Die wundersame Wiederauferstehung des Spitals Dielsdorf

1999 schloss das Bezirksspital Dielsdorf seine Pforten, trotz hartem Widerstand. Doch das Ende ermöglichte einen Neuanfang als umfassendes Gesundheitszentrum.

André Müller (Text), Christoph Ruckstuhl (Bilder)
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In Dielsdorf wird wieder operiert: An der Adus-Klinik, die sich auf Schultern-, Knie- oder Hüftbehandlungen spezialisiert hat.

In Dielsdorf wird wieder operiert: An der Adus-Klinik, die sich auf Schultern-, Knie- oder Hüftbehandlungen spezialisiert hat.

In den Zürcher Spitälern geht die Nervosität um: Im Sommer 2022 wird der Kanton seine neue Spitalliste präsentieren. Wer rausfliegt, erhält keine Beiträge mehr vom Staat – das Ende für fast jedes Akutspital. Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli will das Update der Liste trotz Corona-Krise nicht weiter verschieben. Zu kämpfen hat speziell das kleine Spital Affoltern, aber auch andere können sich nicht sicher sein: Wie weiter, wenn uns der Kanton den Leistungsauftrag entzieht?

Neuanfang ist möglich

Ein Blick nach Dielsdorf zeigt, dass ein Ende auch Chancen für einen Neuanfang bieten kann. Das kleine Bezirksspital verschwand 1999 nach turbulentem Abwehrkampf, der erst vor Bundesgericht endete. Von Tristesse ist heute jedoch nichts mehr zu spüren: An der Breitestrasse werden wieder Schultern und Knie operiert und alte Pflegepatienten umsorgt. Das Gesundheitszentrum bringt Hunderte von sicheren Arbeitsplätzen ins Dorf, ist wichtiger Kunde lokaler Zulieferer und Treffpunkt für die Bevölkerung.

Markus Sprenger leitet das Gesundheitszentrums Dielsdorf seit der Spitalschliessung.

Markus Sprenger leitet das Gesundheitszentrums Dielsdorf seit der Spitalschliessung.

PD

Doch der Weg zurück war beschwerlich, der Kampf ums Spital hatte das Vertrauen zwischen den Gemeinden und den Führungsgremien des Spitals zerstört. «Es wurde damals mit harten Bandagen gekämpft», sagt Markus Sprenger, der heutige Leiter des Gesundheitszentrums. Er kam 1999 nach Dielsdorf, als letzter Spitaldirektor, der das Ende des Bezirksspitals über die Bühne bringen musste. «Ich erfuhr erst an meiner Wahl im Februar 1999 davon, dass das Spital geschlossen werden soll», sagt er.

1993 stand der Kanton Zürich finanziell schlecht da. Gesundheitsdirektor Ernst Buschor begann, seine Regionalspitäler genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie waren zu klein, zu schlecht ausgelastet und arbeiteten folglich pro Patient viel zu teuer. Die Gesundheitsdirektion fällte den mutigen, aber unpopulären Entscheid, zehn Regionalspitälern die Subventionen zu streichen und sie von der Spitalliste zu nehmen.

Auch das Bezirksspital Dielsdorf sollte verschwinden. Es war in der Bevölkerung zwar beliebt, diese suchte im Ernstfall aber oft ein grösseres Spital auf – ein Dilemma, das auch heute noch kleine Krankenhäuser wie Affoltern umtreibt. Die Dielsdorfer Geburtenabteilung, die Operationssäle und die Notfallstation waren nicht ausgelastet. Die Spitalleitung wollte die Löcher mit neuen Leistungsaufträgen stopfen, doch der Kanton lehnte das Gesuch ab, einen Augenarzt nach Dielsdorf zu holen.

Der damalige Spitaldirektor Richard Bisig handelte für Dielsdorf in der Folge eine gute Lösung mit Buschor aus – dachte er. Das Bezirksspital würde durch eine Akut-Neurorehabilitation ersetzt: Patienten aus dem ganzen Kanton hätten sich in Dielsdorf von Gehirnoperationen erholt, was viele Arbeitsplätze gesichert hätte. Die Grundversorgung hätten die nahen Schwerpunktspitäler Bülach und Limmattal sichergestellt.

