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Eine Ärztin verklagt das Inselspital auf 5 Millionen Franken – wegen Diskriminierung und Zerstörung ihrer Karriere

Die prominente Medizinerin Natalie Urwyler wagt einen bisher einzigartigen Schritt. Gewinnt sie den Fall, hätte er Modellcharakter im Kampf gegen die Benachteiligung von Frauen.

Regula Freuler, Andrea Kučera 9 min
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Diese Woche hat die 46-jährige Ärztin Natalie Urwyler eine Schadenersatzklage gegen das Berner Inselspital eingereicht.

Diese Woche hat die 46-jährige Ärztin Natalie Urwyler eine Schadenersatzklage gegen das Berner Inselspital eingereicht.

Dominic Steinmann

Mit fünf Millionen Franken könnte man sich eine Villa am Zürichsee kaufen oder eine griechische Insel. Fünf Millionen Franken ist aber auch der Betrag, der Natalie Urwyler angeblich als Lohn entgeht – weil sie eine Frau sei, sagt sie.

Diese Woche hat die 46-jährige Ärztin eine Schadenersatzklage gegen das Berner Inselspital eingereicht. «Sie haben meine Karriere ruiniert», sagt Urwyler. Zusammen mit ihrem Anwalt hat sie ausgerechnet, wie viel Geld ihr bis zum Lebensende entgeht, weil sie 2014 missbräuchlich vom Inselspital entlassen wurde: 3,9 Millionen Franken beträgt laut ihren Berechnungen der Erwerbsschaden bis zur Pensionierung. Dazu kommen 900 000 Franken weniger AHV- und Pensionskassengelder.

Knapp fünf Millionen Franken sei also die Differenz zwischen dem Einkommen, das sie hätte erzielen können, wenn sie Chefärztin und damit Professorin geworden wäre, und dem Geld, das sie nun unter beeinträchtigten Karrieremöglichkeiten effektiv einnehmen werde. Ob das Spital ihr diese Summe bezahlen muss, wird voraussichtlich das Regionalgericht Bern-Mittelland entscheiden.

Die Klage könnte zu einem Präzedenzfall führen. Urwyler ist die erste Frau, die wegen Geschlechterdiskriminierung Schadenersatz für ihre verhinderte Karriere fordert. Bekommt sie recht, hätte das Urteil Signalwirkung. Das ist auch die Absicht von Urwyler: «Ich will, dass eine verhinderte Frauenkarriere ein Preisschild erhält.»

Missbräuchliche Kündigung

Lange verlief die Karriere von Natalie Urwyler wie am Schnürchen: Medizinstudium, Doktorat, Assistenz, Forschungsstelle an der renommierten Stanford-Universität in Kalifornien, Habilitation und schliesslich ein unbefristeter Anstellungsvertrag als Oberärztin an der Klinik für Anästhesiologie und Schmerztherapie des Inselspitals Bern.

Urwyler praktizierte, forschte, lehrte. Sie erarbeitete begehrte Forschungsgelder. Ein Chefarztposten und damit eine Professur an der Uni Bern wäre der nächste logische Karriereschritt gewesen.

Doch dann kam es zum Zerwürfnis. 2014 kündigte ihr das Inselspital «aufgrund eines komplett zerrütteten Vertrauensverhältnisses». Sie sei illoyal und nicht in der Lage, sich in hierarchische Strukturen einzugliedern, hiess es in der Begründung. Zudem überschätze sie ihre Fähigkeiten. Dabei hatte Urwyler noch im September 2012 in einem Mitarbeitergespräch eine sehr gute Bewertung erhalten, man hatte ihr damals Führungspotenzial attestiert.

Was das Verhältnis zu ihrem ehemaligen Chef trübte: Urwyler hatte sich mehrfach für mehr Mutterschutz und Gleichstellung in ihrer Klinik eingesetzt. «Schwangere haben bis zu 80 Stunden in der Woche gearbeitet», sagt sie – obwohl das gesetzliche Maximum bei 45 Wochenstunden liegt.

Eine wissenschaftliche Untersuchung zum Berner Inselspital bestätigt solche Zustände. Urwyler selbst erlitt im Herbst 2012 während einer Nachtschicht eine Fehlgeburt. Weil niemand sie ablösen konnte, hatte sie noch drei Nächte lang weitergearbeitet.

Bald darauf wurde sie wieder schwanger und bekam 2013 eine Tochter. Ihren Antrag, das Pensum nach dem Mutterschaftsurlaub auf 80 Prozent zu reduzieren, lehnte das Inselspital ab – und strich ihr ausserdem die Forschungs- und Lehrtätigkeit.

