Hintergrund – Die Krise der Pädiatrie

Die Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland, die Pädiatrie, befindet sich in einer strukturellen und konzeptuellen Krise. Dies sowohl aus Sicht des komplex chronisch kranken Kindes und seiner Familie als auch aus Sicht der Kinder- und Jugendärzte und ihrer Fachgesellschaften. Für die vulnerable Gruppe der komplex chronisch kranken Kinder und Jugendlichen ist in Deutschland ein Versorgungsdelta entstanden, welches immer weniger den berechtigten Ansprüchen an ein leistungsfähiges Gesundheitssystem in einer modernen europäischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert zu genügen in der Lage ist [1,2,3,4]. Grundsätzlich scheint zurzeit die Kinder- und Jugendmedizin immer mehr an Terrain in einem Gesundheitssystem mit vorwiegend finanziellen Durchsetzungsmechanismen zu verlieren.

Das bestehende Versorgungsdelta kann in 10 konkreten Punkten skizziert werden:

  1. 1.

    Für Kinder und Jugendliche mit fachspezifisch kontinuierlichem, in der Regel langjährigem medizinischen Versorgungsbedarf besteht weder ambulant noch stationär, weder quantitativ noch qualitativ eine ausreichende Versorgungskapazität. Das Recht der von chronischer Krankheit betroffenen Kinder und Jugendlichen auf eine für sie qualitativ zureichende Medizin kann nicht eingelöst werden. Die Versorgungsrealität in Deutschland entfernt sich von einer eigentlich einzufordernden Zugangsgerechtigkeit im Gesundheitssystem [1].

  2. 2.

    Die in den Krankenhausbedarfsplänen ausgewiesenen Betten für Kinder und Jugendliche können – auch in medizinischen Notfällen, auch in Ballungs- und Leistungszentren – durch den Mangel an geeigneten Fachkräften in der Pflege nicht belegt werden [4].

  3. 3.

    Die Ökonomisierung im Gesundheitssystem, namentlich das die stationäre Versorgung steuernde DRG-System (Diagnosis-related Groups), ist – auch nach allen internationalen Erfahrungen – in besonderem Maße ungeeignet, den realen Bedürfnissen von komplex chronisch kranken Kindern und Jugendlichen zu entsprechen [5]. Vielfältige und vielstimmige Korrekturappelle aus der Kinder- und Jugendmedizin haben bislang keine korrigierende Wirkung [1,2,3,4,5].

  4. 4.

    Die mit der enggeführten Ökonomisierung im Gesundheitssystem zwangsläufig auch für die Betreuung von Kindern angelegte Arbeitsverdichtung, die kalkulierte, arbeitstechnische Zeitkürzung am „Kind als Patient“ hat einen direkten Verlust von Qualität und Humanität im Versorgungsalltag zur Folge. Die pädiatrische Humanmedizin läuft Gefahr, in dieser Engführung den Status humaner Medizin zu verlieren [6].

  5. 5.

    Die natürlichen, nichtbestreitbaren, durch die kindliche Entwicklung als solche konstituierten psychosozialen Bedürfnisse jenseits rein somatischer (biomedizinischer) Versorgung können bei immer höherem Bedarf immer weniger berücksichtigt werden [6, 7].

  6. 6.

    Der im Gesundheitssystem top-down erzwungene Dokumentations- und Verwaltungsaufwand beansprucht überproportional die Arbeitszeit von Ärzten und Pflegenden, eine Zeit, die dem Kind als realem Patienten vorenthalten wird und, wenn überhaupt, nur durch Überstunden mit entsprechender Folgeproblematik kompensiert werden kann [7].

  7. 7.

    Die langjährig und vielstimmig vorhergesagte, nun unübersehbar eintretende Entfremdung und Unzufriedenheit auch am Arbeitsplatz Kindermedizin führen zur Fluktuation gerade derjenigen engagierten Kräfte, die mit ihrem Mehr an Möglichkeiten, Mehr an Motivation und Mehr an Einsatz die Pädiatrie prägen sollten [6, 7].

  8. 8.

