Freitag, 26. April 2024

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Krankenhäuser in der Coronakrise
System der Fallpauschale "in vielerlei Hinsicht gescheitert"

Der Medizinethiker Giovanni Maio sieht die Coronakrise auch als gesundheitspolitischen Weckruf. Die Abrechnung nach Fallpauschale habe zu einem Regime der Knappheit geführt, sagte er im Dlf. Ein neues System müsse her, das Ärzten die Freiheit zurückgebe, nach rein medizinischen Kriterien zu entscheiden.

Giovanni Maio im Gespräch mit Britta Fecke | 19.04.2020
Ärztinnen schieben eine Krankenhausliege durch den Gang, ein Arzt läuft im Vordergrund durch das Bild
Die Abrechnung nach Fallpauschale habe in Krankenhäusern zu fatalen Fehlentwicklungen geführt, meint der Medizinethiker Giovanni Maio (picture alliance / PhotoAlto / Odilon Dimier)
Zeitdruck und Personalmangel sind für Krankenhauspersonal und seine Patienten inzwischen fast schon ein Normalzustand. In Zeiten besonderer Belastungen durch die COVID-19-Pandemie spitzen sich solche vorhandenen Probleme weiter zu. Das alles hätte nicht sein müssen, meint der Medizinethiker Giovanni Maio: "Was wir heute erleben, ist im Grunde die Rechnung, die uns gestellt wird. Nach einer Durchkapitalisierung der gesamten Medizin haben wir eine Knappheit erzeugt, die uns auf die Füße fällt."
Sparen an vermeintlich unwirtschaftlichen Behandlungen
Verantwortlich sei das "in vielerlei Hinsicht gescheiterte" System der Fallpauschale. Kliniken seien plötzlich angehalten gewesen, Umsätze zu generieren und überall zu sparen. Gespart worden sei an Personal, Patientenkontakt und vermeintlich unwirtschaftlichen Behandlungen. Ergebnis seien "künstlicher Stress" und eine Medizin, die medizinfremde Erwägungen der Wirtschaftlichkeit berücksichtigen müsse.
Zwei Pflegerinnen gehen durch einen Gang, an dessen Wand Intensivstation steht
Medizinethiker Eckhard Nagel: Gesundheitswesen darf nicht ökonomisiert werden
Ein rein privates Krankenhaussystem wie in den USA kollabiere in einer solchen Situation wie der Coronakrise, sagte Medizinethiker Eckhard Nagel im Dlf.
Das System habe "die gesamte Blickrichtung auf die Medizin komplett auf den Kopf gestellt" und einen Kulturwandel erwirkt im Sinne der Frage: Was bringt uns der Patient? anstelle zu fragen, was dem Patienten helfen könnte. "Wir haben falsch gedacht – dass Medizin nach dem Muster eines Wirtschaftsbetriebs zu funktionieren hat", sagt Maio. Dabei müsse sie als Teil der Daseinsvorsorge einer anderen Logik folgen.
"Das darf man nicht dem Markt überlassen"
Das Hauptargument zur Einführung der Fallpauschale sei gewesen, "wenn wir die nicht einführen, wird alles teurer", so Maio. "Aber das war ja gar nicht richtig. Es gab keine Kostenexplosion. Die Kostenexplosion kam erst danach - durch die Fallpauschalen habe man nur noch das Teure gemacht." Das müsse man als Politiker heute anerkennen und zugeben und nicht daran festhalten. "Es war ein Fehler, die Fallpauschalen einzuführen, der den sozialen Gehalt der Medizin erodiert hat".
Krankenhaus-Personal läuft durch einen Krankenhaus-Flur
Ökonomisierung der Krankenhäuser - Traurige Diagnose
Im Krankenhaus sollte es nicht in erster Linie um Geld gehen. Und doch herrschen an den Hospitälern in Deutschland chronisch Kostendruck und Personalmangel. Die Lukrativität einer Behandlung ist zum Dreh- und Angelpunkt geworden.
Gefragt sei jetzt nicht "Stellschraubenpolitik", sondern ein kompletter Systemwechsel. Maio sähe gern einen Wandel hin zu einer Beziehungsmedizin, einem sprechenden und zuhörenden Umgang, in dem man sich Zeit für den Patienten nimmt und es "der Logik der Medizin überlassen bleibt, was im Einzelfall zu tun ist. Wir müssen den Ärzten die Freiheit zurückgeben, nach rein medizinischen Kriterien vorzugehen."
Die bis vor Kurzem geführte Debatte über Schließungen unwirtschaftlicher Krankenhäuser findet Maio vor dem Hintergrund der Coronakrise irrsinnig. Krankenhäuser müssten vorgehalten werden für eine Versorgung der Bevölkerung. "Das sind politische Entscheidungen, das darf man nicht dem Markt überlassen."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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