The precise and intelligent recognition and appreciation of minor differences is the real essential factor in all successful medical diagnosis … Eyes and ears which can see and hear, memory to record at once and to recall at pleasure the impressions of the senses, and an imagination capable of weaving a theory or piecing together a broken chain or unravelling a tangled clue, such are the implements of his trade to a successful diagnostician. Joseph Bell (1837–1911)

Präludium

Die Anamneseerhebung und die klinische Untersuchung werden in Deutschland zu Beginn der klinischen Semester gelehrt, in den letzten Jahren an manchen Universitäten bereits ab dem ersten Semester. Man sollte meinen, dass damit der besondere Wert dieser beiden Methoden betont wird. So wichtig die Tatsache ist, dass die angehenden Mediziner frühzeitig mit den wichtigsten klinischen Untersuchungspraktiken vertraut gemacht werden, so bekannt ist auch, dass man den wirklichen Wert der Anamnese und einer gekonnten klinischen Untersuchung erst spät so richtig schätzen lernt. Nur durch diese scheinbar so einfachen Tätigkeiten wie Zuhören, Befragen, Nachfragen, Betrachten und Abhorchen ist der Arzt in der Lage, das Gesamtbild des Patienten zu erfassen und dem Patienten einen guten Rat zu geben. Der technologische Fortschritt hat die diagnostischen Möglichkeiten der Medizin in nie geahnter Art und Weise verändert: Schnittbilder in allen Farben und Auflösungen, eine Fülle an Laborbefunden und Biomarkern, immer präzisere Befunde endoskopischer und invasiver Untersuchungen – all dies führt dazu, dass manche Kollegen lieber technischen Befunden folgen, als dem Patienten zuzuhören und den eigenen Sinnen zu vertrauen.

Karriere und Ökonomie

Dadurch, dass mich meine Außenwelt nicht mehr definiert hat, musste ich mich selbst definieren. Jan Vogler (Cellist)

In den Universitäten ist die Lehre oft ein ungeliebtes Kind. Karriere macht man heute nicht mit der Vermittlung von Anamnesekunst und klinischen Untersuchungsmethoden an den medizinischen Nachwuchs. So werden mit diesen Aufgaben meist die jüngsten Assistenten betraut, die weder die Wichtigkeit dieser Methoden erfasst haben noch bei der Beurteilung der Befunde sattelfest sein können. Niemand kann dies von Jungassistenten verlangen. Es vergehen viele Jahre, bis man die Unersetzlichkeit präziser Anamnesen begreift und seinen eigenen Befunden vertrauen kann. So werden diese wichtigen Methoden auch oft relativ ungeliebt vermittelt: Dies gibt naturgemäß nicht zur Gegenliebe Anlass.

Hinzu kommt das derzeitige unselige Primat der Ökonomie in Krankenhaus und Praxis, welches die Ärzte unter Zeitdruck setzt und dem sie ihre Entscheidungen oft unterordnen. Die ständige Forderung der Krankenhausmanager nach „Steigerung der Fallzahlen“ und „Optimierung der Liegedauern“ geht auch an charakterlich gefestigten Medizinern nicht spurlos vorüber. So kann es dazu kommen, dass lieber mehr Patienten minimalistisch behandelt werden als weniger Patienten ganzheitlich. Auch wird aus Zeitgründen das Nachdenken lieber delegiert (z. B. in Form von ständigen Konsilen), anstatt sich selber in Ruhe Gedanken zu machen, genauer nachzufragen oder etwas nachzulesen. Zudem folgt der Geldfluss auch in der Medizin der Technik. So erhalten Ärzte und Gesundheitseinrichtungen viel mehr Geld, wenn sie technische Untersuchungen oder Operationen durchführen, und deutlich weniger Geld, wenn sie die richtige Diagnose durch Nachdenken und klinische Untersuchung herausfinden und sinnvolle Behandlungen empfehlen. Hier erleben wir eine Selektion des Nichtärztlichen (die sich auch auf den Stellenschlüssel der Abteilungen auswirkt): Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist die Abteilung, die gedankenlos lukrative Untersuchungen, Interventionen oder Operationen in hoher Fallzahl durchführt, viel „besser“ als die Abteilung, die durch ausführliche Anamnese, klinische Untersuchung und Nachdenken unnötige technische Untersuchungen, Interventionen oder Operationen dem Patienten erspart. Auch in einer pneumologischen Praxis sind 60 Kurzgespräche pro Tag mit jeweiliger Abrechnung der „Body-Pauschale“ lukrativer (und auch weniger anstrengend) als 20 ausführliche Anamneseerhebungen und körperliche Untersuchungen, welche vielleicht sogar noch dazu führen, dass apparative Untersuchungen wegfallen und das Budget belastende Medikamente verordnet werden. So gerät der Arzt, der sich Zeit für Anamnese und Untersuchung nimmt, heute immer in die Defensive: Ihm haftet der „Makel“ des Unwirtschaftlichen an.