Um nicht arbeitslos zu bleiben, entschloss sie sich, in einem anderen Fachgebiet nochmals von vorne anzufangen.

Urwyler legte eine aufsichtsrechtliche Beschwerde gegen den Klinikdirektor ein. Fünf Monate später kam die Kündigung. Urwyler klagte auf Missachtung des Gleichstellungsgesetzes. Und setzte sich durch: Im November 2017 urteilte das Regionalgericht Bern-Mittelland, es handle sich um eine Rachekündigung, sieben Monate später bestätigte auch das Obergericht diesen Sachverhalt.

Das Inselspital musste die Kündigung rückgängig machen und ihr 465 000 Franken Lohn nachzahlen. Der Fall machte schweizweit Schlagzeilen. Urwyler erhielt den Prix Courage der Zeitschrift «Beobachter» für ihren Kampf für Gleichstellung.

Doch statt die Ärztin wieder arbeiten zu lassen, stellte das Inselspital sie frei. «Seit der Eröffnung des Urteils wurde ich weder von der Universität Bern noch vom Inselspital eingesetzt, trotz mehrmaligem Angebot meiner Arbeitsleistung», sagt Urwyler. «Das Urteil wurde nicht umgesetzt, die Insel-Gruppe hält damit die Schweizer Verfassung nicht ein.»

In dieser Situation sei es ihr nicht möglich, ihre akademische Laufbahn weiterzuführen. Auf eine erneute Klage hat sie verzichtet, weil ihr damals das Geld fehlte. Doch warum ging sie nicht an ein anderes Universitätsspital? «Ich wohne im Wallis, meine Tochter hat dort einen Kitaplatz und mein Mann eine Stelle als leitender Arzt.» Bern sei von ihrem Wohnort erreichbar. «Wäre ich woanders hingegangen, hätte ich die Familie auseinandergerissen.»

Nach der Kündigung musste Urwyler rund vier Monate stempeln. Auf Bewerbungen an anderen Spitälern erhielt sie keine Antworten. «Mein Leistungsausweis war erstklassig, dennoch fand ich keine Stelle, weil das Inselspital verbreitete, ich sei eine schwierige Person», sagt sie.

Um nicht arbeitslos zu bleiben, entschloss sie sich, als Assistenzärztin in einem anderen Fachgebiet nochmals von vorne anzufangen. Seit 2015 arbeitet sie nun im Spital Wallis, zunächst in der Intensiv- später in der Inneren Medizin. Seit einem Jahr ist sie dort wieder als Leitende Ärztin in ihrem angestammten Fachgebiet tätig, der Anästhesie.

Bis heute ist Urwyler aber auch offiziell am Inselspital angestellt. Aufgrund des Urteils wäre das Spital noch immer zu Lohnfortzahlungen verpflichtet, genauer gesagt zur Zahlung der Differenz vom früheren zu ihrem Lohn im Wallis. Das sei aber nur teilweise erfolgt, sagt sie.

«Allen muss bewusst werden, was es die Volkswirtschaft kostet, wenn man Frauen ausbremst.»

Das Inselspital bestreitet in einer Stellungnahme, dass es negative Aussagen zulasten von Urwyler verbreitet habe. Dem Spital sei auch keine Lehranfrage von Urwyler bekannt, schreibt die Kommunikationsabteilung. Sie räumt aber ein, dass die Planung der Lehre in der Kompetenz der Universität und nicht in der des Spitals liege.

Zum Vorwurf, das Spital habe die Karriere von Urwyler zerstört, heisst es in der Stellungnahme: «Es gibt unterschiedliche Wege für akademische Karrieren.» Man könne sich auch ausserhalb des Universitätsspitals akademisch weiterqualifizieren. Zudem habe das Spital Natalie Urwyler in ihrer «aktiven Zeit bis und mit März 2013» in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit gefördert. Der März ist der Zeitpunkt, ab dem Urwyler aufgrund ihrer Schwangerschaft mehrheitlich krankgeschrieben war.

Urwyler will das System ändern, in dem solche Dinge geschehen – ein System, das angeblich Frauen und insbesondere Mütter aus dem Erwerbsleben drängt. «Allen muss bewusst werden, was es die Volkswirtschaft kostet, wenn man Frauen ausbremst», sagt Urwyler. «Das können wir uns in Anbetracht des Fachkräftemangels gar nicht mehr leisten.»

