Eine Kaiserschnittgeburt in der Frauenklinik der Universität in Leipzig,
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Eine Kaiserschnittgeburt in der Frauenklinik der Universität Leipzig: Bundesweit finden in Sachsen die wenigsten OP-Geburten statt.

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Kaiserschnitt: Warum haben wir so viele Eingriffe?

Kaiserschnitt-Geburten haben sich hierzulande seit den 1990er-Jahren verdoppelt, Experten halten die Zahl der Eingriffe für zu hoch. Da deren Ursache vielfältig ist, gibt eine neue Leitlinie nun Empfehlungen, wann zur Sectio geraten werden soll.

Über dieses Thema berichtet: IQ - Wissenschaft und Forschung am .

Das hätte sich Jeremias Trautmann vor rund 400 Jahren sicher nicht träumen lassen. Die Operation, die der Arzt aus Wittenberg 1610 erstmals erfolgreich an einer lebenden Frau (damals noch ohne Narkose) durchführte, gilt heute als Standard-Eingriff: der Kaiserschnitt. Rund 30 Prozent aller Geburten in Deutschland finden nach Berechnungen des Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) nicht im Kreißsaal, sondern auf dem OP-Tisch statt. Dabei unterscheiden sich die Zahlen zwischen den Bundesländern erheblich: Während Sachsen 2017 die niedrigste Kaiserschnittrate mit 24 Prozent aufwies, meldete das Saarland 37,2 Prozent Sectio-Geburten.

Weniger Kaiserschnitte begrüßenswert

Viele Experten aus dem Bereich der Geburtshilfe halten eine niedrige Kaiserschnittrate für begrüßenswert – auch wenn ein optimaler Prozentsatz nicht existiert. Die WHO nimmt an, dass eine Kaiserschnittrate von bis zu zehn Prozent die Sterblichkeit von Müttern und Kindern insgesamt senkt. Über diesen Anteil hinaus sieht die Organisation keinen positiven Einfluss auf die mütterliche und kindliche Todesrate unter der Geburt.

Zehn Prozent medizinisch zwingend

Tatsächlich werden nur zehn Prozent aller Kaiserschnitte in Deutschland aufgrund zwingender medizinischer Gründe vorgenommen, um das Leben der Mutter oder des Kindes zu retten. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sich das Kind in Querlage befindet, wenn die Gebärmutter zu reißen droht oder die Plazenta den Geburtskanal verschließt. Zu den häufigsten medizinischen Indikationen für einen Kaiserschnitt zählen in Deutschland laut IQTIG-Bundesauswertung ein Kaiserschnitt bei einer vorangegangenen Geburt, auffällige Herztöne des Kindes und ein verzögerter Geburtsverlauf.

Abwägen individuell notwendig

Der weit überwiegende Anteil von 90 Prozent der durchgeführten Kaiserschnitte in Deutschland gelten aus medizinischen Gründen nicht als zwingend. Es gibt also Handlungsspielraum, Vor- und Nachteile des Eingriffs müssen abgewogen werden:

"Einen risikofreien Geburtsmodus gibt es nicht. Ein Kaiserschnitt bringt ein erhöhtes Komplikationsrisiko für eine nachfolgende Schwangerschaft mit sich. Auch der fehlende Kontakt des Kindes mit der mütterlichen Scheidenflora bei der geplanten Kaiserschnittentbindung scheint einen negativen Einfluss auf die spätere Gesundheit des Kindes zu haben." Prof. Dr. Jörg Kessler, Professor und Oberarzt in der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie, Haukeland Universitätsklinikum Bergen, Norwegen

Neue Leitlinie zum Kaiserschnitt

Um künftig für mehr Klarheit zu sorgen, wann Geburtshelfer einer Schwangeren zu einem Kaiserschnitt raten sollen und wann nicht, hat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe jetzt die erste S3-Leitlinie zum Kaiserschnitt veröffentlicht. Diese Leitlinie stellt den aktuellen Stand des Wissens über ein Fachgebiet zusammen und formuliert klare Handlungsempfehlungen für die Beratung und Behandlung der Schwangeren. S3-Leitlinien müssen höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, insbesondere ist eine systematische Recherche, Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Belege („Evidenz“) gefordert.