Erziehung und Vorbilder

Man kann im Gehirn nur dann etwas nachhaltig vernetzen, wenn es einem unter die Haut geht. Gerald Hüther (Neurobiologe)

Die Worte von Paracelsus, dass ein Arzt über Wahrnehmungsvermögen und Tastsinn verfügen muss, um die Befindlichkeit des Patienten zu erfassen, haben nach wie vor Bedeutung. Doch wie kann sich ein Arzt darin ausbilden, wenn er es nur nebenbei vermittelt bekommt, nicht immer wieder kontrolliert wird und er keine Vorbilder hat?

Vor Jahren war es eine Selbstverständlichkeit, dass bei der klinischen Ausbildung der Klinikchef oder sein Stellvertreter den Nachwuchs unterrichteten. Damit war in aller Regel die Qualität der Ausbildung auf einem hohen Niveau gegeben und natürlich auch die Vorbildwirkung. Wir beide sind von großen klinischen Lehrern unterrichtet worden und ihnen noch heute für das vermittelte Wissen und die Art der Vermittlung dankbar. Unser eigener ärztlicher Stil wurde durch sie geprägt. Sie haben uns als junge wissbegierige Mediziner zu Ärzten geformt. Manchmal kommt die Erkenntnis später, und man erinnert sich in Dankbarkeit dieser nicht selten strengen Erziehung. So war es üblich, bei der Visite alle Anamnesen auswendig vorzutragen, einschließlich der pathologischen Befunde. Das empfanden wir junge Assistenten seinerzeit oft als Schikane. Später merkten wir, dass es eine großartige Konzentrationsübung war. Gleiches galt für Operationsbesprechungen mit den chirurgischen Kollegen. Ein gut vorbereiteter Kollege wird sofort zum Gesprächspartner! Wie peinlich und zeitraubend sind derartige Besprechungen, bei denen auf Nachfragen erst die Akte minutenlang gewälzt wird, da der vorstellende Kollege wichtige Einzelheiten nicht parat hat. Gleiches gilt für Visiten am Krankenbett. Vor jeder Visite muss man ein möglichst klares Bild davon haben, was man mit den Patienten besprechen will. Da darf man gern auch die Berichte der Pflegekräfte in seine Überlegungen einbeziehen.

Oberarzt- und Chefarztvisiten sind immer auch Lehrstunden für den Nachwuchs. Da müssen Unklarheiten der Anamnese geklärt werden. Oft kommen auf Nachfragen dann die entscheidenden Hinweise für den weiteren diagnostischen Ablauf. Dabei kennt jeder Kollege auch die Peinlichkeiten, dass die Patienten auf die gleichen Fragen jetzt dem Chefarzt die wichtigen Dinge mitteilen, die sie am Vortag dem Stationsarzt verschwiegen haben. Das liegt nicht nur am geschickteren Fragen der Älteren, sondern auch an der Tatsache, dass die Patienten sich mit den Fragen inzwischen beschäftigt haben und dann „vorbereiteter“ antworten.

