föderalistische Spitalplanung der Qualität abträglich ist und die Kosten hochtreibt.

Die Gliederung der Redaktionen in Ressorts für Inland und Kantone ist der Berichterstattung über das Gesundheitswesen in der Schweiz generell abträglich. Das andauernde Kompetenzgerangel zwischen Bund und Kantonen, das Reformen im Gesundheitswesen behindert, droht so regelmässig zwischen Stuhl und Bank zu fallen. Dabei müssten die Redaktionen ihrer Leserschaft vor Augen führen, wie die föderalistische Spitalplanung der Qualität abträglich ist und die Kosten hochtreibt.

Die beste Qualität würden Patienten erhalten, wenn beispielsweise Herztransplantationen in der Schweiz maximal in zwei Spitälern durchgeführt würden. Doch der Kantönligeist, massgeblich vertreten durch das Gremium der kantonalen Gesundheitsdirektoren GDK, hatte dafür gesorgt, dass sie nun an drei Standorten in Bern, Zürich und Lausanne durchgeführt werden. Die zwei hochgerüsteten Universitätsspitäler in Genf und Lausanne sind zudem so kostentreibend, dass der Kanton Genf schweizweit die höchsten, der Kanton Waadt die dritthöchsten Krankenkassenprämien aufweisen. An zweiter Stelle steht Basel-Stadt, an vierter Basel-Land, mit je einem Universitäts-, respektive Kantonsspital. Für eine Fusion beider Spitäler konnte sich vergangenen Februar nur Basel-Land mit 66,6 Prozent Ja-Stimmen erwärmen, Basel-Stadt schickte die Fusion jedoch mit 56 Prozent Nein-Stimmen bachab.

Es fällt auf, dass Schweizer Radio und Fernsehen SRF diese Themen stärker aus einer gesamtschweizerischen Optik aufgreift. Im Hinblick auf die Abstimmung der vorgesehenen Spitalfusion der beiden Basler Halbkantone brachte das Wirtschaftsmagazin «Eco» im letzten Januar einen 13-minütigen Beitrag zur Frage: «Wie viele Spitäler braucht die Schweiz?» Die Stärke des Beitrags liegt darin, dass er nebst dem Beispiel von Basel zeigt, wie die Kantone Uri, Wallis und Waadt andere Wege gehen in der Spitalpolitik.

Das Problem der Sendung, neben der späten Ausstrahlung um 22.25 Uhr, besteht darin, dass sie im Prinzip Aussagen der Interessenvertreter ins Zentrum stellt. Kritische Fragen folgen am Ende der Sendung, wenn Moderator Reto Lipp die Präsidentin der Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK und St. Galler Regierungsrätin Heidi Hanselmann mit der Frage konfrontiert, ob es nicht die Aufgabe der GDK sei, überkantonal für mehr Zusammenarbeit zu sorgen und so die Zahl der Spitäler zu reduzieren. Die gut vorbereite SP-Politikerin winkt ab und verneint die Zuständigkeit der GDK in dieser Frage. Das Gremium sei lediglich für die Koordination zuständig, etwa bei der Planung der hochspezialisierten Medizin, die geglückt sei. Gerade diesen Bereich kritisiert aber der Bundesrat (siehe unten). Lipp nimmt Hanselmanns Aussagen auf und folgert: «Also hier hat man es geschafft» – und stellt erneut die Frage nach den zu vielen Spitälern. Leider ohne substanzielle Antwort. Rundweg stellt die St. Galler Gesundheitsdirektorin den preislichen Vorteil einer Konzentration infrage und lenkt das Augenmerk auf präventive Massnahmen und Selbstbeschränkung der Bevölkerung als bessere Lösung hin.

Trifft ein medizinischer Skandal das Ausland, verstreicht mitunter ein Jahr und mehr, bis die Schweizer Medien das Thema aufnehmen.

