L 6 KR 44/17

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 13 KR 322/08
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 KR 44/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 85/19 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 30. November 2016 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin weitere 16.716,45 EUR nebst 5 % Zinsen pro Jahr hieraus über dem Basiszinssatz ab dem 11. November 2008 zu zahlen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens zu 19/20 und die Klägerin zu 1/20.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 17.679,55 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Kostenerstattung einer stationären Behandlung des bei der Beklagten versicherten D. S. für die Zeit vom 7. September bis 27. November 2007 streitig. Dabei ist insbesondere fraglich, ob eine ambulante Therapie und eine anschließende stationäre Rehabilitationsmaßnahme (S3-Behandlung) ausgereicht hätte oder eine stationäre Krankenhausbehandlung (S5-Behandlung) notwendig war.

Am 28. August 2007 wurde der Versicherte in das Krankenhaus der Klägerin eingewiesen. Bei der Aufnahme gab der Kläger an, schon einmal zur Entgiftung in dieser Klinik gewesen zu sein. In das Krankenhaus J. habe er nicht gehen wollen, weil er von dort "immer nach Hause laufe". Weiter geht aus den Krankenhausunterlagen hervor, dass der Versicherte im Jahre 1999 bereits in der Klinik der Klägerin gewesen ist. Anschließend habe er eine feste Arbeitsstelle gefunden und habe sein Alkoholproblem im Griff gehabt. Dann habe er aber seine Arbeit verloren und habe wieder angefangen zu trinken.

Im Weiteren beantragte die Klägerin eine Kostenübernahme bis zum 28. November 2007. Die Beklagte bat den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Sachsen-Anhalt (MDK) am 21. September 2007 um eine gutachtliche Stellungnahme. Am 29. November 2007 kam sodann die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. vom MDK nach Beiziehung der Patientenakte (ohne einen Entlassungsbericht) zu dem Ergebnis, dass keine Hinweise auf eine schwere Persönlichkeitsstörung, sondern nur für eine leichte depressive Symptomatik vorgelegen hätten. Eine neuropsychologische Testung sei nicht erfolgt. Die Aufnahme zur stationären Entgiftung sei medizinisch begründet gewesen. Die anschließende stationäre Psychotherapie unter suchtmedizinischen Gesichtspunkten im Sinne einer S5-Behandlung sei jedoch nicht notwendig gewesen. Bis zur Aufnahme in eine entsprechende Reha-Einrichtung hätten ambulante nervenärztliche Behandlungen und Maßnahmen der Suchtkrankenhilfe genügt. Im Hinblick auf seine berufliche Perspektive sei die Durchführung einer Entwöhnungsbehandlung medizinisch notwendig gewesen.

Die Klägerin rechnete für den hier streitigen Zeitraum 16.716,45 EUR sowie für die vorangegangene Entgiftung 1976,61 EUR ab. Diese Rechnung wurde von der Beklagten nur in Höhe 1975,31 EUR vorläufig beglichen.

Am 10. Dezember 2007 legte der Chefarzt Dipl. Med. J. dem MDK den Verlauf der Behandlung (vom 28. August bis 5. September 2007 in der Psychiatrie und anschließend bis zum 28. November 2007 in der Psychotherapie) dar. Der Versicherte habe angegeben, er habe eine schwere Kindheit mit zwei Alkoholikern als Eltern gehabt. Nach später erfolgten schweren körperlichen Misshandlungen durch den Stiefvater habe er vorzeitig angefangen zu trinken. Er habe unter Alkoholeinfluss Diebstähle und Körperverletzungsdelikte begangen. Es seien diverse Aufenthalte im Gefängnis erfolgt. Nach dem Tode seiner ersten Frau 1994 habe er versucht, die Trauer und den Schmerz mit Alkohol zu betäuben. Es seien mehrere Entgiftungsbehandlungen mit Rückfällen erfolgt. 1999 sei es zu einer stationären Behandlung gekommen, da eine ambulante Behandlung aufgrund der aggressiven Verhaltensweise nicht mehr möglich gewesen sei. Durch eine erneute Eheschließung und die Geburt seiner Tochter habe er Erfüllung gefunden. 2005 habe er seine Arbeitsstelle verloren, wodurch sich wieder depressive Symptome wie Antriebsdefizit, Hoffnungslosigkeit, Insuffizienzerleben und Suizidphantasien gehäuft hätten. Inzwischen trinke er fünf bis zehn Bier pro Tag und ca. eine halbe Flasche Schnaps. Es sei ihm klar, dass er damit seine familiäre Situation sehr belaste. Aus diesem Grunde habe er versucht, sich in einer Selbsthilfegruppe zu stabilisieren, was nicht gelungen sei. Daher habe er sich für eine erneute stationäre Therapie entschieden. Der Versicherte sei alkoholisiert zur Aufnahme gekommen und zunächst in die Alkoholentzugsstation aufgenommen worden. Nach Abklingen der Entzugssymptomatik habe sich der Versicherte sehr an einer Psychotherapie interessiert gezeigt. Am 5. September 2007 habe man ihn zur stationären Entwöhnung auf die Psychotherapie-Station des Hauses verlegt. In der Therapie sei es ihm gelungen, die konflikthafte Kommunikation zu seiner Partnerin zu bearbeiten und die Beziehung zu verbessern. Am 28. November 2007 sei eine Entlassung als arbeitsfähig erfolgt.

