Operation Streik – Seite 1

Marcus Marx*, Krankenpfleger aus Kiel, spricht oft über diese zwei Sätze. Sie klingen banal und gehören eigentlich zu den Sätzen, die man sofort vergisst. Nicht so Marx, der sie frustriert zitiert: "Der Pflegedienst ist das Schmieröl für ein Klinikum. Ganz viele Dinge funktionieren ohne ihn nicht." Gesagt hat sie Jens Scholz, Vorstandsvorsitzender des Kieler Universitätsklinikums, des zweitgrößten in ganz Deutschland. Mit seinen rund 14.000 Angestellten ist das Krankenhaus der größte Arbeitgeber Schleswig-Holsteins. Mehr als 3.300 der Beschäftigten dort sind Krankenpfleger: Schmieröl. Doch Marx und seine Kollegen fühlen sich nicht wertgeschätzt. Sie klagen über Stress, enormen Druck und schlechte Arbeitsbedingungen.

Ein Phänomen, das sich in ganz Deutschland beobachten lässt. Studien zeigen: Mehr als 80 Prozent der Krankenpfleger geben in Umfragen an, dass sie sehr häufig gestresst arbeiten. 46 Prozent der Beschäftigten können demnach ihre Arbeit nur bewältigen, indem sie Abstriche bei der Qualität ihrer Arbeit machen. Denn es gibt immer mehr Patientinnen und Patienten und zu wenig Personal. Laut einer Erhebung der Gewerkschaft ver.di fehlen an deutschen Kliniken insgesamt etwa 80.000 Pflegefachkräfte. Ver.di will nun mit einer bundesweiten Strategie für bessere Arbeitsbedingungen an Krankenhäusern kämpfen – und mit einer radikalen Methode. Die Gewerkschaft zieht von Klinik zu Klinik und kündigt Streiks auf allen Stationen an. Auch in der Intensivstation. Und auch wenn lang geplante Operationen abgesagt werden müssten. Krankenhausvertreter klagen, dass Menschenleben gefährdet seien, wenn ganze Stationen in kurzer Zeit schließen müssten. In Kiel stellt sich deshalb die Frage: Wie weit darf Arbeitskampf gehen? Bisher gab es bei Arbeitskämpfen an Krankenhäusern immer noch eine Notfallversorgung. In Kiel versuchte die Gewerkschaft, ohne sie zu streiken.

Pfleger sehen das Patientenwohl gefährdet

Nach ihrem Schichtende sitzen Marx und zwei weitere Pflegekräfte in einem Café in der Nähe des Klinikums. Sie haben heute bettlägerige Patienten gewaschen, auf Operationen vorbereitet, mit Medikamenten versorgt. Und sie berichten von enorm gestiegenem Druck, von Arbeitsverdichtung, weil sie als Pfleger für immer mehr Fälle verantwortlich seien. Marx erzählt von Tagen, an denen kaum jemand Zeit dafür habe, Patientinnen mit Schluckstörungen beim Essen zu unterstützen: "Dann ziehen sie irgendwann den Klapptisch zu sich heran, schlingen das Essen runter und verletzen sich an Rachen und Speiseröhre."

Mit seinen Kolleginnen und Kollegen spricht der junge Pfleger davon, regelmäßig "das Patientenwohl gefährden zu müssen". Beispielsweise, wenn die Zeit dazu fehle, ausführliche Übergaben zu machen. Dann erfahren die Pflegekräfte erst kurzfristig von Vorerkrankungen, stehen ratlos vor Patienten, verlieren wichtige Zeit. "Der Patient fühlt sich sicher, weil er nicht weiß, wie überlastet wir sind", sagt Marx. Hinzu komme der hohe Krankenstand und die vielen Klagen über Stress und Burn-out. Die Folge: Immer mehr Kolleginnen und Kollegen gehen in Teilzeit und Leiharbeit oder wechseln in kleinere Kliniken. "Viele zerbrechen an diesem Druck", sagt Marx.

Marx und seine Kollegen wollen anonym bleiben. Sie sprechen von einem "Klima der Angst" im Klinikum. "Ich riskiere hier meinen Job, indem ich offen über Missstände rede", sagt einer der Angestellten. Wie viele Patientinnen und Patienten sie am Tag genau betreuen, wollen die Pflegekräfte nicht öffentlich sagen, damit niemand Rückschlüsse auf ihren genauen Arbeitsplatz in der Klinik ziehen kann. Im vergangenen Jahr traten sie ver.di bei. Diese versucht die chronisch unorganisierte Krankenpflege zu vereinen, denn nur zehn Prozent der Berufsgruppe wird durch Gewerkschaften vertreten. In Mainz und Jena konnte ver.di kürzlich neue Haustarifverträge an Kliniken erzwingen. Das sind Tarife, die nur für das einzelne Krankenhaus gelten und Standards setzen. Einen solchen wollen die Pflegerinnen und Pfleger auch in Kiel.

Sie fordern Entlastung statt höherer Entlohnung

Es geht ihnen dabei nicht um höhere Löhne. Marx sagt: "Ich verdiene gut, bin nur total überarbeitet." Die Pfleger fordern einen Tarifvertrag für mehr zusätzliche Stellen und eine festgeschriebene Regelbesetzung auf den Stationen. Falls diese unterschritten werde, solle es Sanktionen geben. Jeder Mitarbeiter auf einer unterbesetzten Station bekäme dann Belastungspunkte, die er gegen Freizeit eintauschen könnte. Gleichzeitig würden Strafgelder in einen Fonds fließen. Geld für Maßnahmen, die das Personal entlasten sollen.

