Interview

Spitalexpertin kritisiert Schweizer Gesundheitswesen: «In Bern ist die Zahl der Luftröhrenschnitte explodiert, weil dieser Eingriff plötzlich um ein Vielfaches höher vergütet wurde»

Wir hätten das falsche Gesundheitssystem, sagt Annamaria Müller, VR-Präsidentin des Kantonsspitals Freiburg. Gerade Alte sowie chronisch kranke Menschen seien auf eine gute Basisabdeckung angewiesen, die es heute viel zu wenig gebe.

Christof Forster, Bern
Drucken
Statt einzelnen Leistungen sollte die gesamte Versorgung bezahlt werden, fordert Gesundheitsexpertin Annamaria Müller. Dadurch würde ein anderer Anreiz entstehen.

Statt einzelnen Leistungen sollte die gesamte Versorgung bezahlt werden, fordert Gesundheitsexpertin Annamaria Müller. Dadurch würde ein anderer Anreiz entstehen.

Simon Tanner

Eine vierköpfige Familie zahlt in Städten monatlich schnell gegen 1000 Franken für Krankenkassenprämien. Stimmt der Gegenwert, den sie dafür erhält?

Wir erhalten sicher nicht zu wenig Gesundheitsdienstleistungen. Aber es sind nicht immer jene, die wir benötigen. Viele Leistungen werden erbracht, weil sie ziemlich Geld abwerfen. Das ist wie in jedem anderen Geschäft: Anbieter haben einen Anreiz, möglichst viele Produkte mit hohen Margen zu verkaufen. In defizitären oder nicht entschädigten Bereichen ist die Versorgung häufig ungenügend. Wir könnten für das Geld eine viel bessere Versorgung haben.

Ärzte und Spitäler sind rationale Akteure, die auf Anreize reagieren?

Ja. Es ist das Zusammenspiel, das zu einem ineffizienten Gesundheitswesen beiträgt. Unsere Medizin ist eine klassische Reparaturversorgung. Doch ein wachsender Teil der Bevölkerung, vor allem ältere und chronisch kranke Leute, brauchen nicht vor allem Akut- und Spitzenmedizin, sondern eine gute Basisabdeckung. Davon gibt es heute viel zu wenig. Es ist so, als würden wir uns den ganzen Tag nur von Champagner und Kaviar ernähren. Das ist einfach nicht gut.

Wieso schaffen wir es nicht, das System besser auf die Bedürfnisse auszurichten?

Unser Gesundheitswesen ist vor allem das, was die Krankenkassen bezahlen. Diese sind als Risikoversicherungen entstanden. Man wollte für eine schwere Krankheit abgesichert sein. Was man mit den damals viel eingeschränkteren Behandlungsmöglichkeiten machen konnte, war mit der Risikoversicherung abgedeckt. Inzwischen hat sich dies völlig verändert. Weil wir viel länger leben, nehmen die Altersgebresten zu. Das ist kein teures Risiko im ursprünglichen Sinn mehr. Die Kassen funktionieren aber immer noch wie eine Risikoversicherung. Wir führen einfach das alte System weiter und versuchen es punktuell zu verbessern, statt etwas ganz Neues zu wagen. So bleiben die Leistungen aufgebläht.

Wie hoch schätzen Sie das Sparpotenzial ein?

Das ist schwierig zu beziffern. Wir müssen die Frage anders stellen: Wie hoch wären die Prämien, wenn die Schweiz ihr Gesundheitssystem so umbaute, wie es mir vorschwebt? Eine Zahl zu schätzen, ist nicht möglich, weil das von zu vielen Faktoren abhängt.

Was schlagen Sie vor?

Bezahlt würde künftig nicht mehr die einzelne Leistung, sondern die gesamte Versorgung. So besteht ein anderer Anreiz als heute: nämlich so wenig Leistungen so günstig wie möglich zu erbringen. Ein Beispiel: Ist es günstiger, zur Betreuung einer psychisch angeschlagenen Frau den Psychiater oder den Psychologen aufzubieten? Weil es keine Tarife mehr gibt, zählt das Resultat. Der breit aufgestellte Gesundheitsversorger hat ein Interesse daran, dass der Patient nachhaltig gesund wird.

Ihr Vorschlag hat Ähnlichkeiten mit dem Suva-Modell. Die Suva ist zuständig für die gesamte Behandlungskette inklusive Prävention.

Weil die Suva auch Folgeschäden übernehmen muss, hat sie ein Interesse an einer nachhaltigen Behandlung. Diese ist vielleicht im Moment nicht die günstigste, aber sie sollte sich langfristig auszahlen. Damit es gar nicht zu Unfällen und damit zu Kosten kommt, ist die Suva sehr stark in der Prävention engagiert. Im Unterschied dazu ist die Vorsorge im Gesundheitswesen völlig nebensächlich. Sie zahlt sich schliesslich auch nicht aus.

