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EU-Politik und Corona "Die Sicht des Marktes war stärker als die des Gesundheitssystems"

Hat die EU-Haushaltspolitik die Coronakrise verschärft? Die Ärztin und Forscherin Natasha Azzopardi-Muscat sagt: Am Gesundheitssystem interessierten Brüssel vor allem die Finanzen - was sich in der Krise rächt.
Ein Interview von David Böcking
"Nach Brüssel verlegt": Im Dezember 2016 mauerten Demonstranten das griechische Gesundheitsministerium zu

"Nach Brüssel verlegt": Im Dezember 2016 mauerten Demonstranten das griechische Gesundheitsministerium zu

Foto: Yorgos Karahalis/ AP

Diese Bilder dürfte Europa so bald nicht vergessen. Während der Corona-Pandemie mussten Patienten in Italien und Spanien in überfüllten Krankenhäusern versorgt werden, völlig erschöpfte Ärzte berichteten von Materialmangel und kriegsähnlichen Zuständen . Während die Italiener ihre Nachbarn zunächst erfolglos um Hilfe baten, schickten China und Russland öffentlichkeitswirksam Hilfsgüter.

All das habe nicht gerade "die Insignien gehobener Staatskunst" getragen, sagte Ex-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Und es gibt noch deutlich undiplomatischere Einschätzungen. Denn auch an der Entstehung der Gesundheitskrise in Südeuropa wird der Union teilweise die Schuld gegeben - wegen ihrer Haushaltspolitik, die lange aufs Sparen ausgerichtet war.

"Das Coronavirus trifft in der EU auf gesellschaftliche Infrastrukturen, die von mindestens einer Dekade scharfer Austeritätspolitik erschöpft sind", schrieb der Attac-Aktivist Alexis Passadakis im "Freitag" . Und "Le Monde Diplomatique" kam zum Schluss : "Die Austeritätspolitik der letzten Jahrzehnte hat uns Krankenhäuser beschert, in denen Ärzte heute wie im Krieg entscheiden müssen, wer leben darf und wer sterben muss."

Die öffentlichen Investitionen in Italien sanken um 40 Prozent

Trägt die EU also eine Mitverantwortung für die Corona-Toten? Klar bejahen lässt sich diese Frage schon deshalb nicht, weil die Mitgliedsländer in der Gesundheitspolitik bislang kaum Kompetenzen an die EU-Kommission abgegeben haben. Indizien für einen indirekten Einfluss aber finden sich durchaus.

So forderte die Europäische Zentralbank 2011 mit einem Brief größere Sparanstrengungen von der italienischen Regierung und mahnte dabei auch mehr Effizienz im Gesundheitssystem an. Die EZB war damals bereits mit der EU-Kommission Teil der sogenannten Troika zur Überwachung von Sparprogrammen in Krisenländern.

Mittlerweile sind die öffentlichen Investitionen in Italien um dramatische 40 Prozent zurückgegangen. Spanien kürzte in der Krise rigoros im Gesundheitssystem, Zehntausende von Ärzten verließen das Land. In Griechenland, wo die Troika direkten Einfluss auf die Sparpolitik hatte, wurden die Gesundheitsausgaben innerhalb weniger Jahre nahezu halbiert. In Athen mauerten Demonstranten 2016 das Gesundheitsministerium zu und hängten ein Transparent davor: "Wir wurden nach Brüssel verlegt."

Es sei an der Zeit zu erkennen, dass "Gesundheitssysteme nicht bloß eine Last für die öffentlichen Finanzen in Europa sind". Das schrieben bereits 2015 die maltesische Gesundheitswissenschaftlerin Natasha Azzopardi-Muscat und mehrere Kollegen. In einer Studie  hatten sie Politikempfehlungen untersucht, welche die EU-Kommission ihren Mitgliedsländern gibt. Beim Thema Gesundheit fielen sie sehr einseitig aus. Darin sieht Azzopardi-Muscat heute einen Grund für das schlechte Bild, das die EU angesichts der Pandemie abgab.

SPIEGEL: Frau Azzopardi-Muscat, welche Rolle hat EU-Politik dabei gespielt, wie Länder auf das Coronavirus reagieren?

Azzopardi-Muscat: Zu Beginn waren die Länder sehr auf sich allein gestellt und konnten nur eingeschränkt reagieren. Im Verlauf der Krise gab es dann die Übereinkunft, dass diese zu groß ist, als dass sie irgendein Land allein bewältigen könnte. Deshalb hat die WHO sie zur Pandemie erklärt. Probleme haben wir besonders bei der Beschaffung von medizinischer Ausrüstung beobachtet.