In den vergangenen Monaten haben die Gewerkschafter diese Forderungen den Angestellten des Universitätsklinikums in Kiel und am Zweitstandort Lübeck erklärt. Sie haben Chat-Gruppen eröffnet, Unterschriften gesammelt und jeden Dienstag Treffen organisiert. Steffen Kühhirt, ver.di-Sprecher und Verhandlungsführer, spricht mittlerweile davon, "die Mehrheit der Klinikangestellten zu vertreten". Überprüfen lässt sich das von ZEIT ONLINE nicht. 

Der Sprecher der Klinik, Oliver Grieve, verweist hingegen darauf, dass die Klinik seit 2012 mehr als 700 Pflegekräfte eingestellt habe. Darüber hinaus sagt er: "Wir machen viel für unsere Pflegekräfte. Wir haben neben zahlreichen vertraglichen Erleichterungen auch Kindertagesstätten, bieten Gesundheitskurse und Weiterbildungen bis zum Pflegestudium an." Doch der Gewerkschaft reicht das nicht. Ver.di spricht davon, dass sich die Bedingungen trotzdem verschlechtert hätten. Schließlich gebe es viel mehr Patientinnen und Patienten als früher.

Auf den zahlreichen Treffen in einer Halle in der Nähe des Krankenhauses einigten sich Gewerkschafter und Pflegekräfte deshalb auf das radikale Ziel: ein Streik auf allen Stationen. Nur so könne das "Pflegepersonal sein Streikrecht wahrnehmen", sagt ver.di-Sprecher Kühhirt. Notbesetzungen hätten in der Vergangenheit dazu geführt, dass viele Klinikangestellte während eines Streiks arbeiten mussten. Der Arbeitskampf hätte deshalb den Krankenhäusern oft nicht sonderlich weh getan. 

Die Klinik klagt gegen den Streik – mit Erfolg

Bisher hat ver.di in Kiel nach eigenen Angaben nicht offiziell zu einem Streik aufgerufen. Allerdings kursierte in der Klinik wochenlang ein Schreiben, das auch ZEIT ONLINE vorliegt. Darin hat ein anonymer Absender einen Streik angekündigt. Er sollte am vergangenen Mittwoch beginnen und 48 Stunden dauern. Um ihn zu verhindern, stellte die Klinikleitung einen Eilantrag vor dem zuständigen Arbeitsgericht. Die Verhandlung war am Dienstag, einen Tag vor Streikbeginn. "Wir haben uns juristisch gewehrt, weil wir der einzige Maximalversorger hierzulande sind, also Patienten versorgen, die andere Kliniken in der Umgebung nicht behandeln können", sagt Krankenhaus-Sprecher Grieve. Er wählt ein drastisches Beispiel: "Wenn die Herzchirurgie geräumt werden muss, können wir schwerstkranke Patienten nicht nach Hause schicken oder auf Stationen der Augenheilkunde oder Dermatologie verlegen."

Die Gewerkschaft entgegnet, dass ein solcher Streik offiziell angemeldet und lange angekündigt würde. "Niemand will Patienten in Gefahr bringen", sagt Kühhirt. Mit dem langen Vorlauf könne die Klinik rechtzeitig Betten sperren und ganze Stationen schließen. Sie könne Patienten entlassen, keine neuen Fälle aufnehmen und Noteinsätze an andere Kliniken weiterleiten. Vor Gericht einigte sich die Gewerkschaft mit der Klinikleitung: Vorerst gibt es keinen Warnstreik. Außerdem dürfen Mitarbeiter nur dann streiken, wenn eine Notdienstregelung vereinbart ist, die den Stationsbetrieb aufrechterhält.

Streit um den richtigen Streik

Zwei Tage nach dem Urteil: 20 Pflegekräfte sitzen in einem Saal des Kieler Gewerkschaftshauses, rund zehn Fußminuten vom Klinikum entfernt. Sie diskutieren, wie sie mit der Niederlage vor Gericht umgehen sollen. Die Stimmung ist angespannt. Köpfe werden geschüttelt, drei Stunden später beendet die nächste Gruppe Pfleger ihre Schicht im Krankenhaus, besetzt den Saal und die Debatte wiederholt sich. Nichts davon darf an die Öffentlichkeit, sagen die Gewerkschafter. Sie sind vorsichtig, die nächsten Schritte soll der Arbeitgeber nicht vorab erfahren. Drinnen wird über Alternativen und die nächsten Schritte gesprochen. In einem Nebenraum steht ein Plakatständer, beidseitig mit einer klaren Botschaft bedruckt: "Heute Warnstreik" ist dort in Weiß auf Rot geschrieben. Noch bleibt er dort stehen.

Stattdessen verhandeln ver.di und die Klinik ab diesem Montag weiter. Mit am Tisch: Jens Scholz, Vorsitzender des Universitätsklinikums. In den letzten Jahren organisierte er in Kiel das größte Klinikumbau-Projekt Europas. Innerhalb von vier Tagen mussten 13 Kliniken in die neuen Gebäude umziehen. Der Schritt sollte das Klinikum moderner und effizienter machen und sich dadurch selbst refinanzieren.

Pfleger Marcus Marx spürt die Vorteile bei seiner täglichen Arbeit nicht: "Ich laufe viel mehr als noch im alten Gebäude. Hinzu kommt, dass meine Station nun mehr Betten hat – bei gleichem Personal wie vor dem Umzug." Außerdem könne er immer mehr Überstunden nicht abbauen, weil Personal fehle. Im letzten Jahr habe er 200 Stunden gesammelt, die alle ausbezahlt worden seien. "Das wird sich auch nicht ändern, weil jetzt der neue Boden glänzt", sagt er. Wenn die Verhandlungen scheitern, will er kündigen.

*Name geändert