    Mit dem Fortschritt der Medizin mit ihren spektakulären biomedizinischen Behandlungserfolgen in der Pädiatrie, die noch vor wenigen Jahren als rein utopisch angesehen wurden, steigt – bei sinkenden Ressourcen – der ambulante (und stationäre) Bedarf an hoch spezialisierter, zentrumsbasierter Institutions‑, Arzt- und Pflegekompetenz weiter an.

    Als Beispiele im Bereich der Neuropädiatrie seien genannt: mechanische Thrombektomie durch die interventionelle Neuroradiologie und Lyse beim kindlichen Schlaganfall, Epilepsiechirurgie und ihre Vorbereitung, Antisense-Oligonukleotide und Gentherapie bei neuromuskulären Erkrankungen (Bsp.: spinale Muskelatrophie (SMA); im Bereich der Onkologie: Car-T-Zell-Therapie) u. v. a. m. Die notwendige prozedurale und auf das Kind und seine Entwicklung abgestimmte Qualität der Versorgung erlaubt dabei eben nicht einen „Einsatz, egal wo“, sondern nur einen „Einsatz dort, wo Kompetenz vorliegt“. Die notwendige Kompetenz ist in der Regel das Ergebnis jahrelanger, unter Supervision erweiterter Erfahrung in einem spezialisierten Team und nicht durch raschen Abruf austauschbaren Kurzzeitwissens aus Wochenendeinweisungen verfügbar.

  9. 9.

    Politik und Kostenträger widersprechen zwar weder grundsätzlich noch öffentlich den vielfältigen kritischen Analysen, konkrete Verantwortung wird aber weder übernommen noch festgelegt, noch übertragen. Änderungsmechanismen werden nicht konkretisiert. Dringende und direkte Hilferufe aus realen Versorgungsnotständen werden nicht beantwortet, die Politik verharrt in einem Beschwichtigungsmodus. Die in der Sache so beschämende Realität für Kinder und Jugendliche dringt nicht zur Politik vor.

  10. 10.

    Die Pädiatrie selbst verharrt nur allzu oft in einer passiv reflexiven, wohlformuliert fordernden Beklagungsstarre, aus der heraus weder konkrete Vorschläge formuliert werden noch eine geeinte Stimme der Kinder- und Jugendmedizin vernehmbar ist.

Zusammenarbeit von Pädiatrie und Sozialpädiatrie

Es wäre naiv anzunehmen, dass bei diesem gordischen Knoten von Problemen eine einzige Entwirrungsformel reichen würde – und sei es die der biopsychosozialen Medizin in der Pädiatrie –, um ad hoc die genannten Probleme zu lösen.

Das biopsychosoziale Modell – im 20. Jahrhundert formuliert und vorgeschlagen als Paradigmenwechsel von zu enggefasster biomedizinischer zu weniger enggefasster biopsychosozialer Medizin – ist die konzeptuell wie strukturell geeignete und immer noch innovative Grundlage für die im Weiteren skizzierten nötigen Veränderungsprozesse [8,9,10,11]. Dem biopsychosozialen Modell verpflichtet, kann medizinische Verantwortung für die Besonderheiten der Kinder- und Jugendmedizin in der vulnerablen Gruppe komplex chronisch kranker Kinder und Jugendlichen – notwendigerweise über die gesamte Kindheit, notwendigerweise über das gesamte Spektrum von Erkrankungen und notwendigerweise über das gesamte Spektrum von Entwicklungsverläufen – mit gutem Gewissen übernommen und gestaltet werden.

Biopsychosoziale Medizin in der Pädiatrie ist dabei nicht theoretisch formulierte, in der Praxis wirkungslose Utopie, sondern realistische und realitätserprobte Chance zur Gestaltung zukünftiger Pädiatrie als Ganzes. Diesen Gestaltungsspielraum gilt es, gemeinsam von Pädiatrie und Sozialpädiatrie auszuloten und zu nutzen. Gelingt dies nicht, besteht auf Dauer die Gefahr, dass die Pädiatrie in einem weitgehend unflexiblen, strukturell festgefahrenen Parallelogramm sich gegenseitig hemmender Unmöglichkeiten im deutschen Gesundheitssystem marginalisiert wird. In einer Tandemstruktur – als Modell der zielorientierten Zusammenarbeit von Pädiatrie und Sozialpädiatrie – können innovative, patientenzentrierte und sektorenübergreifende Versorgungswege konzipiert und realisiert werden.