Bisweilen könnte der Blick über die Grenze zu neuen Einsichten in der Gesundheitspolitik verhelfen. Weil jedoch das Korrespondentennetz der Schweizer Medien immer dünner wird, drang etwa die wichtige holländische TV-Dokumentation «All Meshed Up» von Jet Schouten vom Januar 2016 nicht bis in die Schweiz vor. Erst zwei Jahre später mit den «Implant-Files» rückten die Recherchen des Dokumentarfilms auf den Radar der Schweizer Medien. In dieser Dokumentation sind die Vorwürfe der «Implant Files» an die Prüfungsstellen bereits eindrücklich formuliert. Die Dokumentation sorgte unter anderem dafür, dass das Europäische Parlament das Zulassungsgesetz für Implantate weiter verschärfte. Darauf gehen die «Implant Files» nur am Rande ein. Als Frankreich 2010 die Brustimplantate Poly Implant Prothèse PIP des ehemaligen französischen Metzgers Jean-Claude Mas verbot, machte sich das EU-Parlament sogleich daran, die Zulassungsvorschriften zu verschärfen. Für 400’000 Frauen, die anstelle des medizinischen Silikons, für das die Implantate CE-zertifiziert waren, industrielles Silikon erhielten, kam das Verbot zu spät.

Drei Jahre später, im Oktober 2013, verabschiedete das EU-Parlament die ersten strengeren Zertifizierungsrichtlinien. Im Mai 2017 setzte es die umfassendere gesetzliche Regulierung in Kraft, die ab Mai 2020 nach der dreijährigen Übergangsfrist gültig ist. Zusätzlich gibt es Übergangsfristen für einzelne Produkte bis 2024. Eine bittere Pille habe das EU-Parlament schlucken müssen, wie die deutsche SP-Parlamentarierin Dagmar Roth-Behrendt in den «Implant Files» festhielt. Die Zulassungsbehörden werden nicht verstaatlicht, man beschränkt sich auf ein drastisch strengeres Verfahren und dessen rigorosere Kontrolle, an die sich die staatlichen Behörden aller europäischen Staaten inklusive der Schweiz beteiligen werden.

Die fehlerhaften Prothesen waren den Schweizer Medien keine Meldung wert, obschon das betroffene Spital nur 82 Kilometer nördlich von Basel liegt.

In den Schweizer Medien hingegen wirft der PIP-Brustimplantat-Skandal 2010 kaum Wellen. Die Nachrichtenagenturen SDA und AP schreiben zwar zeitnah Meldungen dazu. Aber erst zehn Tage nach dem französischen Verbot veröffentlichte die NZZ am 9. April 2010 eine gekürzte SDA-Mitteilung. Und gibt dabei Entwarnung: Die Implantate dürften «in der Schweiz keine grossen Schwierigkeiten verursachen», weil hier weniger als ein halbes Dutzend Ärzte das Produkt verwendet hätten.

Im März 2010 müssen im Loretto-Krankenhaus von Freiburg-Breisgau 125 Grossgelenk-Hüftprothesen vom Typ «Durom/Metasul» der Firma Zimmer wegen Metallabrieb bei Patienten ersetzt werden. Die fehlerhaften Zimmer-Prothesen sind den Schweizer Medien keine Meldung wert, obschon das betroffene Spital nur 82 Kilometer nördlich von Basel liegt und sich der europäische Sitz des Unternehmens mit Namen Zimmer Biomet in Winterthur befindet. Und im August 2010 ruft die Firma DePuy ebenfalls seine Hüftimplantate zurück, von denen 93’000 verkauft worden waren.

Trifft ein medizinischer Skandal das Ausland, verstreicht mitunter ein Jahr und mehr, bis die Schweizer Medien das Thema aufnehmen. Und dann geht es zunächst darum, zu versichern, dass bei uns fast alles zum Besten bestellt ist, obschon das Medizinproduktegeschäft längst global ist.