Gesprächskultur und Zuwendung

Die Leute glauben ja nur, mich zu kennen, aber wir kennen uns natürlich überhaupt nicht. Elyas M’Barek (Schauspieler)

Beim Anamnesegespräch muss man immer bedenken, dass der Patient oft unter großem psychischen Druck steht. Sein Leiden kann mit erheblichen Beschwerden verbunden sein, ggf. sogar mit Existenzängsten. Dazu kommt die ungewohnte Umgebung in einer überfüllten Notaufnahme oder in einer Arztpraxis. Schließlich erhöht sich die Drucksituation weiter dadurch, dass der Arzt den Patienten dazu auffordert, kurz, knapp und präzise (gern auch in der genauen zeitlichen Reihenfolge) seine Krankengeschichte zu erzählen. Wenn er dann beginnt, wird er in Deutschland vom Arzt rasch (gemäß Studien: nach durchschnittlich 20 s) unterbrochen. Der Arzt steht meist unter Zeitdruck und möchte das Gespräch strukturieren und merkt nicht, wie dadurch der Gesprächsfaden reißt. Dabei ist ebenfalls aus Untersuchungen bekannt, dass Kranke meist maximal 3 min benötigen, um ihre Hauptsorgen mit ihren eigenen Worten zu schildern. Dann erst sollte der Arzt weiterfragen, um die Anamnese zu verbessern. In der digitalen Permanenz der heutigen Zeit ist der Arzt zudem oft im Blickkontakt mit dem Computer oder dem Smartphone, denn auch diese Geräte fordern immer wieder Zuwendung und Konzentration ein. So ist es leider oft der Fall, dass sich Arzt und Patient beim Sprechen nicht in die Augen sehen. Es fehlt im wahrsten Sinne des Wortes an Zuwendung: Dies ist einem guten Anamnesegespräch abträglich.

Bekannt sind auch derartige Gespräche, bei denen der Arzt den Patienten laufend unterbricht, angeblich um Zeit zu sparen. Diese zur Schau gestellte Ungeduld seitens des Mediziners ist äußerst kontraproduktiv, da sie weder ein Vertrauensverhältnis aufbaut noch den Patienten zu weiteren Schilderungen seines Problems ermuntert. Gerade in der heutigen Zeit ist es besonders wichtig, die individuellen Probleme der meist chronisch und komplex kranken Patienten zu erkennen und zu beachten. Man denke an die Multimorbidität älterer Patienten und die oft mit größeren Nebenwirkungen behafteten Therapien, von medikamentösen Interaktionen ganz zu schweigen. Manchmal werden vom Patienten berichtete Beschwerden oder Phänomene auch nicht ernst genommen oder ausgeblendet, da eventuelle Zusammenhänge mit Krankheiten dem Arzt unbekannt sind. So kann es vorkommen, dass ein Patient dem Arzt von neu aufgetretenen Schwellungen der Fingerendglieder (mit Druckgefühl in den Fingerkuppen und Schwierigkeiten beim Blättern in Zeitungen) berichtet, der Arzt aber nicht weiß, dass das Auftreten von Trommelschlegelfingern auch ein Hinweis auf ein Marie-Bamberger-Syndrom sein kann: Die frühzeitige Diagnose eines zu diesem Zeitpunkt eventuell noch operablen Lungenkrebses wird dadurch verpasst. Auch ist die Tradition des Nichtinformierens leider immer noch groß.

Sinn und Verstand

Meiner zugegebenermaßen begrenzten Erfahrung nach hat das Leben immer Großes für uns parat, dafür muss man nicht in den Weltraum reisen. Alexander Gerst (Astronaut)

Unser Fachgebiet, die Pneumologie, ist geradezu ein Paradebeispiel für die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer guten Anamnese und einer akribischen Befunderhebung. Keineswegs soll hier der Wert der großen diagnostischen Fortschritte in der Medizin negiert werden: Aber die Anzahl und die Reihenfolge der Untersuchungen sollte mit Vernunft erfolgen, und manche Untersuchungen können erst veranlasst werden, wenn man an die Differenzialdiagnose denkt. Befunde apparativer Untersuchungen oder Laborwerte sind immer nur Bausteine der Diagnostik: Allein der erfahrene Arzt kann die Komplexität der Befunde und der Anamnese zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Testbatterien sind kein Ersatz für den Verstand. Für das Zusammensammeln der Puzzleteile sind folgende Überlegungen wichtig:

Komorbiditäten.