Konkret kann man sich im Alltag an den drei Grundvoraussetzungen zur Versorgung von komplex chronisch kranken Kindern – Kompetenz, Kontinuität und Koordination – orientieren. In einem biopsychosozialen Grundverständnis werden Patienten longitudinal in einer auf ihre Erkrankung spezialisierten Zentrumsstruktur von einem auf ihre Erkrankung spezialisierten Facharzt der Pädiatrie dauerhaft betreut. Ihre Fachlichkeit spiegelt sich in der pädiatrischen Schwerpunktqualifikation; weiter vertiefte Fachlichkeit und Subspezialisierung können notwendig sein. Gleichzeitig ist diese ärztliche Fachlichkeit bei jedem behandelten Patienten eingebettet in ein sozialpädiatrisches, per definitionem interdisziplinäres und multiprofessionelles Team, in dem Ärzt*innen, Psycholog*innen und Therapeut*innen direkt und multimodal zusammenarbeiten und darüber hinausgehend gezielt auf weitere Disziplinen oder Fachrichtungen zugreifen können. Aufgehoben in diesem – aus Patientensicht „seinem“ Team – kann der komplex chronisch kranke Patient biologisch, psychologisch und sozial bedarfsgerecht und seine Entwicklung berücksichtigend betreut werden. Eine z. B. über gemeinsame Fallkonferenzen gelebte Vernetzung kann nach innen ebenso wie nach außen in Anspruch genommen werden. Der Patient wird auf dem neuesten Stand der Wissenschaft behandelt, ihm werden neue Behandlungsmöglichkeiten angeboten und sein Fall kann in internationalen Diskurs und Expertenkonsens eingebunden werden. Die Verbindung zu universitärer Medizin – hier konkret zu der Hochleistungsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU Klinikum) – erlaubt, das gesamte Spektrum medizinischer Möglichkeiten auf den einzelnen Patienten individuell zuzuschneiden.

Biopsychosoziale Medizin als Antwort auf die Krise

Mit dem Modell biopsychosozialer Medizin in der Pädiatrie wird ein Vorschlag begründet, der zu Diskurs, Orientierung, Inhalts- und Strukturentwicklung geeignet ist. Er hat einen realen, erfolgreich gestalteten und seit Jahren gelebten Hintergrund: Er basiert sowohl auf dem historischen Boden der vielen Vordenker aus Pädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie [12] als auch konkret auf der dabei pionierhaft eingeforderten Berücksichtigung komplex chronisch kranker Kinder im Selbstverständnis der Sozialpädiatrie durch die Charité in Berlin (mit der konzeptuellen Federführung durch Dirk Schnabel; [13]) und den konkreten Erfahrungen des integrierten Sozialpädiatrischen Zentrums (iSPZ) im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität in München (LMU Klinikum, iSPZ Hauner – www.ispz-hauner.de) durch den Autor Florian Heinen.

Mit dem iSPZ Hauner in München konnte in den letzten 10 Jahren eine Struktur aufgebaut werden (Abb. 1), in der in den ärztlich geleiteten Teams – in 19 pädiatrischen Fachbereichen und 3 Querschnittsdisziplinen (Psychologie, funktionelle Therapien, Beratung) – im Jahr 2019 insgesamt ca. 5500 Patienten mit ca. 10.000 Überweisungsscheinen mit ca. 44.000 Patientenkontakten interdisziplinär, multiprofessionell und multimodal versorgt wurden. Die differenzierte Pädiatrie und die differenzierte Sozialpädiatrie im Münchner Modell der LMU haben dabei den Praxistest für seltene wie für häufige Erkrankungen ebenso bestanden wie die Vor-Ort-Überprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) im Juni 2019.

Abb. 1
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Bündelung der verschiedenen Fachbereiche in einem sozialpädiatrischen Zentrum zur Schaffung einer biopsychosozialen Medizin in der Pädiatrie. Schematische Darstellung am Beispiel des LMU Zentrums für Entwicklung und komplex chronisch kranke Kinder (iSPZ Hauner) der Ludwig-Maximilians-Universität München. (Abbildung mit freundlicher Genehmigung © Heinen/GrafikSchneider München)

Aus grundsätzlichen Überlegungen und mit Unterstützung aus den intensiven wie langjährigen Dialogen mit Praxismedizin, Kliniken und anderen Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) formulieren wir in Richtung einer die Bedürfnisse der komplex chronisch kranken Kinder besser berücksichtigenden Zukunft, dass

eine Kinderklinik der Zukunft nur dann eine Kinderklinik ist, wenn sie ein Sozialpädiatrisches Zentrum hat, und dass ein Sozialpädiatrisches Zentrum der Zukunft nur dann ein Sozialpädiatrisches Zentrum ist, wenn es eine Kinderklinik hat.