Dass Judith Wittwer, die heutige Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers», im März 2011 in der Handelszeitung den kommerziellen Aspekt der Medizinprodukte ins Zentrum stellt, überrascht daher nicht. Mit Blick auf den PIP-Skandal nennt sie die Implantate ein «Milliardengeschäft mit künstlichen Körperteilen», ein Business, das mit 900 Millionen Franken in der Schweiz «zu den teuersten Disziplinen» gehört. Fragen nach strengeren Qualitätskontrollen stellt sie zunächst Peter Studer der Schweizerischen Zulassungs- und Aufsichtsbehörde Swissmedic, der zu «schärferen Kontrollen» mahnt. Danach Nicolas Markwalder, dem Vertreter der Medizinproduktebranche Fasmed (heute Swiss Medtech), der überhaupt keinen Handlungsbedarf ausmachen will. Wittwer schliesst sich dieser Sichtweise an, wenn sie schreibt, dass die meisten Hersteller verantwortungsvoll handeln – und branchenfreundlich folgert: «Unlautere Methoden wie bei der Skandalfirma PIP sind Extremfälle.» Zynisch kommt einem dann der Folgesatz vor: «Trotzdem passieren immer wieder unschöne Fehler.» Gemeint sind hier die Rückrufe von zehn Implantat-Modellen verschiedener Hersteller in den letzten sieben Jahren, darunter die Hüftimplantate der Firma DePuy mit 1000 Betroffenen in der Schweiz. DePuy ist Tochterfirma von Johnson & Johnson – dem Hansjörg Wyss seine Synthes 2011 für ein paar Milliarden Franken verkaufte. Immerhin legt Wittwer auch den Finger auf den wunden Punkt des fehlenden Schweizer Implantate-Registers, das «sehr wohl als Instrument zum Geldsparen» einzusetzen wäre.

Der Skandal der «Implant Files» hätte durchaus Anlass geben können, mal nachzuforschen, wie es in der Schweiz generell mit der Qualität in der Gesundheitsvorsorge bestellt ist.

Andere Medien nehmen das Thema erst zwei Jahre später auf. In der Rubrik «Forschung & Technik» der NZZ wird im März 2012 die Analyse des renommierten «British Medical Journals» rapportiert, wonach Probleme mit den DePuy-Implantaten bereits 2007 bekannt waren. Dazu folgt der Hinweis, dass nun ein Schweizer Implantate-Register SIRIS geplant ist. Rund zwei Wochen später geht dann die «Sonntagszeitung» auf ihrer «Wissen»-Seite aufgrund einer Untersuchung in Österreich auf das geplante Schweizer Implantate-Register ein. Unter dem Titel «Die Schweiz hinkt hinterher» zeigt Martina Frei auf, dass Schweden der Schweiz in dieser Sache um 40 Jahre voraus ist. Und dass das seit langem bestehende Register des Berner Hüftimplantat-Pionier Maurice E. Müller «nur noch von ein paar Operateuren» genutzt wird, wie Christoph Röder, damaliger Leiter vom Institut für Evaluative Medizin IEFM, im Artikel klagt.

Es sind die drei einzigen Artikel, die zeitnah auf den Implantate-Skandale von 2010 reagierten. Weil sie aber in einer Wirtschaftszeitung, in der NZZ im Ressort «Technik & Forschung» und in der «Sonntagszeitung» im Ressort «Wissen» erschienen, darf ihre Breitenwirkung bezweifelt werden. Als sie veröffentlicht wurden, war es indes um das IEFM bereits geschehen. Maurice E. Müller hatte es über einen Fonds 2002 an der Universität Bern ins Leben gerufen und als Institutsleiter den Wirbelsäulenchirurgen Max Aebi installiert. Das Institut sollte nicht nur die Register weiterführen, sondern mittels Studien auch bei den Implantaten die Best Practice nachweisen. «Für M.E. Müller waren die Register inklusive der fortlaufenden Nachkontrolle der implantierten Patienten das A und O, um seine Implantate weiterzuentwickeln», sagt Orthopäde Urs Müller, der zweite Leiter des IEFM. Und: «Den Ärzten zahlte M.E. Müller deshalb auch Geld, damit die Register gewissenhaft und vollständig ausgefüllt wurden.»

