Mit Überraschung habe ich wahrgenommen, dass wir vor nahezu 7 Jahren letztmals ein Leitthemenheft zur Versorgungsforschung für unsere Leserschaft vorbereitet haben. Tatsächlich hat dieser Forschungsbereich in den vergangenen Jahren in Deutschland erheblich an Bedeutung gewonnen. So hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft zwischenzeitlich eine breite Palette von Programmen zur Forschungsförderung auf den Gebieten der Versorgungsforschung und der Public-Health-Forschung bereitgestellt.

Pädiatrie und Geriatrie – „Waisen des Innovationsfonds?“

Seit 2016 beschäftigt sich auch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) intensiv mit Förderprogrammen zur Versorgungsforschung. Hierfür hat die Bundesregierung den Innovationsfonds mit einem Finanzvolumen von 1,2 Mrd. € allein für die Jahre 2016–2019 geschaffen. Damit sollen Projekte gefördert werden, die neue Erkenntnisse für die Versorgungspraxis bringen oder helfen, neue Versorgungsformen zu entwickeln. Der eigens eingerichtete Innovationsausschuss des G‑BA legt die Schwerpunkte und Kriterien zur Vergabe der Mittel aus dem Innovationsfonds fest und entscheidet über die Förderung. Allein 229 Förderprojekte zur Versorgungsforschung wurden seit der Ausschreibung bewilligt, und am 03.04.2020 hat der G‑BA erstmals über den erfolgreichen Abschluss von 5 Projekten berichtet, die auf die ersten Förderbekanntmachungen aus dem Jahr 2016 zurückgehen.

Es lohnt sich, die Themenvielfalt der durch den Innovationsfond geförderten Versorgungsforschungsprojekte auf der Internetseite des G‑BA zu studieren. Unter den 229 geförderten Projekten finden sich 22 Projekte, also nur knapp 10 %, die Fragestellungen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendmedizin adressieren. Mehr als die Hälfte dieser Projekte kommt zudem aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Keines der Projekte mit pädiatrischem Bezug wurde bisher abgeschlossen.

Wir können nur spekulieren, warum die gerade für die Kinder- und Jugendmedizin so wichtige Versorgungsforschung so wenig Widerhall in der Förderung durch unser Gesundheitswesen erfährt. Liegt es am geringen Interesse und/oder unzureichenden Engagement der wissenschaftlich aktiven Kolleginnen und Kollegen, an den begrenzten Möglichkeiten einer im Diagnosis Related Groups(DRG)-System bis an die Grenzen der Handlungsfähigkeit zusammen- oder besser niedergesparten Disziplin oder gar am fehlenden Interesse unserer Gesellschaft für die (gesundheitlichen) Belange ihrer Kinder und Jugendlichen? Möglicherweise spielen alle diese Faktoren und weitere eine Rolle. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Altersmedizin mit 23 geförderten Projekten ebenfalls gerade einmal 10 % aller unterstützen Vorhaben ausmacht. Provokativ könnte man sich fragen, ob Altersgruppen, die für die ökonomischen Interessen unserer modernen Gesellschaft vermeintlich von nachgeordneter Bedeutung sind, auch in der Forschungsförderung schnell einmal übersehen werden.

Pädiatrische Versorgungsforschung im Zentrum der Monatsschrift Kinderheilkunde

Umso wichtiger ist es, dass wir Fragestellungen aus der pädiatrischen Versorgungsforschung immer wieder ins Zentrum unserer klinisch wissenschaftlichen Diskussion stellen. Für die Juli-Ausgabe der Monatsschrift Kinderheilkunde haben wir daher aus der erfreulicherweise kontinuierlich steigenden Zahl eingereichter Originalarbeiten 4 Beiträge mit Bezügen zur Versorgungsforschung ausgewählt und in einem Leitthema zusammengeführt.