Heute bestehen Anreize zur Überversorgung, in Ihrem Modell hingegen besteht die Gefahr der Unterversorgung. Wie wollen Sie diese verhindern?

Es braucht eine strikte staatliche Aufsicht über die Qualität. Dies soll Billigmedizin verhindern. Zudem muss dafür gesorgt sein, dass ein Kunde Freizügigkeitskapital aufbauen und bei einem Wechsel zu einem anderen Versorger mitnehmen kann – ähnlich wie in der zweiten Säule. Wenn der neue Versorger merkt, dass die alte Organisation notwendige Behandlungen unterlassen hat, dann soll sie diese belangen können.

Wie wollen Sie die Leute überzeugen, sich bei der fast heiligen Wahlfreiheit einzuschränken?

Chronischkranke oder ältere Menschen wollen nicht immer die punktuell beste, sondern eine gute und konstante Versorgung. Die Bevölkerung muss ein neues Bewusstsein entwickeln: Wir sind diejenigen, die Gesundheitsleistungen bestellen, und müssen sie daher auch mitverantworten.

Aber was macht ein Patient, wenn ihm der zugewiesene Spezialist nicht passt?

Wenn ich mit einem Arzt nicht zufrieden bin, dann muss ich wechseln können. Aber auf dem Land oder in einzelnen Disziplinen besteht bereits heute oft keine Wahlfreiheit, weil es schlicht zu wenige Ärzte gibt.

Kommt das dänische Gesundheitssystem Ihren Vorstellungen nahe?

Nein. Es ist bestechend, weil die gesamte Gesundheitsversorgung ausserhalb der Spitäler und ärztlichen Versorgung Aufgabe der Gemeinden ist. Nach dem Spitalaufenthalt muss die Gemeinde die Nachsorge sicherstellen. Sie zahlt mit, wenn der Patient innerhalb eines bestimmten Zeitraums wieder ins Spital muss. Dänemark ist für uns aber kein Vorbild, weil alles staatlich ist und die Dänen punkto Datenschutz alles lockerer sehen.

Gibt es andere Vorbilder, an denen Sie sich orientieren?

Das bekannteste Beispiel ist Kaiser Permanente in den USA. Diese Gesellschaft ist Versicherer und Leistungserbringer in einem. Für die Schweiz kann ich mir auch dies vorstellen: Eine Spitalgruppe schliesst sich mit diversen Gruppenpraxen, Reha-Kliniken, Spitex-Organisationen und Pflegeheimen zu einer globalen Versorgungsorganisation zusammen. Sie könnte ihren Kunden anbieten, sich direkt bei ihr zu versichern.

Sie schlagen eine gigantische Reform vor. Doch im Gesundheitswesen werden bereits kleine Änderungen blockiert. Wäre es nicht aussichtsreicher, mit kleineren Schritten zu beginnen, zum Beispiel mit der einheitlichen Finanzierung (Efas) von ambulant und stationär?

Die Zwischenschritte müssen in die richtige Richtung gehen. Bei der einheitlichen Finanzierung, so wie sie jetzt geplant ist, zahlen weiterhin Kantone und Versicherer die Leistungen. Das führt zu einem grossen bürokratischen Aufwand. Dem steht ein geringer Nutzen gegenüber. Ich bezweifle auch, ob der Wille bei den Versicherern steigt, die Behandlung zu steuern, wenn sie die ambulanten Leistungen nur noch zu einem Teil bezahlen müssen. Es wird dann spannend, wenn die Kassen für die gesamte Versorgungskette zuständig wären. Wenn beispielsweise die umfassende Diabetes-Behandlung mit einer jährlichen Pauschale finanziert wird.

Welche Aufgaben hätten Kantone und Versicherer in dem von Ihnen vorgeschlagenen neuen Modell?

Die Versicherer wären für den finanzmathematischen Teil zuständig. Das ist ihre Stärke. Die Kantone wären ein Kontrollorgan. Letztlich sollte der Staat im neuen Modell nur noch kontrollieren und die Prämien verbilligen. Wie wir dorthin kommen, dafür habe ich noch keine Patentlösung parat.

Über Efas wird seit Jahren diskutiert, und die Reform ist immer noch nicht am Ziel. Ihr Vorschlag ist noch viel komplexer. Es könnte Jahrzehnte dauern.

Das ist mir klar. Aber es könnte wie mit der Platten-Tektonik sein: Lange klemmt es und rüttelt ein bisschen, und plötzlich geht es ab. Ich hoffe, dass wir in 20 bis 30 Jahren dort sein werden.

Braucht es überhaupt einen grossen Wurf, oder kann die Entwicklung auch von der Praxis kommen? Sie sind seit Anfang Jahr Verwaltungsratspräsidentin der Freiburger Spitäler und planen im Kanton ein Gesundheitsnetz.