Ende April 2010, als die Fonds-Gelder beinahe aufgebraucht waren, wollte Aebi vor den Medien darlegen, dass Studien des Instituts helfen, die Kosten im Gesundheitswesen, im Besonderen auch der Implantate, einzudämmen. Weder die SDA noch die Zeitungen zeigten Interesse – trotz im Voraus versandter Dokumentation. Erst nachdem ein Institutsmitarbeiter die Inlandredaktionen aller Zeitungen im Hinblick auf den kürzlichen PIP-Skandal telefonisch auf die Medieneinladung aufmerksam gemacht hatte, tauchten doch noch Redaktoren vom «Bund», der «Berner Zeitung» sowie der SDA am Medienanlass auf. Das Ergebnis war recht mager. 36 Zeilen im «Bund», 30 Zeilen in der «Berner Zeitung». Die NZZ, das «St. Galler Tagblatt» und die «Zürichsee-Zeitung» übernahmen einen Teil der ausführlicheren SDA-Meldung. Die Leser erfahren etwas zu den neuen Fallpauschalen in den Spitälern, welche voraussichtlich die Qualität, aber nicht die Preise senken werden. Die vorgestellten Analysen, die bei den Implantaten die Spreu vom Weizen trennen, fielen unter den Tisch.

Eine Weiterführung des Instituts für Evaluative Forschung in der Medizin wird zwar 2009 von Gesundheitsökonom Heinz Locher der Universität Bern empfohlen. Doch die Universität Bern setzt die Akzente anders und investiert in sein neues medizintechnisches Zentrum «Artorg», das mehr Wertschöpfung verspricht. Aebi zieht sich 2011 als emeritierter Professor zurück. Ohne Medienecho stirbt das IEFM leise vor sich hin. Der ausgetrocknete Fonds, rückläufige Forschungsaufträge und der Freitod des Institutsleiters Röder im August 2015 setzten den Schlusspunkt. Oliver Zihlmann, Leiter des Recherchedesk der Tamedia-Redaktion und federführend bei der «Implant Files»-Recherche, suchte vergeblich im Tamedia-Archiv, um zu erhellen, wie Aebi vom Pionier der Evaluationsforschung von Implantaten zum Strafuntersuchungsfall und Schweizer Haupttäter der «Implant Files» wurde.

Das einzige, was von M.E. Müllers Institut heute übrig bleibt, ist das Dokumentationsportal MEMdoc, welches das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern für das Schweizer Implantate-Register SIRIS übernimmt. Erste Resultate mit einem Qualitätsranking will SIRIS im Herbst 2019 publizieren. Das Wirbelsäulenregister hingegen, das Aebi aufbaute und das geholfen hätte, fehlerhafte Bandscheiben aus dem Verkehr zu ziehen, bleibt bedeutungslos. Im Gegensatz zu SIRIS ist es für Spitäler nicht verpflichtend.

Der Skandal der «Implant Files» hätte also genauso Anlass gegeben, mal nachzuforschen, wie es in der Schweiz generell mit der Qualität in der Gesundheitsvorsorge bestellt ist, zumal deren Sicherung seit 23 Jahren vorgeschrieben ist. Eine kohärente Berichterstattung in den Medien gäbe ein unrühmliches Bild. Seit nämlich die SP-Nationalrätin Bea Heim 2003 ihre erste Motion zur Qualitätssicherung für die Patienten einreichte, benötigte es insgesamt drei parlamentarische Initiativen, neun Motionen und ein Postulat, bis der Bundesrat 2015 dazu eine Änderung im Krankenversicherungsgesetz vorlegte. Neu soll nun eine Qualitätskommission tätig werden, die Forschungsprojekte lanciert. Zudem sind Akteure im Gesundheitswesen in speziellen Verträgen zur Qualitätssicherung und deren Verbesserung bei Androhung von Sanktionen verpflichtet. Am 21. Juni dieses Jahres haben die eidgenössischen Räte die Vorlage endlich verabschiedet. Bis zum 10. Oktober läuft die Referendumsfrist. Voraussichtlich auf Anfang 2021 tritt dann die Änderung des Krankenversicherungsgesetzes in Kraft. Das Budget für jährliche Qualitätsforschung beträgt etwa 20 Millionen Franken pro Jahr. Dieser Meilenstein für die Qualitätssicherung war jedoch den Printmedien keine Zeile wert.