Foto: Brian Cassar

Natasha Azzopardi-Muscat ist Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist europäische Gesundheitspolitik, über die sie auch ihre Doktorarbeit schrieb. Azzopardi-Muscat war Präsidentin der European Public Health Association und arbeitete in verschiedenen Führungspositionen im maltesischen Gesundheitsministerium. Derzeit ist sie Beraterin im europäischen Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

SPIEGEL: Italien schien anfangs mehr Hilfe aus China, Russland oder Kuba zu bekommen als aus anderen europäischen Ländern. Wie konnte das passieren?

Azzopardi-Muscat: Traditionell gab es viel Widerwillen dagegen, Macht von der nationalen Ebene nach Brüssel zu verlagern. Meinen Untersuchungen zufolge lässt sich das dadurch erklären, dass viele Entscheidungen innerhalb der EU viel stärker von der Sicht des Marktes als der des Gesundheitssystems gelenkt wurden. Ein Beispiel ist das Europäische Semester, durch das Mitgliedsländer finanz- und wirtschaftspolitische Empfehlungen bekommen. Die waren in den Anfangstagen nicht besonders gesundheitsfreundlich.

SPIEGEL: Inwiefern?

Azzopardi-Muscat: Unsere Analyse hat gezeigt, dass die meisten Empfehlungen zum Thema Gesundheit sich auf die finanzielle Tragfähigkeit bezogen und weitere Auswirkungen wie den Umfang und Zugang zu Gesundheitsleistungen nicht beinhalteten. Neuere Untersuchungen zu dem Thema scheinen einen Wandel zu zeigen.

SPIEGEL: Könnte dieser Fokus auf finanzielle Aspekte die Reaktion von Ländern auf die Corona-Epidemie geschwächt haben?

Azzopardi-Muscat: So war es zumindest nach der Finanzkrise ab 2007. Studien haben ergeben, dass manche der damals umgesetzten Sparmaßnahmen zu größerer Ungleichheit geführt haben. Das öffentliche Gesundheitswesen war oft das Ziel von Einsparungen, obwohl die WHO Länder zu höheren Investitionen gedrängt hat. Jetzt, in der Coronakrise, gelingt es Ländern mit gutem öffentlichen Gesundheitswesen besser, die Pandemie zu kontrollieren.

SPIEGEL: Warum?

Azzopardi-Muscat: Weil man Patienten testen, zurückverfolgen, isolieren oder in Quarantäne schicken muss, um die Übertragungskette zu unterbrechen. Das ist mühselige und personalintensive Arbeit. Und die ist auch jetzt sehr wichtig, da Länder versuchen ihre Lockdowns zu beenden.

"Es gab einen starken Druck auf die Gesundheitssysteme, sich auf finanzielle Tragfähigkeit zu konzentrieren."

SPIEGEL: Griechenland, Portugal, Irland und Zypern haben in der Eurokrise Finanzhilfen erhalten und mussten im Gegenzug wirtschaftliche Reformprogramme umsetzen. Wie hat das ihre Gesundheitssysteme beeinflusst?

Azzopardi-Muscat: Es gab einen starken Druck auf die Gesundheitssysteme, sich auf finanzielle Tragfähigkeit zu konzentrieren. Dabei wurde manchmal die weitere Perspektive, etwa der Personalmangel in Gesundheitsberufen, ignoriert. In den vergangenen Jahren hat sich das geändert. Ich bin zuversichtlich, auch mit Blick auf die neue EU-Kommission und ihre Reaktion auf Covid-19 – etwa die Geberkonferenz, mit der ein erheblicher Betrag für Forschung eingeworben wurde. Noch vor ein paar Jahren wurde Gesundheit in der EU-Kommission hingegen als Kleinigkeit gesehen.  

SPIEGEL: Wann war das?

Azzopardi-Muscat: Im Jahr 2017 hat die Juncker-Kommission ein Weißbuch zur "Zukunft von Europa" veröffentlicht. Darin wurde Gesundheit als ein Bereich genannt, aus dem sich künftige Kommissionen zurückziehen könnten. Damals war ich Präsidentin der European Public Health Association, und zusammen mit anderen Nichtregierungsorganisationen haben wir eine lautstarke Kampagne unter dem Motto "Tut mehr für die Gesundheit!" geführt. Ich glaube, nach der Coronakrise ist es fast nicht mehr nötig, irgendjemanden davon zu überzeugen, dass die EU nicht weniger für die Gesundheit tun muss - sondern mehr.