Die Diagnosen lauteten mittelgradige depressive Episode, Impulsdurchbrüche, Stimmungsschwankungen, Suizidgedanken im Rahmen einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung sowie sekundäre Alkoholabhängigkeit.

Am 1. Februar 2008 nahm die Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Sozialmedizin Dr. K. (MDK) Stellung. Sie führte aus, eine stationäre S5-Behandlung werde nicht empfohlen. Es fehle an einer schweren neurotischen bzw. schweren Persönlichkeitsstörung. Der Versicherte sei zum Zeitpunkt der Aufnahme zu langfristigen Maßnahmen motiviert gewesen und habe bereits über eine Selbsthilfegruppe Kontakt zu ambulanten Maßnahmen der Suchtkrankenhilfe gewonnen. Eine Intensivierung der Maßnahmen der ambulanten Suchtkrankenhilfe durch Hinzuziehung der Suchtberatungsstelle sowie eine ambulante psychotherapeutische Behandlung sei empfehlenswert gewesen.

Mit Schreiben vom 17. März 2008 forderte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Beklagte auf, die Kosten zu überweisen. Anderenfalls werde man Klage erheben.

Am 11. November 2008 hat die Klägerin Klage am Sozialgericht Magdeburg erhoben und beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 16.717,75 EUR nebst fünf Prozent Zinsen über dem Basiszinssatz sowie zur Erstattung der außergerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 961,28 EUR zu verurteilen.

Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass entsprechend § 7 der Budget- und Entgeltvereinbarung für das Jahr 2007 Verzugszinsen in Höhe von maximal vier Prozent pro Jahr erhoben werden könnten.

Weiterhin hat die Beklagte ein erneutes Gutachten von Dr. K. vom 9. März 2009 vorgelegt. Diese hat darauf hingewiesen, dass sie im ersten Gutachten davon ausgegangen sei, dass der Versicherte bei Abstinenz motiviert und rehabilitationsfähig gewesen sei. Nunmehr finde sie in der Epikrise der Behandlung auch eine testpsychologische Diagnostik. Aus dieser ergebe sich jedoch weder das Vorliegen einer neurotischen noch einer Persönlichkeitsstörung. Nur im Depressionstest (BDI) fänden sich Hinweise auf eine leichte Depression. Eine akute Suizidalität werde nicht beschrieben. Auch eine Borderline-Persönlichkeitsstörung sei nicht beschrieben. Die impulsiven Handlungen deuteten lediglich auf eine akzentuierte Persönlichkeit, nicht aber auf eine Persönlichkeitsstörung hin. Die dauernde Anwesenheit eines Arztes sei für eine antidepressive Medikamenteneinstellung nicht erforderlich. Auch ein gruppentherapeutisches Setting sei im Rahmen einer stationären Entwöhnung durchführbar gewesen. Eine Änderung der beiden gutachtlichen Aussagen vom 30. November 2007 oder 5. Februar 2008 komme nicht in Betracht.