Ein Facharzt darf sich nicht nur mit „seinem“ Organ beschäftigen, sonst entgehen ihm oft entscheidende anamnestische Fingerzeige. Einerseits können sich Lungenerkrankungen extrapulmonal manifestieren, andererseits können sich extrapulmonale Erkrankungen pulmonal manifestieren. Der Blick über den eigenen Tellerrand ist daher immer lohnenswert.

Expositionen.

Die Lunge mit ihrer großen Grenzfläche zur Außenwelt kann auf vielfältigste Weise auf die Umwelt reagieren, sei es auf Erreger, Allergene, diverse Partikel oder toxische Substanzen. Nicht selten ist hier kriminalistischer Scharfsinn gefragt, um auslösende Agentien zu identifizieren. Die Berufsanamnese spielt hierbei eine wichtige Rolle. Nicht vergessen werden darf das Zigarettenrauchen, welches nicht nur verschiedene Lungenerkrankungen auslösen kann, sondern auch andere Lungenerkrankungen in der Stärke der Ausprägung beeinflussen kann. So genannte Reisekrankheiten bringen Patienten meist als Infektion mit, nicht selten mit Erregern, die hierzulande nahezu unbekannt sind: Vor einer „Schrotschussdiagnostik“ hilft Nachschlagen in Fachbüchern und/oder ein Anruf beim Robert Koch-Institut in Berlin.

Medikamente.

Eine große Anzahl von Medikamenten können unterschiedlichste Reaktionen in der Lunge bzw. den Atemwegen auslösen. Das reicht von einfachen Schmerzmitteln (z. B. aspirinexazerbierte Atemwegserkrankung) über Betablocker (z. B. Asthmaexazerbationen) und Chemotherapeutika (z. B. bleomycininduzierte Lungenfibrose) bis zu den modernsten Biologika (z. B. kryptogen-organisierende Pneumonien). Bei seltsamen Symptomen oder Krankheitszeichen muss man immer auch eine medikamentöse Verursachung differenzialdiagnostisch bedenken. Dabei kann das im Internet verfügbare Register (www.pneumotox.com) eine wertvolle Hilfe sein.

Epidemiologie.

Zeitliche (z. B. Häufung der Influenza zwischen Weihnachten und Ostern; vermehrtes Auftreten der akuten Sarkoidose im Frühjahr) und regionale Häufungen (z. B. hohe Ragweed-Expositionen im Raum Cottbus) müssen in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden. Auch an familiäre Häufungen (wie beim Asthma oder der Sarkoidose) und Altersgipfel von bestimmten Lungenerkrankungen (z. B. der idiopathischen Lungenfibrose im höheren Lebensalter) muss gedacht werden. Schließlich sind auch geschlechtsspezifische und ethnische Besonderheiten zu beachten. So gibt es einige Krankheiten, die nur bei Frauen (wie die Lymphangioleiomyomatose) oder vorwiegend bei Personen aus Südosteuropa oder asiatischen oder afrikanischen Ländern auftreten.

Wichtige Voraussetzung einer guten Anamneseerhebung und Untersuchung ist immer die Sorgfalt, ja oft sogar die Akribie. So lassen sich z. B. eine Vielzahl von Lungengerüsterkrankungen sowie seltene Lungenerkrankungen nur mit einer subtil erhobenen Anamnese diagnostizieren. Und es braucht immer auch ein Gespür für die Dinge, welche nicht ins Bild passen oder welche für diesen Fall besonders sind. Denn, wie im Eingangszitat von Joseph Bell treffend bemerkt, ist gerade das Bemerken von Nuancen („minor differences“) oft der entscheidende Wegweiser zur richtigen Diagnose. Dies soll an 2 typischen Beispielen aus Praxis und Klinik illustriert werden:

Beispiel 1: Praxis

Diagnose: intrinsisches Asthma

Ein 56-jähriger Raucher (kumulativ 40 Packungsjahre) stellte sich mit Luftnot bei der Hausärztin vor und wurde daraufhin zum niedergelassenen Pneumologen überwiesen. Dort zeigte die Bodyplethysmographie eine schwere Obstruktion und Überblähung. Die kurze Anamnese erwähnt die Luftnot, ohne nähere Erläuterung. Auf Biomarker (wie ein Differenzialblutbild) wird komplett verzichtet. Es wird eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) diagnostiziert und Formoterol als Monotherapie verordnet. Aufgrund des Verdachts auf eine Exazerbation der COPD wird ein Prednisolonstoß verordnet. Es kommt zu einem deutlichen Rückgang der Luftnot, jedoch kommt es in den folgenden Wochen immer wieder zu prednisolonpflichtigen Exazerbationen. Eine führt zur Krankenhausaufnahme. Dort erbringt die ausführliche Anamneseerhebung eines erfahrenen Arztes, dass der Patient bis vor kurzem respiratorisch völlig beschwerdefrei war, es war im Vorfeld nie Belastungsluft aufgetreten. Nach einem „Infekt“ kam es dann zu plötzlich einsetzender Luftnot und zu Husten, insbesondere nachts. Die weiteren Untersuchungen erbrachten eine Bluteosinophilie, ein stark erhöhtes exhaliertes NO (FeNO), eine normale CO-Diffusionskapazität und eine fehlende Sensibilisierung gegen typische Aeroallergene. Nach Einleitung einer asthmaspezifischen Therapie kam es zu einer völligen Normalisierung der Lungenfunktion und zu einem völligen Verschwinden der Luftnot. Exazerbationen traten nicht mehr auf.

Beispiel 2: Klinik

Diagnose: Taubenzüchterlunge

Ein junger Kollege bewältigte die Neuaufnahme eines ihm völlig unbekannten Patienten in 7 min und gab auf Nachfragen zu, den Patienten nur kurz zum Grund der Aufnahme befragt zu haben, ihn rasch abgehört und die Untersuchungsanordnungen im PC freigeschaltet zu haben. Eine eingehende Anamnese oder gar eine komplette internistische Untersuchung fanden nicht statt. Der klinische Befund sei unauffällig gewesen, die Anamnese habe nichts erbracht: dies waren seine Mitteilungen. Dafür wurden noch am gleichen Tag viele Untersuchungen wie Röntgenuntersuchung des Thorax, Echokardiographie, Lungenfunktion sowie EKG durchgeführt und eine große Menge von Laborwerten erhoben. Für den kommenden Tag war schon ein CT-Termin vereinbart worden. Der Kollege war mit sich und dem Ablauf zufrieden und war sich sicher, dass er den Patienten (mit bis dato unbekannter Lungenerkrankung!) am 3., spätestens am 4. Tag entlassen könne (optimale Liegedauer). Die Nachfrage, wie denn seine Verdachtsdiagnose lautete, konnte er nicht beantworten. Auf dem Einweisungsschein stände: „Verdacht auf eine unklare Lungenerkrankung“, da verließe er sich nur auf das CT und die Bronchoskopie. Die genaue körperliche Untersuchung erbrachte dann einen pathologischen Auskultationsbefund: beidseitiges Knisterrasseln. Wahrheitsgemäß hatte der Patient die Frage nach Papageien und Wellensittichen verneint. Die Hobbyanamnese zeigte aber eine langjährige Exposition mit Tauben. Ein Fragebogen oder systematischer Fragenkatalog, der den Taubenkontakt beinhaltet hätte, war nicht zur Anwendung gekommen.

Kunst der Anamnese: Skizze

In den Schulen unterrichtet man immer das Sprechen. Viele Menschen lernen zu sprechen, aber sie lernen nicht zuzuhören. Claudio Abbado (Dirigent)

Nachdem aus den bisherigen Ausführungen klar geworden ist, wie wichtig die sorgfältige Anamneseerhebung ist, stellt sich die Frage: Wie könnte denn eine optimale Anamneseerhebung aussehen? Hierbei wollen wir nicht auf die einzelnen inhaltlichen Punkte der Anamnese eingehen (wie Jetzt-Anamnese, Berufsanamnese usw.), dieses Wissen kann man bei einem Arzt voraussetzen. Vielmehr wollen wir hier versuchen zu skizzieren, wie wir uns einen optimalen Ablauf einer Anamneseerhebung vorstellen. Ziel muss es immer sein, mit einem mündigen und aufgeklärten Patienten auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Vorbereitung, klare Struktur und Partizipation.