In der gegebenen Realität ist diese Formulierung natürlich kein dictum absolutum; es gilt aber, sich dieser Vision durch Kooperation und strategische Partnerschaften anzunähern und perspektivisch dieses Grundkonzept als Strukturziel aktiv zu avisieren und trotz zu erwartender Hürden und Widerstände nicht aus den Augen zu verlieren.

Integration und Untrennbarkeit von somatischer (biologischer, biomedizinischer) und psychosozialer (biopsychosozialer) Kompetenz halten wir für die Grundvoraussetzung der Weiterentwicklung von Pädiatrie und Sozialpädiatrie mit dem Ziel biopsychosozialer MedizinFootnote 1.

Innovation statt Subvention

Biopsychosoziale Medizin in der Pädiatrie ist auch deshalb in der Lage, für komplex chronisch kranke Kinder und Jugendliche Versorgungsqualität herzustellen, weil sie den klassischen, traditionellen, ganzheitlich pädiatrischen Anspruch durchzusetzen vermag. Mit ihr kann es gelingen, die im Gesundheitssystem entstandene Ressourcenkürzung gegen Kinder innovativ durch Ressourcengewinnung für Kinder zu überwinden, indem die grundsätzlich im deutschen Gesundheitssystem angelegten, vorbildlichen und koordinativen Möglichkeiten von Pädiatrie und Sozialpädiatrie [14] für komplex chronisch kranke Kinder und Jugendliche in Tandemstrukturen neu definiert, genutzt und systematisch weiterentwickelt werden.

Voraussetzungen zur Realisierung biopsychosozialer Medizin

Im Gesundheitssystem in Deutschland werden die positiven wie negativen Entwicklungen durch die Richtungsführung der Finanzen bestimmt. Auch biopsychosoziale Medizin in der Pädiatrie kann nur da funktionieren, wo sie die notwendigen Ressourcen für ihre Versorgungsleistung generieren kann. Durch die Verankerung der Sozialpädiatrischen Zentren im Sozialgesetzbuch (SGB) V § 119 seit 1989 ist mit damals vorrausschauender Klugheit eine Finanzierung konzipiert, durchgesetzt und gesichert worden, die weder in Konkurrenz zur Finanzierung der Krankenhäuser noch in Konkurrenz zur Finanzierung der Praxen steht.

Gleichwohl funktioniert ein solches System nicht von alleine, sondern in der gelebten Realität nur dann, wenn die im Sektor Sozialpädiatrie generierten Ressourcen tatsächlich den komplex chronisch kranken Kindern und Jugendlichen zur Verfügung gestellt und nicht als betriebswirtschaftliche „cash cow“ in einer Querfinanzierung benutzt, schärfer gesagt, abgenutzt werden. Es bedarf finanziell einer fairen und gleichzeitig robusten Firewall zwischen der klassischen Organisation einer Kinderklinik (im DRG System „Akutmedizin > Chronikermedizin“) und der integrierten oder kooptierten Organisation eines sozialpädiatrischen Zentrums (im Finanzierungskorridor SGB V § 119 „Chronikermedizin“). Zwischen Pädiatrie und Sozialpädiatrie sind also einerseits inhaltliche und personale Nähe, Einheit und Brückenfunktion und andererseits strukturelle Eindeutigkeit und Abgrenzung zu fordern. Es ist in Deutschland multiple, teils bittere Erfahrung, dass dort, wo eine strukturelle Trennung (nennen wir sie Firewall) nicht gelingt, aus einer finanziell unter Druck stehenden Struktur Kinderklinik auch mit einer Struktur SPZ nicht mehr wird als eine verwaschen insuffiziente Mischstruktur, die weder auf der einen (Klinik) noch auf der anderen Seite (SPZ) Stärke generieren kann, sondern im Gegenteil, Schwäche, Frustration und negative Dynamik zur Folge hat. Gelingt jedoch eine „Einheit mit Abgrenzung“, so kann die Pädiatrie mit dieser Struktur auch ihr sonst kaum lösbares Problem der Verdrängungskonkurrenz von akuter zu chronischer Medizin überwinden. Es bleibt dabei alltägliche Herausforderung für Grundverständnis und gelebtes Verhalten der beteiligten Personen, dass die Struktur SPZ nicht als Kompensationsmechanismus für eine schwächelnde Finanzierung der Pädiatrie missverstanden, sondern als arbeitsintensive Chance zur strukturellen und qualitativen Weiterentwicklung hin zu einer biopsychosozialen Medizin genutzt wird.