Mut gemacht hat ihr der Fall der ehemaligen Nestlé-Kaderfrau Yasmine Motarjemi: Vor bald zehn Jahren verklagte die gebürtige Iranerin Nestlé, weil der Konzern sie nicht gegen das jahrelange Mobbing durch ihren Vorgesetzen geschützt und stattdessen entlassen habe.

Sie forderte einen symbolischen Franken Genugtuung und rund zwei Millionen für den entgangenen Lohn und den Rentenschaden. Im Januar bekam Motarjemi in zweiter Instanz überraschend recht: Nestlé wurde schuldig gesprochen und zu Schadenersatzzahlungen verpflichtet – in welcher Höhe, ist noch offen.

Motarjemi stützte ihre Klage auf das Arbeitsgesetz, Urwyler hingegen beruft sich auf das Gleichstellungsgesetz. Unterstützt wird sie von einem Komitee mit Persönlichkeiten aus der Politik, darunter SP-Ständerat Paul Rechsteiner, CVP-Frauen-Präsidentin Babette Sigg und die frühere SP-Ständerätin Anita Fetz. Diese sagt: «Immer wieder hört man, die Frauen wollten doch gar nicht nach oben. Der Fall Urwyler zeigt, dass dem nicht so ist.»

Natürlich gibt es auch Ärztinnen, die ihren Beruf aufgeben, weil sie mehr Zeit mit der Familie verbringen wollen als mit der Karriere. Recherchen zeigen aber, dass der Fall Urwyler bei weitem kein Einzelfall ist.

27 Prozent weniger Lohn als Männer

Die «NZZ am Sonntag» hat mit einer Assistenzärztin aus dem Kanton Bern gesprochen, die mit 27 Jahren schwanger wurde und nach der Geburt zweieinhalb Jahre lang erfolglos eine Teilzeitstelle als Anästhesistin suchte.

Anfangs war sie noch optimistisch. «Man bekommt schliesslich nicht jede Stelle, die man will», sagt die junge Frau, die anonym bleiben will. Sie bewarb sich in allen Spitälern im Umkreis von hundert Kilometern von ihrem Wohnort – und bekam nur Absagen.

Dabei schreibt der Dachverband der Schweizer Ärzte (FMH), man könne die Ausbildung zum Facharzt Anästhesie auch mit einem 50-Prozent-Pensum machen. «Ich bin doch keine schlechtere oder weniger motivierte Ärztin, nur weil ich Teilzeit arbeiten will», sagt sie. Schliesslich gab sie auf und wechselte das Fachgebiet.

Seit einem Jahr bildet sie sich zur Zahnärztin weiter. Hier sind Teilzeitmodelle längst Standard. Die Erfahrung aus der Anästhesie aber beschäftigt sie noch heute: «Wenn man mir sagt, ich sei zu früh Mutter geworden, macht mich das wütend», sagt sie. «Was wäre denn die Alternative? Voll arbeiten bis 35, dann Kinder bekommen und zurücktreten, damit die Männer Karriere machen können?»

Die «NZZ am Sonntag» hat mit weiteren Ärztinnen aus anderen Schweizer Spitälern gesprochen. Sie alle zeichnen ein ähnliches Bild: Bei Berufungsverfahren würden Männer vorgezogen, Frauen würden bei der Bewerbung nach ihrem Privatleben und der Familienplanung gefragt und erhielten weniger Lohn angeboten als Männer.

Letzteres bestätigt eine Studie des Bundesamtes für Gesundheit aus dem Jahr 2015. Das Durchschnittseinkommen der Ärztinnen liegt tiefer als dasjenige der Ärzte, und zwar schon beim Abschluss des Facharzttitels. Die Lohndifferenzen steigen dann während 12 bis 13 Jahren sukzessive an. Im Schnitt verdienen Ärztinnen 27 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.

«Es ist ein System wie in einem Herrenklub», sagt eine Oberärztin

Wer sich gegen diese Ungleichbehandlung wehre, werde als «überzogen» und «schwierig» auf die Ränge verwiesen und auf verschiedene Weise benachteiligt, sagen Betroffene. «Es ist ein System wie in einem Herrenklub», erklärt eine habilitierte Oberärztin, die ebenfalls anonym bleiben will. «Die Beziehungen sind oft wichtiger als die Qualifikation.»

Sibyl Schädeli kennt Hunderte solcher Geschichten. Sie hat sich als Coach auf Frauenkarrieren konzentriert: «Fast jede Woche berate ich eine Ärztin, die am beruflichen Aufstieg gehindert oder lohnmässig diskriminiert wird.»