Doch für viele Dielsdorfer und die Ärzteschaft waren diese Pläne ein Affront: Das stolze Bezirksspital bereitete sich gerade auf seinen 100. Geburtstag vor. Der Leidensdruck im Gesundheitswesen war geringer, die Krankenkassenprämien waren viel tiefer als heute. Viele glaubten daher, der Kanton bluffe bloss, er würde sicher kein Spital schliessen.

Die Bevölkerung erfuhr 1994 von den noch nicht ganz druckreifen Plänen, als ein Arzt dem «Zürcher Unterländer» ein freimütiges Interview gab. Die Neuigkeiten kamen nicht gut an. Rasch entstanden Unterstützervereine fürs Akutspital, die Mitglieder machten in den Kommentarspalten des Unterländers Stimmung gegen die Neurorehabilitation. Dabei zielten sie auch direkt gegen die Verantwortlichen wie Direktor Bisig. Diese wollten ohne Not ihr Spital aufgeben, hiess es, dabei habe die Region jetzt schon die tiefste Bettendichte. Zudem überschätzten die Befürworter die Kosten, um das Spital zu erhalten.

Die Adus-Klinik ist im Zuge der Spitalschliessung in Dielsdorf entstanden und steht heute wieder auf der Spitalliste des Kantons.

Die grosse Mehrheit der 22 Gemeinden im Zweckverband des Spitals lehnten in der Folge die Umwandlung ab. Die Spitalbefürworter gewannen, lagen in einem Punkt aber falsch: Der Kanton strich tatsächlich die Subventionen und forderte gar Mittel für Investitionen zurück, die er im Hinblick auf den Start der Neurorehabilitation eingesetzt hatte.

Der emotionale Abstimmungskampf verunmöglichte es nun, andere Optionen in Betracht zu ziehen. Während die Regionalspitäler in Bauma, Rüti oder Wald dichtmachten, arbeiteten die Dielsdorfer vorerst ohne kantonale Subvention weiter. Jedoch unter neuer Führung: Spitaldirektor Bisig ging, auch im Aufsichtsgremium kam es zu vielen Rochaden. Wer sich prominent für die Neurorehabilitation eingesetzt hatte, überliess das Feld den Siegern.

Die Entfernung von der Spitalliste fochten die Dielsdorfer bis vor Bundesgericht an, ohne Erfolg. 1999 schloss das Bezirksspital. «Der Wegfall der Leistungsaufträge hätte das jährliche Defizit von 2 auf vielleicht 6 Millionen Franken erhöht», sagt Markus Sprenger. Auch die glühendsten Spitalbefürworter mussten sich der kalten wirtschaftlichen Logik fügen: Die Gemeinden konnten sich ihr Spital nicht leisten.

Zukunftswahl Pflegeheim

Markus Sprenger übernahm die Leitung des Hauses in dieser ungemütlichen Situation. Erst durfte er den Betrieb einzig auf Zusehen hin weiterführen, ohne grosse Investitionen zu tätigen. Schrittweise konnte er die Gemeinden aber überzeugen, dass es in der Region an Pflegeplätzen mangelte und das damalige Krankenheim ausgebaut und erneuert werden könnte.

Das Gerichtsurteil machte allen klar, dass es kein Zurück in alte Zeiten gab. Das half Sprenger dabei, die zerstrittenen Beschlussgremien zu einen. Zusammen mit dem Kanton erarbeitete man eine erste Studie, welche den künftigen Pflegeplatzbedarf nach Region abschätzte; fürs Unterland errechnete man damals rund 500 zusätzliche Plätze. Die Prioritäten wurden umgekehrt: Aus dem kleinen Krankenheim im Spital wurde, dank einer Generalsanierung 2001, ein modernes Pflegeheim.

Im Gesundheitszentrum Dielsdorf sind nebst dem Pflegeheim zahlreiche Ärzte und Gesundheitsdienstleister einquartiert, was Synergien schafft.