Geht es um die kontinuierliche Berichterstattung aus dem Bundeshaus über die Qualität im Gesundheitswesen, ist man bei Schweizer Radio und Fernsehen SRF besser bedient als mit den Zeitungen. So berichtete das «Echo der Zeit» bereits am 5. März darüber, untermauert mit Kommentaren von Bundesrat Alain Berset und Ständeratsmitgliedern. Wir erhalten Kenntnis über die vom Bundesrat eingesetzte Qualitätskommission und darüber, dass die Vorlage noch die Schlussabstimmung überstehen muss. Bereits 2016 berichteten «Tagesschau» und «Echo der Zeit», dass der Ständerat im ersten Anlauf die Vorlage zur Schaffung einer Qualitätskommission noch bachab schickte.

In den Hintergrundsendungen wie «Puls» lässt SRF vor allem Fachleute oder Interessenvertreter zu Wort kommen. Das garantiert zwar Lebendigkeit und Authentizität. Da aber die Aussagen der Fachleute auf ihren Gehalt kaum überprüft werden, heisst es für Zuhörerinnen und Zuschauer: glauben oder nicht glauben.

Ein Beispiel dazu liefert die «Puls»-Sendung «Implantat-Skandal – Wie weiter?», die zeitnah zur Publikation der «Implant Files» am 3. Dezember 2018 ausgestrahlt wurde. Nach einer kurzen Zusammenfassung des Skandals mit den starken Bildern und Statements der NDR/WDR-Dokumentation fordert SP-Nationalrätin Bea Heim in einem halbminütigen Statement, dass die lasche Regulierung der Implantate geändert werden müsse und hier nicht nur Swissmedic, sondern auch die Kantone, Spitäler und die Ärzte in der Pflicht stünden. Einiges länger, nämlich drei Minuten, kann sich dann Implantate-Branchenvertreter Peter Studer von Swiss Medtech den Fragen von Moderatorin Odette Frey stellen. Frey stellt zwar kritische Fragen nach der Qualität und der Kontrolle und bringt Studer arg in Bedrängnis. Dennoch redet er sich heraus mit der unwidersprochenen Bemerkung, dass die Implantate-Branche noch sehr jung sei – was faktisch nicht stimmt. Bereits 1963 wurden die ersten von Sir John Charnley entwickelten Hüftprothesen kommerziell vertrieben. 1967 folgte Maurice E. Müller mit seiner Firma Protek in Münsingen. Man hätte bei Studer, der bis Ende 2017 in führender Position bei der Kontrollbehörde Swissmedic tätig war, nachfragen können, weshalb in der Schweiz die Registerpflicht für Hüft- und Knieprothesen im Vergleich zu anderen Ländern so spät eingeführt wurde und warum für Wirbelsäulenimplantate die Pflicht immer noch nicht existiert. Hierzu hatte Bea Heim vor der «Puls»-Kamera klare Forderungen an die Behörden und die Politik gestellt. Doch ihre Aussage wurde nicht gesendet und ist nun einzig im Archiv der Sendung zusätzlich aufgeschaltet. Eine kurze Suche im Internet hätte den durch Studien belegten Nutzen dieser Register aufgezeigt und Branchenvertreter Studer wirklich ins Schwitzen gebracht. So erweckt die «Puls»-Sendung den Eindruck, dass die Redaktion bei diesem heiklen Thema vor allem auf eine Ausgewogenheit bedacht war; man lässt einfach beide Seiten zu Wort kommen und damit hat sichs.

Müsste die Medien nicht zusätzlich aufzeigen, warum Gesundheitsökonom Heinz Locher richtig liegt, wenn er das Politspiel um das Gesundheitswesen als «Finanzgeschacher» bezeichnet?

