Frankreich sucht nach einer Blitzkur für sein angeschlagenes Gesundheitswesen

Schon bevor die Corona-Epidemie über das Land hereinbrach, war das öffentliche Gesundheitswesen in Frankreich ein brodelnder Vulkan. Nun versucht die Regierung in wenigen Wochen die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Es wird sie viel Geld kosten.

Nina Belz, Paris
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Die Unzufriedenheit der Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitswesen ist nicht neu: 2019 haben die Mitarbeiter der Notaufnahmen monatelang für bessere Arbeitsbedingungen demonstriert. Im Bild eine Protestaktion in Marseille.

Die Unzufriedenheit der Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitswesen ist nicht neu: 2019 haben die Mitarbeiter der Notaufnahmen monatelang für bessere Arbeitsbedingungen demonstriert. Im Bild eine Protestaktion in Marseille.

Jean-Paul Pelissier / Reuters

Die Auszeichnung der WHO für das beste Gesundheitssystem der Welt ist inzwischen zwar zwanzig Jahre alt. Doch die EU-Statistikbehörde hat Frankreich erst vor zwei Jahren eine äusserst hohe Effizienz attestiert: In keinem anderen Land der damals 28 Mitgliedstaaten starben weniger Menschen, deren Tod durch passende Behandlung hätte verhindert werden können. Der Stolz der Franzosen auf ihr Gesundheitssystem hat allerdings grosse Risse bekommen – nicht nur, aber vor allem durch die Corona-Krise.

Mit mehr als 28 500 Verstorbenen ist das Land, gemessen an seiner Bevölkerung, unter den meist gebeutelten Europas. Zwar betonen der Präsident und der Regierungschef noch immer bei jeder Gelegenheit, dass die Spitäler der Belastungsprobe standgehalten hätten. Doch die Patiententransfers in Nachbarländer, fehlendes Schutzmaterial sowie Pfleger und Ärzte, die – anonym – davon berichteten, dass sie bisweilen entscheiden mussten, wen sie noch intubieren, sprechen eine andere Sprache.

Milliarden als Tropfen auf den heissen Stein

Die vergangenen drei Monate haben die Krise akzentuiert, die in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen seit Monaten schwelt. Schon im vergangenen Jahr haben die Mitarbeiter der Notaufnahmen monatelang gestreikt, Krankenschwestern und Pfleger gingen immer wieder für mehr Gehalt auf die Strasse.

Die Forderungen der Gesundheitsberufe allein auf eine bessere Entlöhnung zu reduzieren, greift allerdings zu kurz. Vor allem in ländlichen Gebieten kam es auch zu Protesten gegen die von der Regierung im Herbst 2018 beschlossene Strategie, gewisse Gesundheitsdienste in sogenannten Kompetenzzentren zu konzentrieren. Und zwischen vergangenem Dezember und Februar sind im ganzen Land mehr als tausend leitende Ärzte symbolisch von ihren administrativen Funktionen zurückgetreten. Sie protestierten damit gegen den chronischen Material- und Personalmangel sowie gegen ihre Überbelastung durch administrative Aufgaben.

Auch in den vergangenen Wochen kam es in Paris zu kleineren Demonstrationen von Gesundheitspersonal, hier am 21. Mai in Paris.

Auch in den vergangenen Wochen kam es in Paris zu kleineren Demonstrationen von Gesundheitspersonal, hier am 21. Mai in Paris.

Francois Mori / AP

Zu diesem Zeitpunkt hatte die damalige Gesundheitsministerin bereits einen weiteren «Notfallplan» für die öffentlichen Spitäler vorgestellt. Doch das Versprechen, ihnen einen Drittel ihrer Schulden abzunehmen und 1,5 Milliarden Euro für Material und leichte Renovationen bereitzustellen, vermochte die Gemüter nicht zu beruhigen. Die akute Phase der Corona-Krise und die starke Belastung der Spitäler haben sie nur noch mehr erhitzt. Pfleger und Ärzte haben deutlich gemacht, dass sie sich mit den versprochenen Prämien nicht abspeisen lassen.

Nun unternimmt die Regierung einen neuen Anlauf, die Stimmung zu beruhigen. Emmanuel Macron, der bei seinen Spitalbesuchen während der Krise mehr als einmal von wütendem Personal in die Mangel genommen wurde, hat «Fehler» eingestanden und eine «massive Investition» versprochen. Seit Montag und bis Mitte Juli soll die Regierung mit Vertretern des Gesundheitswesens Vorschläge für eine rasche Reform ausarbeiten. Enthalten ist in den ersten Vorschlägen so gut wie alles: höhere Gehälter, Investitionen in die Erneuerung der Infrastruktur, Verschlankung der Administration und möglicherweise neue regionale Schwerpunkte. Ein nicht nur zeitlich ambitioniertes Projekt, das den Staat zusätzliche Milliarden kosten wird.