Dipl. Med. J. hat am 14. April 2009 die Diagnosen mittelgradige depressive Episode, emotional instabile Persönlichkeitsstörung und sekundäre Alkoholabhängigkeit bestätigt. Dies beruhe auf den gesamten Eindrücken aus Einzel- und Gruppengesprächen sowie der Verhaltensbeobachtung.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens nach Aktenlage von Dr. R. (Facharzt für Innere Medizin und Suchtmedizinische Grundversorgung). Dieser hat ausgeführt, aus der Krankenhausakte ergebe sich eine unstreitige Alkoholabhängigkeit, ein ausgeprägtes Alkoholentzugssyndrom sowie ein alkoholbedingter Leberschaden. Ebenso unstreitig liege eine depressive Störung vor. Betrachte man nur die standardisierte Diagnostik mit dem BDI, könne man allenfalls eine leichte depressive Symptomatik feststellen. Allerdings könne allein mit einem Test nicht die Diagnose depressive Störung gestellt werden. Hier sei die Zusammenschau des klinischen Bildes durch ein entsprechendes Fachteam erforderlich. Es fänden sich in der Krankenakte zahlreiche Befunde, die auf eine schwere depressive Störung hinwiesen, so z.B. AMPD-Bogen (System zur standardisierten Erfassung und Dokumentation eines psychopathologischen Befundes) sowie im Aufnahmebefund mit zusätzlichen Hinweisen auf Suizidversuche und Suizidphantasien. Auch in den Einträgen der unterschiedlichen Behandler fänden sich zahlreiche Hinweise (z.B. 9. September 2007: "sehr nachdenkliche Stimmung", 20. September 2007: "wirkt sehr traurig", 21. September 2007: "machte Suiziddrohung", 27. September 2007: "wirkt gereizt", 1. Oktober 2007 (Patiententagebuch): "bin nicht gut drauf". Insgesamt könne damit die Diagnose depressive Störung gegenwärtig mittelgradige Episode (F 32.1) bestätigt werden. Auch eine fehlende medikamentöse antidepressive Behandlung spreche nicht gegen das Vorliegen einer depressiven Störung mit mittelgradiger Episode, da in dem vorliegenden stationären Rahmen ein rein psychotherapeutisches Vorgehen durchaus vielversprechend gewesen sei. Eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung sei den Unterlagen nicht zweifelsfrei zu entnehmen. Auf jeden Fall liege dann eine solche Störung nur in einem geringen Ausprägungsgrad vor.

In dem MDK-Gutachten vom 29. November 2007 werde richtigerweise davon ausgegangen, dass aufgrund des Antragsverfahrens der Beginn einer stationären Rehabilitationsbehandlung sicherlich nicht bis zum 5. September 2007 möglich gewesen wäre. Für die verbleibende Zwischenzeit erscheine dem MDK eine ambulante nervenärztliche Behandlung und Maßnahmen der Suchtkrankenhilfe ausreichend. Gestützt werde dies auf die Beurteilungen, dass leicht- bis mittelgradige depressive Episoden ambulant behandelbar seien und der Versicherte hier schon im Vorfeld der Entzugsbehandlung Selbsthilfegruppen besucht habe. Dieser Aussage sei zu widersprechen. Der Beginn einer stationären Behandlung habe im vorliegenden Fall nahtlos erfolgen müssen, da nach einwöchiger Behandlung die depressive Symptomatik und die allgemeine emotionale Labilität noch so deutlich gewesen seien, dass sie für Alkoholabhängigkeit ein hohes Rückfallrisiko bedeutet hätten. Auch sei die familiäre Situation noch zu belastend gewesen. Die im Vorfeld stattgefundenen Besuche einer Selbsthilfegruppe hätten gerade zu keiner anhaltenden Abstinenz geführt.