Grundsätzlich sind verschiedene Modelle dieser „Einheit mit Abgrenzung“ denkbar. Das am LMU Klinikum in München etablierte und über das letzte Jahrzehnt bewährte System ist so strukturiert, dass der Träger des Sozialpädiatrischen Zentrums (Landesverband Bayern für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V., LVKM) nicht identisch ist mit dem Träger des Dr. von Haunerschen Kinderspitals als der LMU Kinderklinik in München. Ein Kooperationsvertrag setzt die verbindliche inhaltliche Klammer und erlaubt gleichzeitig einen innovativ gestalterischen Spielraum.

Drei Denkmodelle für eine Zusammenarbeit von Pädiatrie und Sozialpädiatrie

  • Tandemstruktur

  • Public-Public-Partnership

  • Brunnenschalenmodell

Die „Tandemstruktur“ orientiert sich an dem Bild des klassischen Fahrradtandems. Das heißt, dass im gleichen Rhythmus und mit gleicher Richtung das Ziel der bestmöglichen – mit den erwähnten Beispielen Charité und LMU, universitären – Versorgung komplex und chronisch kranker Kinder und Jugendlicher verfolgt wird.

„Public-Public-Partnership“ bedeutet am Beispiel München, dass sich die LMU (Public) und der LVKM (Public) auf ihre jeweiligen Stärken besinnen und diese gebündelt dem erkrankten Kind zur Verfügung stellen. LMU und LVKM – Letzterer aus der Elterninitiative für ihre Kinder und Angehörigen mit Behinderungen entstanden und damit immer schon die Partizipation der Betroffenen und ihrer Familien vertretend – realisieren eine Win-win-Situation, die mehr ist als die Summe ihrer Teile.

Das „Brunnenschalenmodell“ orientiert sich symbolhaft am Brunnen vor dem Hauptgebäude der LMU. Der dreigliedrige Brunnen steht für eine komplexe funktionierende Einheit (Abb. 2): Das oberste Brunnenelement, aus dem das Wasser in einer Fontäne sprudelt und über eine pilzförmig konvexe Schale abgeleitet wird, repräsentiert die universitäre Pädiatrie mit ihrer „Frische“ neuer Therapien, Initiativen und Ideen, jedoch mit einer relativ kurzen Verweilzeit, zusammengefasst als „unbegrenzte Innovation mit begrenzter Versorgungstiefe“. Das mittlere Brunnenelement als nun konkave, klassische Brunnenschale repräsentiert das universitäre, integrierte Sozialpädiatrische Zentrum, das iSPZ Hauner, in dem, abgeleitet aus der universitären Innovation, die für den komplex chronisch kranken Patienten notwendige Versorgungstiefe in einem Team von Ärzt*innen, Psycholog*innen und Therapeut*innen realisiert wird. Das unterste, dritte, oktogonale, auf dem Boden befindliche und größte Brunnenelement repräsentiert das vernetzte „Pädiatrische Versorgungssystem München“, in dem alle weiteren Mitspieler zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ihren jeweiligen Platz einnehmen.