Eine wichtige Voraussetzung für die Qualitätssicherung in Spitälern bestünde darin, dass hochspezialisierte Eingriffe nur in Kliniken mit genügender Fallzahl vorgenommen werden, damit die nötige Erfahrung und Routine vorhanden ist. Müssten hier die Medien nicht aufzeichnen, wie der Kantönligeist dafür sorgt, dass heute möglichst alle Spitäler möglichst alles machen dürfen? Müssten sie nicht darlegen, wie der Bundesrat gegenüber der Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK immer mutlos klein beigibt und es bei der Mahnung belässt, es gebe Verbesserungspotenzial?

Erst am vergangenen 8. August stellte sich die GDK wieder quer. Es ging darum, die Gesundheitskosten aus ambulanter Versorgung und Spitalaufenthalt aus einer Hand, nämlich über die Krankenkasse, zu finanzieren. Der Vorschlag der Gesundheitskommission des Nationalrats will so verhindern, dass der Spitalaufenthalt dem ambulanten Eingriff bevorzugt wird. Am Spitalaufenthalt beteiligt sich nämlich der Kanton zu 55 Prozent an den Kosten und entlastet so die Patientenrechnung.

Die GDK will aber nicht, dass die Kantone sich nun im Gegenzug zu 22,6 Prozent an alle Behandlungskosten, ob ambulant oder stationär, beteiligen und droht mit dem Referendum. An dieser Vorlage, die auf eine Parlamentarische Initiative der Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel von 2009 zurückgeht, hatte sich die Kommission fünf Jahre abgearbeitet. Im «Echo der Zeit» von Radio SRF beklagte Humbel den GDK-Verweigerungsmodus, als jenen «Modus, der alle Reformen im Gesundheitsweisen verhindert.» Gesundheitsökonom Heinz Locher spricht Klartext: «Was hier stattfindet, ist reines Finanzgeschacher, es geht nur ums Geld. Eigentlich sollte es um die Bevölkerung und die Patienten gehen.» Dazu aber, so Locher, trage die GDK nichts bei.

Am 21. September erläuterte Redaktor Markus Brotschi in den Tamedia-Zeitungen die Vorlage mit der schicksalsergebenen Folgerung, dass sie wohl im Ständerat scheitern wird. Müssten die Medien nicht zusätzlich aufzeigen, warum Locher richtig liegt, wenn er dieses Politspiel als «Finanzgeschacher» bezeichnet? Das Bundesamt für Statistik liefert dazu die Zahlen. Es beziffert jährliche Gesundheitskosten von 82,5 Milliarden Franken (Stand 2017). Davon zahlen wir direkt 53 Milliarden aus dem eigenen Portemonnaie, nämlich rund 30 Milliarden für die ewig steigenden Prämien, zusätzlich 23 Milliarden für Franchisen und Selbstbehalte. Die Kantone sind mit 15 Milliarden weit weniger daran beteiligt, torpedieren aber Reformen nach Belieben. Letztlich zahlen die Zeche sowieso die Steuerzahler. Eine höhere Beteiligung der Kantone wäre für viele die bessere Lösung. Denn die Steuern werden nach Einkommen bemessen, bei der Kopfprämie der Krankenkasse zahlen reich und arm gleich viel, wobei Letztere dann oft um Unterstützung beim Kanton nachsuchen müssen.

Leserbeiträge

Robert Bleuer 11. Oktober 2019, 10:45

Ich habe den Artikel nur teilweise gelesen. Ist auch gar lang. Wo man seit langem ansetzen müsste, ist beim Leistungskatalog der Grundversicherung. Er wird immer länger und länger. Grundversicherung, so war die Idee am Anfang, soll die medizinische Versorgung auf einem relativ einfachen Level sicherstellen. Mehrere Aerzte haben mir das bestätigt: man könnte problemlos einen Drittel der heutigen Leistungen aus dem Katalog streichen. Wer mehr will, macht eine Zusatzversicherung. Nur wagt sich niemand, dieses Thema aufzunehmen, „weil politisch nicht durchsetzbar“, wie das so schön heisst. Und dann heisst es jeweils noch „was wollen Sie, die Schweiz bezahlt das alles locker…“