Auf die Frage des Unterschiedes zwischen einer stationären Rehabilitationsmaßnahme (S3-Behandlung) und einer S5-Behandlung (stationäre Krankenhausbehandlungsmaßnahme) sei festzustellen, dass ein Versicherter wahrscheinlich keine wesentlichen Unterschiede wahrnehmen werde. Bei Beobachtung werde er bei einer S5-Behandlung das Therapeuten- bzw. Pflegeverhältnis besser finden und nachts oder am Wochenende werde ein benötigter Arzt schneller da sein. Die ganz überwiegende Zahl der Entwöhnungsbehandlungen finde in Deutschland stationär statt. Auch die Psychiatrie-Personalverordnung, die bei der Bewertung des Personalbedarfs ein vollständig anderes Ziel habe, gehe von vergleichbaren wöchentlichen Minutenwerten der verschiedenen Behandler (z.B. Pflegepersonal, Diplom-Psychologen, Ergotherapeuten etc.) aus. Lediglich bei den Ärzten finde bei der S5-Behandlung eine höhere Personalbedarfsberechnung statt. Bei einem nahtlosen Übergang sei insgesamt eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme ausreichend gewesen. Jedoch müsse die spezifische Situation des Versicherten berücksichtigt werden. Es habe in der Anfangsphase eine hohe Fixierung verbunden mit einer hohen Wirksamkeitserwartung vorgelegen. Letzteres sei ein wichtiger Faktor für eine erfolgreiche Behandlung. Eine Ablehnung der weiterführenden Behandlung verbunden mit einer nahtlosen Rehabilitationsbehandlung an einem anderen Ort wäre mit einem nicht geringen Risiko des Therapieabbruchs aus einer impulsiven Trotzhandlung heraus verbunden gewesen, zumal die Gründe für den Versicherten eher schwer verständlich und rein formaler Natur gewesen wären. Insbesondere in der Anfangsphase der Abstinenz seien Abhängigkeitskranke in ihren Verhaltensmöglichkeiten eingeschränkt und wenig flexibel bei gleichzeitig erniedrigter Frustrationstoleranz, was verbunden mit der impulsiven Persönlichkeitsstruktur des Versicherten das Abbruchrisiko erhöht erscheinen lasse. Bei einem Abbruch wäre es nicht zu einem erfolgreichen Therapieabschluss gekommen. Ob der Versicherte die Behandlung abgebrochen hätte, könne nicht sicher beantwortet werden; es sei aber nicht nur eine reine Möglichkeit.

Die Beklagte hat eine erneute Stellungnahme von Dr. K. vom 9. Februar 2015 vorgelegt. Sie hat darauf hingewiesen, dass der BDI-Test aussagekräftig sei. Der Sachverständige beschreibe keine ausgeprägte Symptomatik. Bei mittelgradigen Depressionen empfehle man den zeitnahen Einsatz entweder von Psychotherapie oder Pharmakotherapie. Demnach sei nach den Leitlinien nicht unbedingt der Einsatz von Psychopharmaka erforderlich gewesen. Die Klägerin verfüge im MVZ über eine hauseigene psychiatrische Institutsambulanz, so dass eine ambulante psychiatrische Behandlung zeitnah nach der Entgiftung hätte durchgeführt werden können.

Die Beklagte hat ergänzend darauf hingewiesen, dass die Erforderlichkeit einer vollstationären Krankenhausbehandlung allein nach medizinischen Erfordernissen zu bewerten sei.

Mit Urteil vom 30. November 2016 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, eine Rehabilitationsbehandlung in einer Suchtfachklinik sei ebenfalls erfolgversprechend gewesen. Dies habe auch der Sachverständige bestätigt. Eine Nahtlosigkeit der stationären Behandlung sei hier nicht erforderlich. Die Kammer könne nicht erkennen, dass der Versicherte unter Umständen eine andere Behandlungsform nicht mitgemacht hätte. Verständlicherweise habe er sich an die Adresse gewandt, die er gekannt habe. Das Urteil ist nach einem Aktenvermerk am 2. Juni 2017 zur Geschäftsstelle gelangt.

Gegen das ihr am 12. Juni 2017 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12. Juli 2017 Berufung eingelegt und ausgeführt, die Behandlung sei hier erforderlich und wirtschaftlich gewesen. Zudem sei dies damals zeitnah zwischen den Beteiligten so abgesprochen worden. Die Leitende Oberärztin im klägerischen Krankenhaus Dr. J. hat am 18. Oktober 2017 ausgeführt, bei dem Versicherten habe neben der mittelgradigen depressiven Episode eine Borderline-Persönlichkeitsstörung vorgelegen. Leider seien aufgrund von Bagatellisierungstendenzen des Versicherten und mangelnder Offenheit die Testergebnisse nicht aussagekräftig gewesen (siehe Ergebnis des Freiburger Persönlichkeitsinventars) und hätten somit die klinische Diagnose nicht sicher stützen können. Die Angaben des Versicherten, unter rezidivierenden depressiven Episoden mit selbst- und fremdaggressiven Tendenzen zu leiden, seien auch fremdanamnestisch von seiner Ehefrau in mehreren Gesprächen bestätigt worden.