Im Gesundheitszentrum Dielsdorf sind nebst dem Pflegeheim zahlreiche Ärzte und Gesundheitsdienstleister einquartiert, was Synergien schafft.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Unter dem Dach des Gesundheitszentrums Dielsdorf mieteten sich nun wieder Augenärzte, eine Physiotherapiepraxis und eine Radiologin ein. Auch die chirurgische Tagesklinik blieb, die schon 1998 als Adus Medica AG von der Ärzteschaft selbst privatisiert worden war. Die Klinik buchte Leistungen beim GZ und half zum Beispiel mit, die Wäscherei und die Küche auszulasten.

Der Unterstützerverein «Pro Spital» stellte sich hinter die Pläne, und die Standortgemeinden waren bereit, Millionen ins Pflegeheim zu investieren. Zugute kam dem Spital, dass es über grosse Landreserven verfügte. «Der Kanton hat die Spitäler noch in den 1980er Jahren angewiesen, solche Reserven für mögliche Erweiterungen anzulegen», sagt Sprenger. Dieses Land konnte man in Dielsdorf gewinnbringend verkaufen und den Erlös in die Rundumerneuerung des alternden Pflegezentrums stecken. Aus der Cafeteria wurde etwa das öffentliche Restaurant «Giardino», das heute zu 60 Prozent von Externen genutzt wird.

Die Strategie bewährte sich, und 2012 schaffte es die Adus-Klinik mit einigen Leistungsaufträgen sogar wieder auf die Spitalliste. Die Gesundheitsdirektion setzte unter Thomas Heiniger darauf, dass auch spezialisierte, kleinere Kliniken günstig und gut arbeiten können.

Nicht nur Zürcher Patienten

Die Adus-Klinik wurde 2017 an ein Zürcher Ärzteteam verkauft, das Operationssäle für seine Patienten suchte. Heute arbeiten zwei Dutzend Belegärzte in Dielsdorf. Viele sind auf Eingriffe im Bewegungsapparat spezialisiert, angeboten werden aber auch Bereiche wie Hals-, Nasen- und Ohrenchirurgie oder Gynäkologie. Das Konzept gehe auf, sagt der ärztliche Direktor und Verwaltungsratspräsident Christoph Erggelet: «Hier haben wir den ganzen Ablauf der Behandlung unter Kontrolle.» Als Gast in einem anderen Spital hätten sie stets das Problem, dass die Abläufe nicht so gut eingespielt seien.

Die neuen Eigentümer planten zunächst, vor allem ihre Zürcher Patienten in Dielsdorf zu operieren. «Doch drei Viertel unserer Patienten kommen aus der Region», sagt Erggelet. 2019 habe man bereits 2500 Patientenkontakte gezählt. «Das zeigt, dass unser Angebot von der Bevölkerung angenommen wird.»

Keine Schlafgemeinde

Mit der neuen Führung schwächte sich die Verbindung von Klinik und Dorfbevölkerung ab: Erggelets Vorgänger war eines der bekanntesten Gesichter des Widerstands gegen die Spitalschliessung gewesen. Zahlreiche Dorfbewohner hielten früher Aktien der Adus-Klinik, inzwischen haben die meisten ihre Anteile verkauft. Der einst tonangebende Unterstützerverein hat sich, mangels Zweck, aufgelöst. Die Spitalschliessung sei im Dorf kein Thema mehr, sagt auch der langjährige Dielsdorfer Finanzvorsteher Severin Huber, der die Delegiertenversammlung des GZ präsidiert.

Der Gemeinde bringe das Gesundheitszentrum zahlreiche Vorteile: «Dielsdorf wird als regionales Zentrum gestärkt», sagt Huber, einerseits durch die Gesundheits- und Pflegeangebote mitten im Dorf, andererseits durch die 400 Mitarbeitenden des GZ und seiner Mieter. «Unser Dorf hat nicht zuletzt deshalb einen für das Unterland hohen Anteil von etwa 0,6 Arbeitnehmern pro Einwohner.»

Huber erwähnt aber auch die damit einhergehenden Zentrumslasten: Dem Mehrverkehr begegne man seit kurzem damit, dass die Buslinie vom Bahnhof Dielsdorf nach Regensdorf direkt am GZ halte. Vereinzelt zögen ältere Personen auch bewusst nach Dielsdorf, um später ins nahe Pflegeheim übersiedeln zu können. Weil in Zürich die Gemeinden für einen grossen Teil der Pflegekosten aufkommen, könnte das für Dielsdorf mit der Zeit teuer werden.