Abb. 2
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Brunnenschalenmodell zur Darstellung der Kooperation zwischen universitärer Pädiatrie (oben), universitärer Sozialpädiatrie (Mitte) und Netzwerkpädiatrie (unten) am Beispiel München. Im integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum (iSPZ Hauner) werden die universitären Innovationen aufgenommen und die notwendige Versorgungstiefe in einem Team von Ärzt*innen, Psycholog*innen und Therapeut*innen realisiert. (Abbildung mit freundlicher Genehmigung © Heinen/GrafikSchneider München)

Voraussetzungen für das praktische Funktionieren biopsychosozialer Medizin in der Tandemstruktur von Pädiatrie und Sozialpädiatrie sind genuines Interesse und die Bereitschaft, biopsychosoziale Kompetenz zu erwerben. Die Ausbildung dazu richtet sich an diejenigen Ärzt*innen, die in ihrem Selbstverständnis nicht auf punktuelle technische Kompetenz reduziert sein wollen, sondern in die Lage versetzt sein wollen, der Individualität des Kindes mit der eigenen Ganzheitlichkeit personaler und ärztlicher Kompetenz antworten zu können. Hier kann die zurzeit anstehende, berufsbegleitende Weiterbildung zur Speziellen Sozialpädiatrie ein notwendiger und wichtiger Schritt in die richtige Richtung sein.

Die in der Struktur eines SPZ angebotenen Spezialisierungen und Subspezialisierungen sollten sich bedarfsgerecht an den 4 pädiatrischen Schwerpunkten – Kardiologie, Neonatologie, Neuropädiatrie, Onkologie – orientieren, der weiteren Differenzierung der Pädiatrie folgen und die jeweiligen Fachbereiche mit dem Grundverständnis und der Teamstruktur biopsychosozialer Medizin abbilden: Neuropädiatrie und Entwicklungsneurologie durch den Neuropädiater, onkologische Nachsorge durch und/oder mit dem Onkologen, Diabetologie durch den Diabetologen, Pneumologie durch den Pneumologen, Gastroenterologie durch den Gastroenterologen, Nephrologie durch den Nephrologen etc.

Eine unscharf adressierte Querschnittskompetenz Sozialpädiatrie per se als ausreichend anzunehmen, anstatt eine dezidierte medizinische Fachlichkeit für eine moderne, differenzierte Sozialpädiatrie zu fordern, wäre ein Missverständnis, ein Misskonzept. Ebenso ein Misskonzept wäre die Annahme, dass die Gesamtversorgung komplex chronisch kranker Kinder und Jugendlicher „komplett und einfach“ in ein SPZ überführt werden könnte. Anders ausgedrückt:

Die Versorgung der vulnerablen Patientengruppe komplex chronisch kranker Kinder braucht zu einer biopsychosozialen Versorgung beides, beides gleich stark, beides koordiniert: eine leistungsstarke, differenzierte Pädiatrie und eine leistungsstarke, differenzierte Sozialpädiatrie. „Bio“ ohne „psychosozial“ ist ebenso unzureichend wie „psychosozial“ ohne „bio“.

In dem stimulierenden, immer noch innovativen Kontext biopsychosozialer Medizin können sich die beteiligten Personen, Strukturen und Institutionen von Pädiatrie und Sozialpädiatrie zukunftsgewandt begegnen, weil sie mit einem realen Mehr an Ressourcen ein reales Mehr an Versorgung, qualitativ und quantitativ, generieren können. Es entsteht die Chance gelebter Netzwerkmedizin, in der mit ausdrücklicher Weiterentwicklung digitaler Informationssynchronisierung der eine immer weiß, was der andere warum plant und macht.

Fazit

Zusammenfassend kann die Pädiatrie auf die gegebenen Herausforderungen mit der Perspektive einer innovativen Tandemstruktur gemeinsam mit der Sozialpädiatrie antworten. Mit dem Ziel biopsychosozialer Medizin können Pädiatrie und Sozialpädiatrie strukturell weiterentwickelt und dabei so verzahnt werden, dass für diejenigen, um die es im Besonderen gehen muss – die komplex chronisch kranken Kinder und Jugendlichen – eine Medizin zur Verfügung gestellt wird, die gleichermaßen kompetent, koordiniert und kontinuierlich ist. Eine solche Medizin realisiert mit einem Mehr an Team, einem Mehr an Tandem und einem Mehr an Terrain ein Mehr an Qualität, ein Mehr an Effizienz und ein Mehr an volkswirtschaftlicher Ressourcenschonung. Sie orientiert sich verantwortungsvoll, aktiv und gestalterisch hin zu intelligenten Lösungen, hin zu Innovation statt Subvention.