Nach Hinweis des Senats auf einen Rechenfehler hat die Klägerin die Berufung i.H.v. 1,30 EUR und bezüglich der vorgerichtlich entstanden Kosten für die Mahnung mit Schriftsatz vom 9. September 2019 zurückgenommen und ihren Antrag neu gefasst.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 30. November 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an sie 16.716,45 EUR nebst 5 % Zinsen hieraus über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit für die stationäre Behandlung des Versicherten D. S. in der Zeit vom 7. September 2007 bis zum 28. November 2007 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Sie hat weiter ausgeführt, eine S5-Behandlung sei bei Versicherten mit einer Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit bei schweren Neurosen und Persönlichkeitsstörungen mit erheblicher Rückfallgefahr angezeigt. Hier habe nur eine leichte depressive Episode bestanden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Über die Berufung konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis mit einem derartigen Verfahren erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Um eine weitere Verzögerung des bereits insgesamt über zehn Jahre rechtshängigen Verfahrens zu vermeiden, sieht der Senat von einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG an das Sozialgericht ab (zu dieser Wahlmöglichkeit Schütz in: jurisPK-SGG, § 136 SGG, Rn. 50). Zwar ist das Urteil des Sozialgerichts erst nach Ablauf von fünf Monaten an die Geschäftsstelle gelangt, was einen schweren Verfahrensfehler darstellt (näher GmS-OGB, 27. April 1993 - GmS-OGB 1/92, BVerwGE 92, 367-377; Schütz in: jurisPK-SGG, § 134, Rn. 26). Jedoch kann der Senat alle Tatsachen eigenständig feststellen.

Die gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG statthafte Berufung hat Erfolg. Die Klage ist zulässig und begründet.

1. Der klagenden Krankenhausträgerin steht der geforderte Vergütungsanspruch aus der Behandlung zu.

Dieser setzt voraus, dass eine Krankenhausbehandlung stattgefunden hat, die nicht ambulant, sondern wie hier vollstationär durchgeführt worden ist (BSG, 28. Februar 2007 - B 3 KR 17/06 R, juris, Rn. 11).

Weiter entsteht der Vergütungsanspruch für eine stationäre Behandlung nur, soweit die stationäre Versorgung im Sinne von § 39 Abs. 1 S. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) erforderlich gewesen ist. Das setzt voraus, dass die notwendige medizinische Versorgung nur mit den besonderen Mitteln eines Krankenhauses durchgeführt werden kann und eine ambulante ärztliche Versorgung nicht ausreicht, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (BSG, 18. September 2008 - B 3 KR 22/07 R, juris, Rn. 10). Als besondere Mittel des Krankenhauses hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine apparative Mindestausstattung, geschultes Pflegepersonal und einen jederzeit präsenten oder rufbereiten Arzt herausgestellt (BSG, 13. Dezember 2016 - B 1 KR 1/16 R, SozR 4-2500 § 31 Nr. 28, Rn. 28 - 29). Dabei ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, bei der den mit Aussicht auf Erfolg angestrebten Behandlungszielen und den vorhandenen Möglichkeiten einer vorrangigen ambulanten Behandlung entscheidende Bedeutung zukommt. Ermöglicht es der Gesundheitszustand des Versicherten, das Behandlungsziel durch andere Maßnahmen, insbesondere durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege, zu erreichen, so besteht kein Anspruch auf stationäre oder teilstationäre Behandlung (BSG, a.a.O.).

Ob einem Versicherten voll- oder teilstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist, richtet sich dabei allein nach den medizinischen Erfordernissen. In jedem Fall bedarf es neben der generellen auch der individuellen Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung im Einzelfall (BSG, a.a.O. w.m.N.; siehe auch BSG, 23. Juni 2015, B 1 KR 26/14 R, Rn. 35; BSG, 17. November 2015, B 1 KR 20/15 R, jeweils juris).

Dies war hier der Fall. Zwischen den Beteiligten besteht Einigkeit, dass grundsätzlich stationäre Maßnahmen (S3-Behandlung oder S5-Behandlung) erforderlich waren. Dem schließt sich der Senat aufgrund der insoweit übereinstimmenden und überzeugenden Ausführungen in den Gutachten des MDK und des Sachverständigen Dr. R. an.