Meist kommt es zum Karriereknick im Zusammenhang mit der Mutterschaft: «Wer in die Chefetagen vorstossen will, muss gleichzeitig klinisch arbeiten, also Patienten behandeln, und forschen. Das allein ist schon eine Doppelbelastung. Dazu kommt dann noch die Familie – alles im selben Lebensabschnitt.»

Viele Mütter setzten in dieser Situation auf Klinik und weniger auf Forschung. Das werde ihnen dann zum Verhängnis, wenn es um eine mögliche Beförderung gehe: «Die Frauen merken plötzlich, dass sie im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen ohne Habilitation und Managementausbildung dastehen.»

Schädeli stellte in ihren Coachings fest, dass sogar Frauen ohne Kinder weniger Forschungszeit zugestanden bekommen und mehr am Patientenbett eingesetzt werden, während die Männer in Managerkurse und an Kongresse zum Netzwerken geschickt werden.

Sie berichtet von einer Ärztin, der man die Forschungstätigkeit nicht bewilligt hat und die dann in der spärlichen Freizeit über ihren Studien brütete. Auch Urwyler macht geltend, sie habe, damals noch kinderlos, weniger Forschungszeit zugesprochen bekommen als ihre männlichen Kollegen.

Nur befristete Verträge für Frauen

Ein weiteres Problem sieht Schädeli bei der Rekrutierung: Frauen würden in Jobinterviews nicht nur nach Familienplänen gefragt, sie erhielten auch oft nur befristete Verträge. «Sobald sie schwanger werden, wird ihr Vertrag nicht verlängert.»

Viele Stellen würden auch gar nicht ausgeschrieben, sondern auf Beziehungsebene vergeben. «Hier laufen zwei psychologische Prozesse ab: Zum einen fördern Chefs vorzugsweise Männer, in denen sie ihr jüngeres Ich wiedererkennen. Zum anderen stärken sie dadurch ihre Position, weil sie so eine Abhängigkeit schaffen.»

Das Bild, das Schädeli zeichnet, trifft nicht auf alle Spitäler zu. Die Frauenklinik in Luzern etwa wird von zwei Co-Chefärztinnen geführt. Und nicht jede ausbleibende Beförderung lässt sich auf aktive Diskriminierung zurückführen. Viele Frauen, sagt Schädeli, forderten leider Managementausbildungen und Forschungszeit auch nicht ein. Auch dort sei ein Umdenken nötig.

Fest steht jedenfalls, dass das System ein massives Missverhältnis der Geschlechter an der Spitze der Schweizer Spitäler hervorbringt: Obwohl Frauen auf Assistenzarztstufe mit 59 Prozent in der Mehrheit sind, gibt es nur 13 Prozent Chefärztinnen.

In manchen Fachgebieten ist die Umkehrung des Geschlechterverhältnisses im Laufe der Hierarchiestufen besonders eklatant: So gibt es etwa im Fachbereich Dermatologie und Venerologie 65 Prozent Assistenzärztinnen aber keine einzige Chefärztin.

Sogar in Fachrichtungen, in denen man mehr Frauen erwarten würde, schrumpft deren Anteil mit jeder Hierarchiestufe stark. Dazu gehören etwa die Kinder- und Jugendmedizin, die Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie die Gynäkologie und Geburtshilfe: Vielerorts sind die Frauen zu Beginn in der Mehrheit, werden aber im Laufe der Karriere von den Männern überholt. Auf Chefarztstufe gibt es in der Schweiz keine einzige Fachrichtung mit Frauenmehrheit.

Etwas sei ihr wichtig, betonte Natalie Urwyler immer wieder in vielen Gesprächen mit der «NZZ am Sonntag»: «Es geht nicht um einen Geschlechterkampf Frau gegen Mann.» Sie kenne so viele grossartige Männer, die auch Karriere als Arzt machen und dabei «mehr als nur das Familien-Portemonnaie sein wollen».

Ein Kollege mit Kaderstelle habe vor kurzem sein Pensum auf 60 Prozent reduziert, damit seine Ehefrau sich im Job mehr reinknien könne. «Das funktioniert einwandfrei mit dem Dienstplan», sagt Urwyler. Natürlich sei es schon vorgekommen, dass er eine halbe Stunde später kam, weil er noch eine Betreuung für das erkrankte Kind suchte.

«Familienfreundliche Arbeitsstrukturen bedeuten eben nicht einfach nur Kita-Plätze, sondern auch die Flexibilität im Team für solche Fälle», sagt Urwyler. «Und das ist nicht nur eine Frage des Dienstplans, sondern der Kultur, die gelebt wird.»

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