Wir wollen ein Netz aufbauen mit einem Zentrumsspital und mehreren Gesundheitszentren. Diese werden erste Anlaufstelle sein und decken den Grundbedarf ab mit einer breiten Palette von ambulanten Therapien und Untersuchungen sowie Beratungen, etwa zur Ernährung. Im Unterschied zu meinem Reformvorschlag ist hier aber die Finanzierung nicht integriert. Wenn wir in Freiburg in den Regionen keine Partner finden, dann wird es Schwierigkeiten mit dem Angebot geben. Dies wäre anders, wenn wir das Angebot selbst finanzieren könnten.

Im Kanton Freiburg werden Sie vier Spitäler in Gesundheitszentren umbauen. Ist es heute einfacher geworden, Spitäler zu schliessen?

Es gibt zwei gegensätzliche Kräfte. Weil andere Institutionen wie die Post und die Schule ihre Präsenz reduziert haben, ist das Spital zur Kathedrale im Dorf geworden. Viele versuchen, sich an diese letzte Heilsbastion zu klammern. Handkehrum merkt die Bevölkerung, vor allem die Jungen, dass eine gute Versorgung nicht davon abhängt, ob man ein Spital vom Küchenfenster aus sieht. Dies zeigt auch das Verhalten der Patienten. Im Regionalspital besuchen sie das Grosi, selbst gehen sie in das besser ausgerüstete Zentrumsspital. Die Leute sind bereit, für einen geplanten Eingriff längere Reisezeiten in Kauf zu nehmen. Wenn wir der Bevölkerung aufzeigen, dass sie mit der Umwandlung eines Spitals nicht verliert, weil sie dafür ein umfassendes Gesundheitszentrum erhält, ist sie eher zu überzeugen. Das hat meine Erfahrung im Kanton Bern gezeigt.

Wie gross sind die Überkapazitäten bei den Spitälern?

30 Prozent der Spitäler und Betten könnten wir sicher schliessen, wenn wir die Ambulantisierung konsequent vorantreiben. Die heutigen Infrastrukturen müssen allerdings umgerüstet werden, damit ambulant operiert werden kann. Zudem muss für Leute, die nach dem Eingriff nicht direkt nach Hause gehen können, die Nachsorge gewährleistet sein. Aber auch hierfür ist nicht ein Spital mit Intensivüberwachung rund um die Uhr notwendig.

Sie kritisieren, dass die 2012 eingeführten Fallpauschalen in den Spitälern zu einer Goldgräberstimmung geführt haben. Wie kam es dazu?

Die überlangen Spitalaufenthalte haben sich zwar wie erwartet reduziert. Aber die Versorgungskette wurde eher noch verkürzt. Es besteht kein Anreiz, eine geeignete Nachsorge für den Patienten zu organisieren. Das Hauptproblem ist jedoch die Menge.

Das heisst, die Spitäler steigern die Fälle bei Behandlungen, die gut bezahlt werden?

Ja. Dies konnte auch nachgewiesen werden. In Bern ist die Zahl der Luftröhrenschnitte explodiert. Innerhalb eines Jahres kam es zu einer Steigerung der Fälle im dreistelligen Prozentbereich. Medizinisch gab es keinen Grund dafür. Wir fanden heraus, dass dieser Eingriff plötzlich um ein Vielfaches höher vergütet wurde.

Aber dies erklärt noch nicht die massiven Investitionen in die Schweizer Spitalinfrastruktur.

Diese wurden ausgelöst durch neue Finanzierungsregeln bei der Einführung der Fallpauschalen. Die Spitäler funktionieren nach der Logik, ihren Umsatz zu maximieren. Dies ist möglich bei weit verbreiteten Leistungen, die gut entschädigt werden. Um die Umsätze zu generieren, brauchen die Spitäler eine ansprechende Infrastruktur, bekannte Spezialisten und wohlgesinnte Zuweiser. Die meisten Spitäler handelten nach dieser Maxime in den letzten acht Jahren.

Von verschiedenen Seiten Einblicke

Annamaria Müller ist seit Anfang Jahr Verwaltungsratspräsidentin des Freiburger Kantonsspitals. Im gleichen Gremium sitzt auch der bekannte Herzchirurg Thierry Carrel. Im Kanton wird in den nächsten Jahren die Spitallandschaft umgebaut. Bis Ende 2019 leitete die 54-jährige Ökonomin das Berner Spitalamt. Sie beaufsichtigte die Berner Spitäler und verantwortete die Spitalplanung. In ihrer Amtszeit kam es zu Spitalschliessungen. Als frühere Generalsekretärin der Ärztevereinigung FMH kennt sie auch die Interessen der Leistungserbringer aus eigener Anschauung.

Mehr von Christof Forster (For)