Entgegen der Ansicht des MDK war auch eine stationäre S5-Behandlung medizinisch geboten. Zum einen war eine unmittelbar anschließende S3-Behandlung unstreitig nicht möglich, wie auch der Sachverständige überzeugend betont. Die von der Beklagten behauptete Möglichkeit der vorübergehenden ambulanten Behandlung war mit unzumutbaren Risiken verbunden (dazu bei a). Zum anderen bestand aufgrund der psychischen Erkrankung des Versicherten eine besondere therapeutische Position des Krankenhauses der Klägerin, die die Durchführung der Behandlung in diesem Krankenhaus notwendig machte (dazu bei b). Diese beiden bei a) und b) dargelegten Gesichtspunkte wirken kumulativ und verstärken sich so.

a) Der Beginn einer stationären Behandlung musste im vorliegenden Fall nahtlos erfolgen, wie der Sachverständige Dr. R. überzeugend ausgeführt hat. Es ist nachvollziehbar und schlüssig, dass nach einwöchiger Entgiftung die depressive Symptomatik und die allgemeine emotionale Labilität noch so deutlich waren, dass noch ein hohes Rückfallrisiko bestand. Insoweit belegt der Sachverständige seine Ansicht auch überzeugend mit der Vereinbarung "Abhängigkeitserkrankungen" zwischen den Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern in der im Wesentlichen unveränderten Fassung in § 4 Abs. 2: "An die Entzugsbehandlung soll sich eine erforderliche Entwöhnungsbehandlung nahtlos anschließen, sofern der Versicherte entsprechend motiviert ist." Auf dieses regelmäßig bestehende Gebot der Nahtlosigkeit gehen der MDK und die Beklagte nicht ein.

Soweit Dr. K. meint, das beschriebene Rückfallrisiko hätte praktisch nicht bestanden, geht sie auf die konkreten Argumente des Sachverständigen nicht ein (Konflikte in der Familie, Gefühl der Abweisung). Zudem ergibt sich aus den Eintragungen in der Patientenakte, dass der Versicherte am 21. September 2007 wieder betrunken und damit tatsächlich rückfällig war. Damit ist eine hohe Rückfallgefahr belegt.

Dr. K. hat in ihrer Stellungnahme zu dem Sachverständigengutachten ausdrücklich betont, dass sie keine weiteren Unterlagen mehr zu dem Versicherungsfall habe, so dass ihr dies scheinbar entgeht. Der Senat erachtet es grundsätzlich für ein Gutachten nach Aktenlage als sehr wichtig, dass die gesamte Patientenakte vorliegt. Der Sachverständige konnte lediglich exemplarisch einige Punkte hervorheben, aber naturgemäß nicht den kompletten Akteninhalt vollständig wiedergeben. Somit basiert die Beurteilung von Dr. K. auf einem lückenhaften Bild und kann nicht überzeugen. Der Sachverständige hat sich ausdrücklich auf den gesamten Akteninhalt gestützt.

Fest steht, dass der Versicherte vor dem streitigen Klinikaufenthalt ambulante Maßnahmen der Suchtkrankenhilfe genutzt hatte, ohne dass diese erfolgreich gewesen wären, wie die Notwendigkeit der Entgiftung belegt. Auch die Beklagte und der MDK sehen die Notwendigkeit einer stationären Durchführung der vorangegangenen Entgiftung im Krankenhaus der Klägerin. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Chancen und Möglichkeiten einer ambulanten Behandlung nach der Entgiftung gestiegen sein sollten. Im Gegenteil liegt es nahe, dass die ambulanten Möglichkeiten weiterhin zu kurz greifen und der Versicherte wieder rückfällig würde. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Beklagte und der MDK grundsätzlich übereinstimmend eine stationäre Maßnahme nach der Entgiftung für medizinisch geboten halten. Warum dann vorübergehend eine ambulante Behandlung ausreichend sein sollte, wird nicht dargelegt. Im Falle eines nicht nur kurzfristigen Rückfalls wäre aber der Erfolg jeder stationären Maßnahme in Frage gestellt.