Vor dem Gespräch hilft ein Blick in die Patientenakte, um mit dem Patienten zu Beginn des Gesprächs eine Agenda festzulegen. Alle zu besprechenden Aspekte werden festgehalten, sodass nicht gegen Ende des Arztbesuchs noch neue Themen angesprochen werden. Wird der Patient bei der Entscheidungsfindung einbezogen (partizipativer Entscheidungsstil), führt dies zu besseren Behandlungsergebnissen, mehr Zufriedenheit und einer besseren Bindung. Zudem wird eher verhindert, dass Arzt und Patient auf verschiedenen Ebenen kommunizieren.

Zuhören und aussprechen lassen.

Entscheidend für ein gutes Patientengespräch ist ein guter Gesprächsbeginn. Der Patient sollte seine Eingangserklärung in Ruhe zu Ende bringen können, ohne vom Arzt unterbrochen zu werden. Dieser sollte den Patienten aktiv ermutigen, weiterzusprechen. Wird zunächst nur aktiv zugehört, muss nicht direkt auf erste beschriebene Symptome eingegangen werden, sondern der Arzt kann den eigentlichen Grund des Besuchs besprechen.

Anteilnahme zeigen.

Mit bestimmten Formulierungen kann der Arzt Bestätigung geben, seinen Respekt zeigen, Unterstützung anbieten oder die Partnerschaft spiegeln. Beispielsätze, die verwendet werden können, sind folgende:

  • „Es muss belastend sein, diese Probleme zu haben.“

  • „Ich würde Ihnen gerne helfen.“

  • „Vielleicht können wir gemeinsam daran arbeiten.“

  • „Sie haben Ihr Bestes getan, um mit der Krankheit fertig zu werden.“

  • „Sie fühlen sich sicher von den Problemen überwältigt.“

  • „Ein Besuch bei meinem Fachkollegen Dr. X könnte Ihnen helfen.“

Positiv beenden.

Ein guter Abschluss des Gesprächs ist ebenso wichtig wie der Einstieg. Mit einem Abschluss-Statement kann sich der Arzt vergewissern, dass die Ziele des Besuchs erreicht wurden und dass auch alles verstanden wurde. Am Ende des Gesprächs sollte der Patient nochmals namentlich angesprochen und mit einem Lächeln und Händedruck verabschiedet werden.

Vermerke in der Patientenakte.

Bei Patienten, die von häufigeren Besuchen und längeren Gesprächen profitieren, kann dies mit einer Markierung in der Patientenakte festgehalten werden. Genau wie bei Patienten, die viele Nachfragen stellen oder bei denen die Beendigung des Gesprächs schwer fällt.

Es besteht kein Zweifel daran, dass dem Anamnesegespräch das Primat in der Diagnostik gebührt. Diese Wahrheit wird wahrscheinlich aber erst dann wieder in den Fokus rücken, wenn GOÄ und DRG diese ärztlichen Leistungen wertschätzen. Klar ist, dass eine sorgfältige Anamnese und Untersuchung zeitaufwendig ist: Dies wird oft als Gegenargument ins Feld geführt. Einerseits lassen sich aber bestimmte Abläufe zeitlich optimieren: so kann z. B. die Versorgung mit Rezepten oder Aufklärungsmaterialien vom Praxispersonal übernommen werden, ebenso die Vereinbarung von Folgeterminen. Andererseits muss man sich immer bewusst machen, wieviel Zeitverlust durch wenig zielführende oder sogar sinnlose Untersuchungen man dem Patienten erspart, wenn man einmal in Ruhe alles bespricht und durchdenkt. Was ist eine halbe Stunde einer sorgfältigen Anamnese und klinischen Untersuchung gegen eine jahrelange Odyssee durch das Labyrinth der modernen Apparatemedizin? Ein Wimpernschlag!