Sie sollen schweigen – Seite 1

Als Elisabeth Schmidt* aus dem Urlaub zurück in den Dienst am Essener Universitätsklinikum kam, war ihre Station plötzlich eine andere. An den Betten standen Monitore, Mitarbeiter trugen Mundschutz. Aus einer normalen Abteilung war eine Corona-Station geworden. Schmidt fühlte sich wie einige andere Kolleginnen und Kollegen überfordert. "Mehr als eine halbstündige Einweisung in die Überwachungsmonitore gab es nicht", sagt sie. Alles hatte sich verändert, nur der Personalschlüssel war gleich geblieben. Dafür stieg die Arbeitsbelastung. Denn während andere Kliniken lange von der Ruhe vor dem Sturm berichteten, wurden in Essen früh erste Corona-Patienten behandelt.

Schmidt wollte sich schützen und "Fehler und Gefahren aufzeigen". Immerhin sollte sie mit nur einer weiteren Kollegin im Nachtdienst arbeiten. Das sei aber viel zu wenig, die Arbeit zu zweit nicht zu leisten. Sie klagte intern über fehlende Schulungen, Materialmangel und den Zeitaufwand, den es machte, ständig Schutzkleidung zu tragen. 

Schließlich stellte Schmidt eine Überlastungsanzeige. Solche Schreiben an die Klinikleitung sollen Angestellte verfassen, wenn sie das ordnungsgemäße Arbeiten bedroht und das Patientenwohl gefährdet sehen. Gleichzeitig schützt die Meldung Pflegekräfte vor rechtlichen Konsequenzen, wenn es zu Unfällen oder Fehlbehandlungen kommt.

Wer klagt, wird versetzt

Einen Tag später wurde Schmidt auf eine andere Station versetzt. Das empfindet sie als "Bestrafungsakt für die Überlastungsanzeige" und fürchtet, bald gekündigt zu werden. Zudem sorgt sie sich, dass sie nun auf einer "völlig neuen Station, in einem anderen Fachbereich und einem neuen Team" arbeiten muss – vor allem, weil sie dorthin versetzt wurde, ohne zuvor getestet zu werden, obwohl sie direkten Kontakt zu Corona-Patienten hatte.

Die Versetzung wurde Schmidt später in einem Brief mitgeteilt, das Schreiben liegt ZEIT ONLINE vor. Zwei Kolleginnen bestätigen die Aussage. Auch sie wurden versetzt, am selben Tag wie Schmidt, kurz nachdem sie Überlastungsanzeigen geschrieben hatten.

Die Universitätsklinik sagt auf Nachfrage, dass es keine "Strafversetzungen" gegeben habe. Das widerspreche dem "Geist der Klinik". Allerdings habe "es in enger Abstimmung mit den betroffenen Mitarbeitern" Versetzungen im Rahmen von "strukturellen Maßnahmen" gegeben, um die Angestellten "vor einer Infektion zu schützen". 

Gewerkschaft spricht von vielen Fällen

Die Gewerkschaft ver.di berichtet, dass sich in diesen Tagen bundesweit sehr viele Menschen mit ähnlicher Kritik wie jener von Schmidt an sie wenden. "Vor allem wegen fehlender Schutzausrüstung, der Sorge vor Infektion oder mangelhafter Arbeitsorganisation", sagt Sylvia Bühler, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand. "Diese Anfragen sind mit der Sorge verbunden, dass der Arbeitgeber auf die Kritik mit Repressionen reagiert." Der Gewerkschaft "liegen Berichte von Beschäftigten vor, die betriebsintern oder öffentlich den mangelnden Infektionsschutz kritisiert haben und in der Folge mit Abmahnungen oder Kündigungen bedroht wurden", sagt Bühler. Einige dieser anonymisierten Berichte konnte ZEIT ONLINE lesen, überprüft werden können sie nicht.

Die Gewerkschaft empfiehlt betroffenen Beschäftigten, sich an die Betriebs- und Personalräte zu wenden oder Aufsichtsbehörden zu kontaktieren. "Nach dem Arbeitsschutzgesetz darf den Beschäftigten daraus kein Nachteil entstehen", sagt Bühler.

Nach der Kritik kommt die Unterlassungserklärung

Frank Lutz* ist Pfleger am Universitätsklinikum Augsburg. Dort habe man während der Corona-Krise unnötige Operationen durchgeführt, anstatt sie abzusagen, sagt er. "Wir haben noch eingewachsene Zehennägel behandelt oder Brustrekonstruktionen durchgeführt, als die Krise schon überall ein Thema war", sagt Lutz. Dabei sollten elektive Operationen abgesagt werden. 

Beschäftigte starteten daraufhin eine Petition an die bayerische Staatsregierung, sammelten laut eigenen Angaben 500 Unterschriften von Pflegekräften. Doch als die Klinik von den Bemühungen erfuhr, stellte sie Lutz eine Unterlassungserklärung zu. Lutz solle unterschreiben, bei Wiederholung würde er nämlich den "Ruf des Klinikums nachhaltig" schädigen. Mehrere Beschäftigte hatten sich in der Zwischenzeit an den Bayerischen Rundfunk und die Augsburger Allgemeine gewandt. Dort berichtet eine Angestellte, dass ein Oberarzt ihr nach der Kritik mit "personellen Konsequenzen" gedroht habe. Auch der zuständige bayerische Minister Bernd Sibler äußerte sich, er hoffe darauf, dass "das Einzelfälle" seien.

Unterlassungserklärung nach Kritik

Die Uniklinik hingegen weist die Vorwürfe zurück. Gegenüber ZEIT ONLINE spricht die Klinik von "Darstellungen über gravierende Missstände am Universitätsklinikum Augsburg, die auf pauschalen Behauptungen beruhen" und denen man "mit den gebotenen juristischen Instrumenten" begegnet sei. Aus "datenschutzrechtlichen Gründen" könne man sich aber nicht zu den einzelnen Angestellten äußern. Dem Universitätsklinikum lägen außerdem "die schriftlichen Bestätigungen aller Initiatoren der Petition vor, dass sie diese nicht weiter verfolgen werden".

Tim Graumann, zuständiger Gewerkschaftssekretär in Augsburg, sieht in der Reaktion des Krankenhauses einen Angriff auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. "Die Mitarbeiter sollten mit Unterlassungserklärungen zum Schweigen gebracht werden", sagt Graumann. Auch über Freistellungen oder Kündigungen habe man im Klinikum gesprochen. Letztlich habe er das aber in Gesprächen mit der Klinik verhindern können. Graumann erzählt, dass sich viele Pflegekräfte nicht ausreichend geschützt gefühlt hatten. "Täglich hat bei mir das Telefon geklingelt, täglich haben Beschäftigte mir teils unter Tränen berichtet, wie dramatisch die Situation ist", sagt Graumann.

Doch es sei besser geworden, sagt Graumann. Elektive Operationen würden mittlerweile nicht mehr vorgenommen, auch die hygienischen Bedingungen seien besser geworden. Nun will der Gewerkschafter eine Gefahrenzulage von 300 Euro für die Pflegekräfte durchsetzen und mehr Personal fordern. Einige Angestellte sollen mit am Tisch sitzen, wenn darüber entschieden wird. Die Klinik spricht von einem "routinemäßigen Gesprächstermin".

*Der echte Name ist der Redaktion bekannt. Die Person möchte anonym bleiben, weil sie berufliche Nachteile fürchtet.

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