Ergänzend weist der Sachverständige Dr. R. überzeugend auf die drohende Trotzreaktion des Versicherten hin. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieser unstreitig kein gesunder, normal und rational handelnder Versicherter war, sondern ein Alkoholiker. Wie der Sachverständige überzeugend und unwidersprochen darlegt, sind Abhängigkeitskranke insbesondere in der Anfangsphase der Abstinenz in ihren Verhaltensmöglichkeiten eingeschränkt und wenig flexibel bei gleichzeitig erniedrigter Frustrationstoleranz, was verbunden mit der impulsiven Persönlichkeitsstruktur des Versicherten das Abbruchrisiko erhöht erscheinen lasse. Dies belegen auch die Eintragungen in der Patientenakte. Für den 28. August 2007 ist noch eine fehlende Krankheitseinsicht festgehalten. Anamnestisch werden Suizidversuche und Suizidphantasien beschrieben. Weiter äußerte der Versicherte am 21. September 2007 Suiziddrohungen und saß im betrunkenen Zustand zweimal auf dem Fenstersims. Dazu heißt es, die Familie lebe in Angst vor Trinkanfällen und den damit verbundenen Depressionen und der Suizidalität. Am 5. Oktober 2007 ist festgehalten, der Versicherte sei oft noch sehr impulsiv. Er sei auch "beziehungsmüde".

Auch die Ehefrau des Versicherten hat angegeben, ihr Mann habe sich in den letzten zwei Jahren sehr zurückgezogen. Sie leide unter dem Trinken ihres Mannes. Dieser habe auch suizidale Absichten geäußert. Sie habe an Trennung gedacht, da er sich nicht behandeln lassen wollte. Sie erlebe ihren Mann als erschöpft und müde.

Der Sachverständige Dr. R. hat überzeugend ausgeführt, dass allein mit einem Test nicht die Diagnose depressive Störung gestellt werden könne. Aus der notwendigen Zusammenschau des klinischen Bildes hat er überzeugend die Diagnose depressive Störung gegenwärtig mittelgradige Episode bestätigt. Dies ist bei der Frage des Rückfallrisikos zu bedenken, was die Beklagte und der MDK verkennen.

Dieses deutlich erkennbare Risiko ist angesichts der Bedeutung der hier betroffenen verfassungsrechtlich höchsten Rechtsgüter Leben und Gesundheit des Versicherten nicht hinnehmbar (Art. 1, 2 Grundgesetz). Es widerspricht auch dem Versicherungsprinzip (vgl. BVerfG, 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25-51). Zwar müssen die Leistungen der Beklagten gemäß § 12 SGB V wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Allerdings sind hier nur die Mehrkosten für eine S5-Behandlung im Vergleich zu einer S3-Behandlung verbunden mit einer ambulanten Behandlung zu berücksichtigen, die insgesamt nicht hoch sind. Schließlich bestimmt § 12 SGB V zugleich, dass die Leistungen auch ausreichend zu sein haben. Das ist bei der von der Beklagten vorgeschlagenen Behandlung nicht mehr der Fall.

b) Zu bedenken ist auch eine ausnahmsweise medizinisch zu berücksichtigende besondere Bindung des Versicherten an das Krankenhaus der Klägerin. Die teilweise fehlende Einsichtsfähigkeit des Versicherten in andere stationäre Behandlungsmöglichkeiten ist Teil seiner Erkrankung. Der Versicherte hat über mehrere misslungene Behandlungen berichtet; bereits bei der Aufnahme hat er angegeben, dass er im Krankenhaus Jerichow immer nach Hause gelaufen sei und deshalb dort nicht hinwolle. Diese innere Motivation für eine Behandlung ist für eine Alkoholentwöhnung sehr wichtig, wie der Sachverständige unwidersprochen hervorhebt. Auch die Ehefrau des Versicherten hat bestätigt, dass ihr Mann nach H. (in das Krankenhaus der Klägerin) gewollt habe.

Soweit Dr. K. auf die Möglichkeit einer ambulanten Behandlung im MVZ der Klägerin hinweist, so verkennt sie, dass damit auch bei einer nahtlosen Weiterbehandlung in diesem MVZ eine emotionale Abweisung des Versicherten verbunden gewesen wäre. Diese sieht der Sachverständige Dr. R. aber bei einer fehlenden Fortführung der S5-Behandlung als Gefährdung des Erfolgs der Therapie, da sich der Versicherte Hilfe von einer stationären Therapie in diesem Krankenhaus versprochen hatte. Dies ist angesichts der guten Erfahrungen des Versicherten mit dieser Behandlungsform im Krankenhaus der Klägerin der Vergangenheit auch nachvollziehbar.