Heuer feiert das «Spital» Dielsdorf seinen 125. Geburtstag. Kommunikativ setzt man also auf Kontinuität. Markus Sprenger sagt, man helfe gerne mit der eigenen Erfahrung anderen Spitälern und Betrieben bei einer Umnutzung. Er sieht in der starken lokalen Verankerung der Regionalspitäler einen grossen Vorteil, den es zu nutzen gelte.

Viele sprächen in Dielsdorf noch heute vom «Spital», wenn sie über das Gesundheitszentrum redeten, sagt Sprenger. «Zum Teil kommen heute noch Leute mit blutendem Finger an den Empfang und fragen, wo der Notfall sei.» Gefragt werde auch, ob man in Dielsdorf noch immer gebären könne – über zwanzig Jahre nach der Schliessung der Geburtenabteilung.

«Das Angebot und die Behandlungsqualität sind wichtig, nicht die Trägerschaft oder der Briefkopf», sagt Sprenger. Auch die Mieter profitierten «vom hervorragenden Ruf, den sich das Spital über Jahrzehnte aufgebaut hatte». Für sie sei man bestrebt, faire Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Win-win-Situationen entstünden und man gemeinsam wertvolle Dienstleistungen für die Öffentlichkeit erbringen könne.

Unsicherheit bleibt

Der Gesundheits-Cluster in Dielsdorf steht dennoch vor Herausforderungen. Erstens ist nur schwer vorherzusehen, wie sich der Bedarf an Pflegeplätzen in den nächsten Jahren entwickelt, da auch Private solche anbieten dürfen und viele Ältere lieber zu Hause wohnen als im Heim. Zweitens könnte der Kanton der Adus-Klinik die Leistungsaufträge entziehen – oder mit Änderungen im Spitalplanungs- und Finanzierungsgesetz das Belegarztsystem über den Haufen werfen. Und schliesslich verursacht die Corona-Krise hohe Kosten im ganzen Gesundheitssystem, die noch nicht komplett verteilt worden sind.

«Natalie Rickli sagte ausdrücklich, dass auch für kleine spezialisierte Kliniken Platz wäre auf der Spitalliste 2023. Das gibt uns Hoffnung», sagt Christoph Erggelet. Der Gesundheitsdirektion gehe es um Qualität, Wirtschaftlichkeit und Bedarf – was die Adus-Klinik in ihren Bereichen gewährleisten könne. «Es müsste eine ausschliesslich politisch motivierte Entscheidung sein, uns von der Liste zu streichen. Das könnte aber passieren.»

Katrin Grosse ist die Geschäftsleiterin der Adus-Klinik.

Katrin Grosse ist die Geschäftsleiterin der Adus-Klinik.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Für die Adus-Geschäftsführerin Katrin Grosse macht es die Unsicherheit schwierig, Investitionsentscheide zu treffen. Man habe sich für die Einführung des elektronischen Patientendossiers, wie alle Zürcher Spitäler, der Axsana angeschlossen. Allerdings behält die Klinik vorerst die eigene Patientenverwaltung, jeder Fall wird einzeln ins System geladen. «Unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ist es nicht sinnvoll, einen sechsstelligen Frankenbetrag für eine Vollangliederung auszugeben, nur um kurze Zeit später vielleicht zu erfahren, dass wir nicht mehr auf der Spitalliste stehen», sagt Grosse.

Als kleiner, inhabergeführter Betrieb sei man allerdings im Einkauf und bei der Personalplanung flexibler und könne daher auch schneller auf Veränderungen reagieren als grosse Spitäler. Dennoch: Von der Publikation der Spitalliste und deren Inkrafttreten 2023 dauere es nur ein halbes Jahr, das sei schon sehr wenig Zeit.

Ein Verlust der Leistungsaufträge für die Adus-Klinik würde auch das GZ und Dielsdorf treffen. «Unsere Vorhänge sind von einer Schneiderin aus dem Dorf, die Tische von einem lokalen Möbelgeschäft», sagt Grosse. Für Prognosen, welches Spital es «treffen» wird, ist es noch zu früh. Für Dielsdorf wäre die Schliessung immerhin kein Neuland.