Zu lange und zu oft im Spital?

Dabei gilt das französische Gesundheitswesen im europäischen Vergleich mitnichten als unterfinanziert: Frankreich wendet laut einem OECD-Bericht des vergangenen Jahres 11,2 Prozent des BIP für sein Gesundheitssystem auf und führt damit mit Deutschland die Liste der EU-Staaten an. Die Schweiz gibt mit 12,2 Prozent sogar noch mehr aus. Gleichzeitig müssen sich in Frankreich (und in der Schweiz) Krankenpflegerinnen mit einem unterdurchschnittlichen Gehalt zufriedengeben. Auch die Versorgung mit 3,2 Medizinern pro 1000 Einwohner ist in Frankreich tiefer als im EU-Durchschnitt (3,6). Die Kostentreiber sind daher nicht unbedingt die Personalkosten.

Franzosen müssen deutlich weniger aus ihrer eigenen Tasche bezahlen als ihre Nachbarn

Anteil der Gesundheitskosten an den Haushaltsausgaben in Prozent

Vielmehr deckt die öffentliche Krankenkasse fast alle Leistungen ab: Franzosen zahlen im Vergleich mit ihren europäischen Nachbarn am wenigsten aus der eigenen Tasche, wenn sie sich in Pflege begeben. Der Generika-Markt ist unterentwickelt. Die OECD stellte zudem fest, dass in Frankreich überdurchschnittlich viele Spitalaufenthalte durch bessere Prävention vermieden werden könnten und Patienten dort in der Tendenz (zu) lange bleiben. Auch deshalb werden im Reformplan von 2018 die Bestrebungen fortgesetzt, die kostspieligen Behandlungen aus den Spitälern in ambulante Institutionen umzuleiten. Die Bettenzahl nimmt ab, liegt aber immer noch über dem EU-Schnitt.

Rivalität zwischen privat und öffentlich

In der akuten Phase der Corona-Krise wurde in Frankreich oft der Vergleich mit Deutschland gezogen, im Besonderen, was die Zahl der Betten in Intensivstationen anbelangt. Frankreich verfügte am Anfang der Krise mit rund 5000 Plätzen in öffentlichen Spitälern nur über gut ein Fünftel der Kapazitäten des Nachbarlandes. Allerdings haben die Behörden rasch reagiert und die Zahl innert weniger Wochen mehr als verdoppelt.

Als äussert problematisch erwies sich vielmehr die zu Beginn fehlende Zusammenarbeit der privaten und der öffentlichen Spitäler. Rund 55 Prozent der etwas mehr als 3000 Einrichtungen im Land sind privat geführt; ihre 4000 Intensivbetten wurden von den Notfalldiensten lange ignoriert. Gerade im stark betroffenen Elsass wurden Patienten stattdessen zunächst ins nahe Ausland verlegt. Dieser Fehlleitung liegt eine traditionelle Rivalität zwischen privaten und öffentlichen Einrichtungen zugrunde. Die Notfalldienste, welche die Patienten abholen, steuern unter der Koordination der regionalen Gesundheitsämter in der Regel öffentliche Spitäler an. Von den öffentlichen Einrichtungen wird unter anderem als Begründung ins Feld geführt, private Einrichtungen seien weniger gut für Notfälle gerüstet.

Streik in Sicht?

Als der Regierungschef die Beratungen für die Reformen am Montag eröffnete, sprach er von der Notwendigkeit eines «grundlegenden Wandels». Mehr als 300 Interessengruppen sollen sich bei den Gesprächen einbringen – und einige beklagen bereits, nicht einbezogen zu werden. In der Hoffnung, einen für den 16. Juni angekündigten Streik abzuwenden, hat Edouard Philippe dem Pflegepersonal schon signifikante Gehaltserhöhungen versprochen. Doch an Geld allein wird der Patient nicht genesen. Der Chef der öffentlichen Spitäler in Paris, Martin Hirsch, forderte kürzlich in einem Interview, die Einrichtungen von ihrem Joch zu befreien. Und präzisierte, dass er damit nicht allein die finanziell angespannte Situation meint, sondern mindestens so sehr die überbordenden administrativen Vorschriften und Prozesse.