Damit bestand aber die Gefahr, dass der Versicherte enttäuscht reagierte, falls er diese Therapie nicht bekam. Denn auch wenn ein MVZ an das Krankenhaus der Klägerin angegliedert sein mag, so handelt es sich um eine andere Einrichtung mit anderem Personal und einem anderen Behandlungskonzept, so dass der Senat keinen relevanten Unterschied zu irgendeinem anderen Arzt oder MVZ zu erkennen vermag. Unklar ist auch, wie der in B. wohnhafte Kläger eine ambulante Behandlung in dem MVZ in H. wahrnehmen sollte.

Auch im Übrigen ist die Argumentation des Sachverständigen, es hätte eine besondere Bindung an das Krankenhaus der Klägerin bestanden, anhand der Akte gut nachvollziehbar. Denn diese therapeutisch wichtige Dankbarkeit, im Krankenhaus der Klägerin sein zu dürfen, zieht sich wie ein roter Faden durch die tagebuchähnlichen Eintragungen des Versicherten selbst, wie der Sachverständige darlegt. Es drängt sich auf, dass er die Therapie als sehr positiv empfand und sich auch gut in die Gruppe integriert hat.

Am 10. September 2007 schrieb der Versicherte, zufrieden zu sein, in der Klinik sein zu dürfen. Weiter äußerte er Wohlbefinden in der Gruppe und war bereit, sich dort zu öffnen. Eine ähnliche Zufriedenheit des Versicherten geht aus vielen weiteren Eintragungen über den Verlauf der Therapie hervor: "Heute wurden mir schon wieder mal die Augen geöffnet, zu x-Mal und wieder habe ich etwas mit anderen Augen gesehen. Ich danke der Gruppe. ( ). Die Gruppe war erst am Schwanken, aber das hat sich alles zum Guten gedreht" (Eintrag am 13. November 2007).

Einen späteren Wechsel während der laufenden S5-Behandlung im Krankenhaus der Klägerin in eine S3-Behandlung in einer Reha-Einrichtung wäre mit einem Wechsel dieser Gruppe verbunden gewesen. Dies bewertet der Senat mit den Beteiligten und dem Sachverständigen als indiskutabel; es würde die Therapieerfolge zunichte machen.

2. Der Zinsanspruch begründet sich aus § 69 Satz 3 SGB V (in der Fassung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26.3.2007, BGBl. I 2007, S. 378 - a.F.) i.V.m. §§ 291, 288 Abs. 1, 2 (vgl. BSG, 15. November 2007 - B 3 KR 1/07 R, SozR 4-2500 § 69 Nr. 3, Rn. 8 - 30). Zwar ist der Anspruch auf Prozesszinsen nach § 291 BGB dispositives Recht und abweichender vertraglicher Vereinbarung zugänglich (BSG, 23. März 2006, B 3 KR 6/05 R, Rn. 6, juris). Soweit keine ausdrückliche Regelung über den Ausschluss oder die Höhe von Prozesszinsen vorliegt, ist durch Auslegung einer vorhandenen vertraglichen Regelung zu ermitteln, ob diese eine abschließende vertragliche Verzinsung unter Verdrängung des dispositiven Gesetzesrechts anordnen sollte (so auch LSG Berlin-Brandenburg, 16. November 2012, L 1 KR 269/12 - Rn. 30 - 31, juris). Hier gibt keinen Hinweis, dass diese gesetzliche Spezialregelung zu "Prozesszinsen" durch § 7 der Budget- und Entgeltvereinbarung (vgl. § 112 Abs. 2 Satz 2 SGB V) zu "Verzugszinsen" verdrängt werden sollte und die Klägerin deshalb dauerhaft niedrige Zinsen als gesetzlich vorgesehen erhalten sollte.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Klägerin unterliegt zu rund 5 v.H. ihrer Klageforderung (Klagerücknahme i.v.H. 1,30 EUR und 961,80 EUR [vorgerichtliche Kosten]). Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 1 und § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz.
Rechtskraft
Aus
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