Juliane Spiegler et al. berichten über Struktur und Qualität von Frühfördermaßnahmen für sehr kleine Frühgeborene in Deutschland. Es ist ein typisches Thema der Versorgungsforschung. Wissenschaftlich ist gut belegt, dass Frühfördermaßnahmen mit Schwerpunkt Eltern-Kind-Interaktion bei sehr kleinen Frühgeborenen mit einem besseren kognitiven Outcome im späteren Schulalter assoziiert sind. Aus Versorgungssicht ist allerdings entscheidend, dass diese Erkenntnis tatsächlich auch bei den betroffenen Kindern und ihren Familien ankommt. Die Autorengruppe untersuchte, wie die Verordnung von Frühförderung bei „Very-low-birthweight“(VLBW)-Kindern gegenwärtig in Deutschland gehandhabt wird. Dabei stehen Fragen nach Art und Umfang des Förderangebots, möglichen Barrieren für die Inanspruchnahme von Frühfördermaßnahmen und deren tatsächliche Nutzung im ersten Lebensjahr im Fokus der Untersuchung. Insgesamt kommen die Autoren zum Schluss, dass Frühförderung mit dem Schwerpunkt Eltern-Kind-Interaktion trotz evidenzbasierter Vorteile bislang in Deutschland nicht zufriedenstellend in die Versorgung übertragen wurde und zudem ausgeprägte regionale Unterschiede aufweist. Ein wichtiges Ergebnis, das uns alle zum Handeln aufruft.

Pädiatrische Versorgungsforschung als wertvolle Handlungsgrundlage muss weiter ausgebaut werden

Mit einem praxisrelevanten Thema aus der Diabetologie befassen sich Olga Kordonouri et al. Die etablierten Leitlinien zur Behandlung der diabetischen Ketoacidose bei Kindern und Jugendlichen enthalten keine eindeutigen Empfehlungen zur Verwendung von Elektrolytlösungen (halbisotonisch vs. isotonisch) in Bereichen niedriger Blutglucosewerte. Insbesondere interessierte die Autoren, ob die Verwendung von glucosehaltigen isotonischen Elektrolytlösungen sinnvoll ist. Die Untersuchung zeigt, dass diese bei der Behandlung der diabetischen Ketoacidose in Phasen niedriger Blutglucosewerte sicher ist und den Abfall der effektiven Osmolalität und des korrigierten Natriums kontrolliert steuern lässt. Die Berücksichtigung der Erkenntnisse der Autorengruppe kann dazu beitragen, Risiken bei der Therapie einer diabetischen Ketoacidose zu reduzieren.

Der Gesundheit und Fitness von deutschen Schulkindern widmet sich der Beitrag von Anette Melk et al. Das Ziel der Studie war, den kardiovaskulären Gesundheitsstatus, die Fitness deutscher Grund- und Gesamtschülerinnen und -schüler sowie mögliche Einflussfaktoren zu erfassen. In einer prospektiven Querschnittsstudie mit 357 Kindern (Alter: 9,6 ± 1,7 Jahre) zeigen die Autoren, dass ein mit erhöhtem Body-Mass-Index (BMI) und reduzierter Fitness einhergehendes kardiovaskuläres Risiko durch weitere Risikofaktoren für die Entwicklung eines metabolischen Syndroms verstärkt wird. Die Ergebnisse der Untersuchung sind ein eindeutiges Plädoyer für eine umfassende Beurteilung des individuellen kardiovaskulären Risikos bei Kindern mit Übergewicht und die Notwendigkeit, Präventionsmaßnahmen früh zu implementieren, auch um die spätere kardiovaskuläre Morbidität im Erwachsenenalter zu verringern.

An 5 Berliner Kinderkliniken wurden 2016 in einem Modellprojekt Kinderschutzambulanzen (KSA) mit dem Auftrag der elektiven und ambulanten medizinischen Abklärung bei Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdungen eingerichtet. Die Autorinnen Heide von Soosten und Susanne Rother berichten zusammen mit ihrem Team über die Struktur des Modellprojekts und untersuchen die Wirksamkeit der Initiative. Die Erfahrungen mit dem von Kinder- und Jugendmedizin, Kinderchirurgie, Kinderurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinderradiologie interdisziplinär betreuten Projekt belegen, dass Kinderschutzambulanzen ein wirksames Instrument in der Klärung möglicher Kindeswohlgefährdungen darstellen.

Das Spektrum der 4 Beiträge zu Themen aus dem Bereich Versorgungsforschung belegt, wie intensiv dieser Forschungszweig Kinder- und Jugendmedizin durchdringt und wie wertvoll er für unser ärztliches Handeln ist. Ich hoffe, dass die Beiträge für Sie, liebe Leserinnen und Leser, interessant und lehrreich sind. Vielleicht motivieren die Arbeiten auch dazu, trotz der vielen Hindernisse in unserem dicht gedrängten Arbeitsalltag, bei der nächsten Ausschreibung des Innovationsfonds mit einem pädiatrischen Versorgungsforschungsprojekt dabei zu sein. Themen gibt es in der Kinder- und Jugendmedizin sicherlich reichlich.