"Ich denke, die neue Kaiserschnittleitlinie ist wichtig für Deutschland, weil sie eine der wenigen S3-Leitlinien in der Geburtshilfe und Gynäkologie ist, von einem hochkarätigen multidisziplinären Team geschrieben wurde und das aktuelle mit Evidenz belegte Wissen zusammenfasst. Ich halte die Leitlinie für gut gelungen, da ihr eine sehr profunde Literaturrecherche zugrunde liegt." Prof. Dr. Holger Stephan, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Leipzig

Schwierige Datenlage

Zugleich weist der Leipziger Geburtsmediziner Holger Stephan darauf hin, dass einige Aussagen und Empfehlungen der neuen Leitlinie sehr vorsichtig formuliert sind. Der Grund: die schwierige Datenlage. Zwar gibt es aus den vergangenen Jahrzehnten eine immense Zahl von Studien zu Risiken von Kaiserschnitt und vaginaler Geburt, die für die aktuelle Leitlinie von Cochrane Deutschland, dem Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) und dem Institut für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM) aufbereitet wurde. Doch verfügt ein Großteil der einbezogenen Forschungsarbeiten, so die Leitlinie, nur über sehr geringe, geringe oder moderate wissenschaftliche Beweiskraft.

Beispiel: Beckenendlage

So weist die Leitlinie beispielsweise darauf hin, dass das Risiko einer vaginalen Geburt bei Beckenendlage erheblich davon beeinflusst wird, wie viel Erfahrung die Geburtshelfer mit Beckenendlagen haben und wie sorgfältig die Auswahl der betroffenen Schwangeren durchgeführt wird, die für eine vaginale Geburt in Frage kommen.

"Eine vaginale Geburt bei Beckenendlage (BEL) ist sicher, wenn keine Kontraindikation für diese vorliegt und ein erfahrener Geburtshelfer die Geburt betreut. Ich denke, das sind erst einmal die gleichen Bedingungen, die wir auch für eine Geburt mit einem Kind in Schädellage erwarten." Dr. Georg Macharey, Leitender Oberarzt der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie, Helsinki University Hospital, Finnland

Vielfältige Gründe jenseits der Medizin

Fragt man Experten, warum hierzulande dennoch so viele Schwangere per Kaiserschnitt entbinden, werden neben medizinischen Gründen, wie in der Leitlinie diskutiert, auch eine Reihe anderer Faktoren genannt.

"Ursachen für die hohe Sectio-Rate in Deutschland sind meiner Meinung nach die mangelnde Ausbildung und Organisation, dazu zählt auch Vergütung und Personalschlüssel, sowie der juristische Druck." Dr. Patricia Van de Vondel, Chefärztin der Frauenklinik, Krankenhaus Porz am Rhein, Köln

Individuelle, organisatorische und finanzielle Faktoren

Zum einen sind da die individuellen Wünsche, Sorgen und Ängste, die werdende Mütter zu einer Kaiserschnittgeburt tendieren lassen. Schätzungen zufolge wünschen sich weltweit zehn Prozent der Frauen einen geplanten Kaiserschnitt, ohne dass eine medizinische Indikation dafür vorliegt. Ob der Wunsch der Frauen ohne Weiteres akzeptiert wird oder ausführliche Beratungsgespräche stattfinden, ist von Klinik zu Klinik unterschiedlich. Viele Geburtshelfer verweisen auf den enormen Zeitaufwand für solche Gespräche - das sei organisatorisch, bei der häufig dünnen Personaldecke, eine Herausforderung.

Teure Klagen

Des Weiteren nennen Experten organisatorische, finanzielle und auch juristische Gründe für die häufigere Durchführung von Kaiserschnitten. Diese sind besser zu planen, besser vergütet als langwierige vaginale Geburten und binden weniger Personal. Zudem werden Kliniken und Ärzte eher wegen der Komplikationen einer vaginalen Geburt verklagt als wegen eines überflüssigen Kaiserschnitts. Bei erfolgreicher Klage sind die Schadensfälle zudem extrem teuer.

Robson-Score wird empfohlen

Da die Zahl sämtlicher Kaiserschnitte wenig darüber verrät, was die Hintergründe der einzelnen Operationen sind, empfiehlt die Leitlinie, den sogenannten "Robson-Score" systematisch einzuführen. Auch die WHO hatte den Score zuvor bereits empfohlen. Der Robson-Score sieht eine Unterteilung der Schwangeren in zehn Gruppen vor, je nachdem, in welcher geburtshilflichen Ausgangssituation sie sich befinden. Geht es um eine termingerechte Geburt oder um eine Frühgeburt? Liegt das Kind in Schädel-, Steiß- oder Querlage? Handelt es sich um eine Erst- oder Mehrgebärende? Hat die Schwangere bereits einen Kaiserschnitt hinter sich?

Deutscher Robson-Score unzureichend

Wenn vaginale Geburten und Schnittentbindungen nach dieser Klassifikation eingeordnet werden, sind die Gründe für Kaiserschnitte deutlicher zu sehen. Zwar werden in Deutschland Kaiserschnitte bislang schon auf Landes- und Bundesebene nach dem Robson-Score aufgeschlüsselt veröffentlicht – allerdings bislang überwiegend unvollständig und deshalb für Analysezwecke wenig brauchbar.

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